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An meinen Verwandten ist zwar überhaupt nichts Italienisches, aber damals, als mein Vater noch lebte und die Familie sich regelmäßig in meinem Elternhaus traf, bedeutete Triest für sie alle ein verlorenes Jenseits, eine goldene Zeit und zugleich ein Fegefeuer für begangene Sünden. An der Grandezza, die unsere Triestiner Verwandten zelebrierten, an ihrem großbürgerlichen Gestus und an der Gereiztheit, mit der sie auf Fragen nach der Herkunft unserer Großmutter reagierten, ermaß ich nun mein Triest. Nonna Zeeman, lange vor meiner Geburt verstorben, bedeutete für mich den Übergang zum Italienischen, die Vorstellung von Menschen, die vornehm, der Schönheit zugeneigt und unberechenbar sind.
Dass mein Vater, der in meinen Augen allseits beliebte Arzt, durchaus nicht von allen wertgeschätzt worden war, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Da er sich weniger prätentiös benommen hatte als seine Geschwister aus Graz (wohin unser Großvater im Mai 1915 geflüchtet war und wo das Familiengrab liegt), und ich nicht das Brachiale der Männer aus dem Dorf an ihm feststellte, hielt ich ihn für den Inbegriff von Souveränität. In meiner Erinnerung saß er ohne jede Herablassung mit Bauern und Arbeitern zusammen, schrieb uns Kindern nicht vor, mit wem wir Umgang zu pflegen hätten, verprügelte uns nicht und verkehrte endlos geduldig mit meiner Mutter, die ständig nervös oder deprimiert war. Ihm eilte der Ruf eines Samariters voraus, der Hilfsbedürftige kostenlos behandelte, mit Geld sorglos umging und nach einigen Gläsern Wein ironisch, Frauen gegenüber galant, und im Streit distinguiert wurde. Wenn wütend, verfiel er ins Triestinische und fluchte Wate fa frisa oder Vai malore, bestand darauf, dass in seinem Haus nach den Rezepten der Nonna Zeeman gegessen und daher Pasta fagioli und Letscho gekocht wurden, obskure Gerichte, die niemand im Dorf kannte, wenn ich von den Gastarbeitern absehe, die außerhalb in Baracken hausten, von allen gemieden. Unter den wortkargen und streitwütigen Männern im Dorf war mein Vater jedenfalls eine auffällige und, wie mir jetzt schien, mediterrane Erscheinung, und da Triest, Epizentrum seiner Familie, ein Ort an der Adria war, lag es für mich nahe, mich als Italiener zu empfinden.
An den Wochenenden waren die Triestiner Verwandten aus Graz häufig zu Besuch gekommen, dann hatte unsere Haushälterin einen üppigen Braten aufgetischt, und mein Vater italienischen Wein aus dem Keller geholt. Im Wohnzimmer, um den langen nussfurnierten Tisch, hatten die Erwachsenen im dichten Zigarettendunst bis spät in die Nacht gelacht. Dass ich, an der Tür lauschend, immer wieder Anspielungen auf einen ominösen Fleck in der Vergangenheit vernommen hatte, den anzusprechen mir übrigens meine Mutter strikt verbot, bestätigte nun für mich das Bild von Triest als einem sagenumwobenen Ort.
In meiner Erinnerung tuschelten die beiden Tanten, unser Großvater, Werftdirektor in Triest, wäre 1910 (also fünf Jahre vor seiner Flucht nach Graz) mit unserer Großmutter und den Kindern nach Görz übersiedelt und hätte so am Höhepunkt seiner Karriere zwischen Wohnort und Arbeitsstelle hin- und herpendeln müssen. Dabei hätte ihm der Kaiser ohne diese Geschichte das Adelsprädikat verliehen. Der Onkel lenkte seinen Groll auf die Stabilimento Tecnico Triestino, für die unser Großvater gearbeitet hatte, da die Herren im Aufsichtsrat ihn überaus ungerecht behandelt hätten. Und wenn dann ein allgemeines Lamento angestimmt wurde, erklärte mein Vater verschmitzt, immerhin sei nach dem Zusammenbruch der Monarchie sein Erbanteil von 80 000 Kronen, ein ansehnliches Vermögen im Habsburgerreich, Anfang der 1930er Jahre eine durchzechte Nacht in den Studentenkneipen Wiens wert gewesen.
Mein Tagtraum drehte sich also um das Mysterium unserer Familiengeschichte, deren größtes Geheimnis vielleicht nur darin bestand, dass etwas an ihr aus Gründen der Konvention geheim gehalten werden sollte. Mit den Jahren war das Unaussprechbare zum Beweis unserer Prädestiniertheit geworden, dies nährte meine Italianita noch zusätzlich, eine absurde Verkehrung, was die Ereignisse im Triest der untergehenden Donaumonarchie betrifft, das blinde Verklären von Einsamkeit und des fernen Glücks. Aber wenn ich auch die gesellschaftliche Rolle unseres Großvaters verkannte, das Unglück wie das Glück unserer Großmutter nicht ermaß, war ich doch wirklich stolz auf die beiden, und hing meine Sehnsucht mit einem außerordentlichen Zugang zur Welt zusammen, der zwischen Neigung zur Illusion und einem ausgeprägten Pragmatismus hin- und herschwankte. Das Zeemansche (und damit in meiner Phantasie das Italienische) trug das Unmögliche als Brandzeichen auf dünner Haut, war seinem Wesen nach eigenwillig, entdeckerfreudig und unkonventionell, kam hochtrabend daher, doch es mangelte ihm am wirklichen Willen zum Erfolg.
Ob das Zeemansche etwas Schicksalhaftes ist, ob ihm ein genetischer Code zugrunde liegt - ein hormonelles Programm, das periodisch hitzige Wallungen und ebenso heftige Abkühlung hervorruft - oder die Last einer Erziehung, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurde, ja ob es das Zeemansche überhaupt gibt, sei freilich mehr als dahin gestellt. Jedenfalls ließe sich als sympathisch daran bezeichnen, dass mein Vater und seine Geschwister zu einem gewissen Hochmut gegenüber Mächtigen und zur Freundlichkeit gegenüber Schwächeren neigten. Recht südliche Gestalten, die sie für mich waren, vor allem die schönen Cousinen mit den feinen Gesichtern und edlen Bewegungen, die Tanten mit ihren Sonnenschirmen und Hüten, kamen sie zu uns ins Dorf wie sie wohl in der Venezia Giulia zum Sonntagsbraten der Nonna Zeeman angereist wären, gut gekleidet und parfümiert, mit fein manikürten Fingernägeln, der Onkel mit Raulederhandschuhen und Hut. Dass auch die Frauen Zigaretten rauchten und Wein tranken, provozierte manch einen in unserem Dorf. Wann immer aber ein Zeeman das Wort ergriff, verdiente er Respekt, da sie alle ein elegantes Altösterreichisch sprachen, mit Triestiner Begriffen untermengt, was sie höflich und eben auch seltsam erscheinen ließ und zu Menschen machte, die das Paradies, aus dem sie vertrieben worden waren, gleichsam im Handgepäck überall hin mit sich führten.
Manchmal streiften ihre Gespräche exotische Sportarten wie Tennis und Badminton, sie hielten sich für gute Schwimmer, äußerten sich aber ansonsten skeptisch über körperliche Anstrengungen. Sie schätzten das Maßvolle, eher das Flanieren als das weite Wandern. Sie ergriffen für das Korrekte der altösterreichischen Welt das Wort, obwohl sie in vielem gedankenlos handelten, und wiesen in politischen Fragen jeden Fanatismus von sich. Stellten sie auch gern eine gewisse Strenge zur Schau, blinzelten sie doch schelmisch aus gutmütigen Augen, und zuweilen schien ihnen die eigene Hybris peinlich.
Ein halbes Leben später erst begreife ich, dass auch mein Vater ein Schwankender wie alle Zeemans war. Wortgewandt verfocht er konservative Werte, und handelte doch liberal und tolerant. Ohne tiefgläubig zu sein, bekannte er sich zum christlichen Couleurwesen. An den Sonntagen, wenn meine Mutter längst schon auf der kalten Fußablage der Kirchenbank kniete, saß er genüsslich am Frühstückstisch und wartete, bis die Glocken die Wandlung einläuteten, eilte dann mit uns Kindern zur Kirche und schwindelte sich in die hinterste Bank. Da die Sonntagspflicht als erfüllt galt, wenn man der Messe von der Wandlung bis zum Schlusssegen beiwohnte, bediente er sich dieses Tricks und ersparte uns Kindern das Evangelium, die Fürbitten und vor allem die lange Predigt des Pfarrers, der uns mit seinen wüsten Drohungen ob der ewigen Verdammnis des Sünders Angst machte.
Mein Vater ging wohl davon aus, seine Kinder wären so wie er und würden daher erahnen, was er von uns erwartete. Er sprach nicht von oben herab mit uns, und doch oft wie von fern, das mag uns selbständig gemacht haben, aber eben auch haltlos. Und gerade weil er einen Mantel des Schweigens über die dunkelsten Ereignisse zu hüllen pflegte, vielleicht nur aus Rücksicht, oder wie meine Mutter erklärte, weil der gute Narr noch das Unrecht anderer auf seine Schultern lädt, hatte der ewig Freundliche etwas Unzugängliches an sich, zwar ein offenes Ohr für unsere Sorgen, und war doch in sich zurückgezogen, rasch gekränkt, so nicht eintrat, was er erhofft hatte. So war er auf seine Weise gütig und eben auch indifferent.
Über die Gräuel des Kriegs habe ich aus seinem Mund nie ein Wort erfahren. Während die meisten im Dorf den Untergang des Dritten Reiches beklagten, erzählte mein Vater amüsiert, er habe damals mit seinen Couleurbrüdern auf dem Grazer Hauptplatz Gaudeamus igitur gesungen, und sobald die Schlägertrupps der SA auftauchten, seien alle in die verschiedenen Gassen davongerannt. In unserem Wohnzimmer hing eine gerahmte Urkunde an der Wand, die ihm Offiziere seiner Garnison 1943 verliehen hatten. Auf der bunten Zeichnung zielt ein mittelalterlicher Landsknecht auf eine Kuh, die eine Kugel auf der Zunge jongliert, während sich der Lauf der Büchse heillos verknotet. Gezeichnet mit dem Hakenkreuz gilt die Auszeichnung Dem Feldscher Dr. Zeeman für seine löbliche Kunst mit dem Schießeisen. In einer Gefechtspause war mein Vater dazu aufgefordert worden, an einem Wettschießen auf Judenpuppen teilzunehmen, und hatte sich, um dem barbarischen Akt zu entgehen, dumm angestellt, ungelenk in den Boden und in die Luft geschossen und damit den Spott der Waffen-SS geerntet.
Wir verehrten meinen Vater, aber ich...
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