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Wie es sich anfühlt, in einer Musikerfamilie aufzuwachsen? Ganz normal, natürlich! Das dachte ich zumindest immer. Ich dachte auch lange, dass es ganz normal ist, dass jeder ein Klavier zu Hause hat. In meiner Kindheit fragte ich Freunde erst mal verwirrt nach ihrem Flügel, wenn ich im Wohnzimmer keinen entdecken konnte. Mittlerweile weiß ich, dass es »normal« sowieso nicht gibt, meine Kindheit aber alles andere als gewöhnlich war.
Mein Alltag war klar durchstrukturiert, es gab seit meinem fünften Lebensjahr feste Zeiten, in denen ich erst Klavier-, dann Cellounterricht bei meiner Mutter hatte. Meist unterbrochen von Pausen für die Hausaufgaben, doch der feste Zeitplan verunmöglichte nahezu alle anderen Freizeitaktivitäten. Klar, ich konnte mit meinem Cousin spielen - zwei Einzelkinder, die wie Geschwister im selben Haus nördlich von München aufwuchsen. Manchmal, wenn ich auch nach dem Abendessen noch Unterricht und wirklich keine Lust mehr auf Cello-Üben hatte, hat mich mein Cousin gerettet: Er kam leichenblass zur Tür herein und erklärte, dass er wegen seiner schlimmen Kopfschmerzen unbedingt sofort Ruhe bräuchte - sein Bett war direkt unter unserem Musikzimmer. Meine Mutter denkt vermutlich bis heute, dass er wie sie selbst unter schwerer Migräne litt. Dabei wollte er mich meistens nur vom abendlichen Unterricht befreien. Ein besonderer Dank an dieser Stelle!
Die vierjährige Raphaela im Cello-Faschingskostüm, selbst gebastelt mit ihrem Vater
Raphaela Gromes (privat)
Aber natürlich gebührt vor allem meiner Mutter großer Dank: Wenn ich aufgrund ihrer Strenge nicht jeden Tag fraglos Cello geübt hätte, wäre ich jetzt nicht so selbstverständlich mit meinem Instrument verbunden und könnte darauf wie mit eigener Stimme singen. Besonders wertvoll war außerdem, dass mir meine Mutter als Cellistin und Lehrerin von Anfang an eine gute Technik beigebracht hat. Ich konnte mir also beim Üben keine Fehler eintrainieren, die ich später wieder mühsam hätte umlernen müssen.
Als ich auf einem Meisterkurs beim legendären David Geringas ein besonders schwieriges Cellokonzert von Julius Klengel mit Tonleitern und Dreiklängen in allen möglichen und unmöglichen Lagen spielte, sagte der Großmeister zu mir: »Woher kannst du das denn so mühelos?«
»Von meiner Mutter«, antwortete ich.
»Dann musst du ihr jeden Tag danken.«
Ich danke ihr also, auch wenn es keine rosige Kindheit war. Viele dieser Erfahrungen teile ich vermutlich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der klassischen Musik. Es gab kaum Freundinnen, die diesen verrückten Zeitplan akzeptierten und nicht beleidigt waren, wenn ich mich nicht spontan mit ihnen treffen, auf ihre Geburtstagsfeiern kommen oder einfach nach der Schule noch herumtoben und abends ins Kino gehen konnte. Genau genommen gab es in den ersten Jahren überhaupt nur eine Freundin, die das alles unbeirrt mitmachte: Olivia. Sie setzte sich ins Musikzimmer und wartete stoisch ab, bis ich fertig geübt hatte und wir endlich spielen konnten. Im Grunde war sie mein erstes Publikum: Damit sie sich beim Zuhören meines Cellounterrichts nicht allzu sehr langweilte, durfte ich in Olivias Anwesenheit ein Stück nach dem anderen spielen. Ich hoffte natürlich immer, dass ihr meine Musik gefiel und probierte aus, womit ich sie am besten unterhalten konnte.
Normalerweise musste ich erst mal endlos Tonleitern und Etüden mit Metronom »hochziehen«, wie meine Mutter es nannte - also stufenweise schneller üben - bevor es dann zum Ende des Unterrichts ein »richtiges« Stück als Belohnung gab.
Die meisten Kinder in meiner Schule hatten weniger Verständnis für mein Anderssein. »Cello-Nerd« oder »Cello-Streberin« wurde ich da genannt. In der fünften Klasse eröffnete mir eine Mitschülerin bei einem Klassenausflug, dass mein Kleiderstil total uncool und peinlich sei. Damals trug ich meistens - wie meine Mutter - altmodische Kleidchen oder bunte Röcke mit Blusen. Zum Glück erbarmte sich ein nettes Mädchen namens Maja meiner und fuhr mit mir nach München, um mit mir meine erste Jeans und ein paar T-Shirts bei H&M einzukaufen. Dieselbe Maja nahm mich auch ein paar Tage bei sich auf, nachdem während eines Streits mit meiner Mutter so sehr die Fetzen geflogen waren, dass ein Stuhl und ein Cellobogen zu Bruch gingen und ich mich schutzsuchend in der Toilette einsperrte - deren Tür kurz darauf ebenfalls einem Wutanfall zum Opfer fiel. Mein Vater kam später vorbei, um mit schuldbewusster Miene den Türrahmen zu leimen. Er hatte sich schon einige Jahre zuvor von meiner Mutter getrennt und mich vorübergehend meinem Schicksal überlassen.
Spätestens nach diesem Vorfall wurde uns bewusst, dass ich mir einen anderen Lehrer suchen musste. War der Unterricht in meiner Kindheit noch das reine Vergnügen gewesen, so artete er in der Pubertät zu regelmäßigen Machtkämpfen aus. Da ich schon seit Jahren den Traum gehegt hatte, Berufscellistin zu werden, und spätestens seit meinem ersten Auftritt mit Orchester mit dem Gulda-Cellokonzert den Bühnen-Flow lieben gelernt hatte, wollte ich unbedingt einen Platz als Jungstudentin an einer Musikhochschule ergattern. Diese Möglichkeit wird für hochbegabte Jugendliche angeboten, damit sie parallel zur Schule ihr Instrument studieren können. Ich fuhr also mit 14 Jahren allein quer durch Deutschland auf Meisterkurse bei verschiedenen Professoren, um einen für mich passenden Lehrer zu finden. Noch spannender als die musikalischen Impulse fand ich, was abends passierte: Es gab Ausflüge zur Shisha-Bar, Wodka mit Orangensaft wurde mir als gutes alkoholisches Einsteigergetränk verabreicht, wir hörten alles außer Klassik und redeten über alles außer Musik. Eine spanische Cellistin brachte mir Salsa bei, ein ungarischer Cellist wirbelte mich beim Tanzen so durch die Luft, dass ich das Gefühl hatte, zu fliegen, und in den besten (litauischen) Cellisten eines Kurses verliebte ich mich unsterblich . So entschied ich, dass ich dort studieren wollte, wo ich ihn wiedersehen würde: an der Musikhochschule in Leipzig bei Peter Bruns, wo ich kurz darauf tatsächlich mein Jungstudium begann.
Bis zu meinem Abitur pendelte ich also mit der Bahn zwischen München und Leipzig. Dank der großzügigen Unterstützung meiner Lehrer am Camerloher-Gymnasium Freising bekam ich jederzeit eine Schulbefreiung, wenn ich Cellounterricht hatte. In meinem Abiturjahr durfte ich sogar während der Schulzeit drei Wochen lang auf Tournee nach Südafrika fahren. Nach und nach lernte ich die »reale« Welt kennen, eine Welt außerhalb des einseitig elitären Kunstverständnisses, mit dem ich aufgewachsen war und in dem meine Mutter alles außer Klassik als »Quatschmusik« bezeichnet hatte.
Zu Hause war ich umringt gewesen von Musik und Büchern, von den großen Genies Bach, Beethoven und Brahms. Eine unangefochtene, heilige Welt, in der ich aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. An den Wochenenden war jeder Abend mit Konzerten und Opernbesuchen gefüllt, in den Ferien ging es in die großen Städte Europas, in die bekanntesten Kathedralen und Museen: Louvre, Vatikan, Kunsthistorisches Museum Wien. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich damit zugebracht habe, die Gemälde Raffaels, Rembrandts und Renoirs zu bewundern. Und irgendwann nicht mehr zu bewundern, sondern mich unfassbar zu langweilen. Ich begann, in den Museen selbst zu malen, Postkarten zu schreiben und schließlich zu lesen, bis meine Mutter endlich weiterzog - meist in das nächste Museum oder die nächste Kirche.
Raphaela als 14-Jährige bei ihrem Solo-Debut mit dem Cellokonzert von Friedrich Gulda
Was ich damals noch nicht hinterfragt habe: All diese Genies waren Männer. Alle Werke, die wir in Museen bestaunten und in Konzerten hörten: selbstverständlich von genialen Männern geschaffen. Zwar bestand mein Lieblingsspiel - das Memory Berühmte Frauen - aus 33 Porträts von Sappho bis Sylvia Plath. Und natürlich wurden darin auch Komponistinnen wie Hildegard von Bingen und Clara Schumann und Malerinnen wie Artemisia Gentileschi und Paula Modersohn-Becker vorgestellt. Allerdings spielten sie in den Konzertsälen und Museen, die ich besucht hatte, keine Rolle, so wichtig konnten diese Frauen also doch nicht gewesen sein - dachte ich mir.
Nur eine Biografie stand in unseren Regalen im Musikzimmer, die tatsächlich von einer Frau erzählte: die von Sofia Gubaidulina (1931-2025). Sie war die Lieblingskomponistin meines Vaters, der die Entwicklung der zeitgenössischen Musik leidenschaftlich verfolgte und mir immer wieder begeistert Aufnahmen mit Werken dieser russischen Komponistin vorspielte. Die tiefe Religiosität ihrer Werke, durchdrungen von christlich-orthodoxem Mystizismus, und ihre kompromisslose Suche nach einer transzendenten Klangsprache berührten mich zutiefst. Als 2003 ihre erste Biografie erschien, kaufte sie mein Vater sofort, und ich verschlang sie fasziniert. »In mir begegnen sich Ost und West«, schrieb die Komponistin darin über sich selbst, und ihr Lebensweg sowie ihre Musik sind erstaunlich.[1] Noch heute ist es ein Traum von mir, ihre Cellokonzerte und den Sonnengesang im Konzert aufzuführen. Dass sie aber die erste wichtige Komponistin aller Zeiten sei, wie ich naiv annahm und wie es auch die Werbetexte ihrer Biografie nahelegen - weit gefehlt.
Im Musikstudium lernte ich einiges - über Komponistinnen war aber so gut wie nichts dabei. Weder bei meinem...
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