39II.2 WIDERSRPECHEN
»Wenn ich etwas gelernt habe im Laufe meiner Karriere, dann das: Der konstruktive Umgang mit abweichenden Ansichten im internationalen Business ist eine hohe Kunst. Diese Kunst hat sich mir ehrlicherweise erst nach vielen Jahren und zahlreichen Rückschlägen erschlossen«, erzählt Cees, Leiter Vertrieb und Marketing in einem Konsumgüterkonzern mit Sitz in den Niederlanden.
»Ich denke, ich habe in meiner Berufstätigkeit die gesamte Spannbreite der Reaktionsformen in der fachlichen Auseinandersetzung kennengelernt«, lacht Cees.
»In Meetings mit den Länderchefs in Frankreich oder Deutschland geht es oft hoch her, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Für Meetings in Deutschland brauche ich vor allem viel Ausdauer. Meine Kollegen sind in der Lage, bis spät in den Abend zu diskutieren, wenn es sein muss. Die inhaltliche Auseinandersetzung ist wichtiger als alles andere, sie drehen jeden Stein um. Zeigen viel Liebe fürs Detail. Auch wenn die Kekse im Konferenzraum längst aufgegessen sind und in den Kannen kein Kaffee mehr ist. Vorher geht man nicht auseinander.
In Frankreich erlebe ich die Beschäftigung mit dem Thema ähnlich intensiv, aber atmosphärisch leidenschaftlicher. Manchmal wird es in unseren Meetings richtig laut, kurz danach macht jemand einen Witz und wir lachen wieder. Ansichten werden glühend verteidigt oder vehement abgelehnt. Am Ende eines langen Tages gehen wir essen, meine französischen Gesprächspartner suchen tolle Restaurants aus. Diese Abende sind sehr wertvoll, um die Beziehungen untereinander zu stärken. Ich erlebe oft, dass wir am folgenden Tag zu guten, manchmal auch überraschenden Lösungen finden, und denke, dass uns das intensive persönliche Miteinander inhaltlich flexibler macht.
In den Gesprächen mit meinen Kollegen aus den USA, Großbritannien oder Lateinamerika hingegen bin ich zu Beginn meiner Karriere oft verzweifelt. Während der Beratungen dachte ich zunächst voller Glück, dass wir uns schnell einig werden und dass die Verhandlungen sehr angenehm verlaufen - stellte dann aber überrascht im Laufe der Zeit fest, dass ich das meiste anders verstanden hatte, als es gemeint war. Und de facto hatte ich meistens gar nichts verstanden. In jedem Fall viel zu wenig 40für eine gemeinsame Grundlage, um Ideen weiterzuentwickeln. Dieser Erkenntnisprozess war für mich und die anderen durchaus schmerzhaft. Je genauer ich nachfragte, je besser ich eine Argumentation oder Reaktion verstehen wollte, desto mehr schien es die anderen zu quälen, so überaus deutlich werden zu müssen. Ich sah ihnen teilweise die Hilflosigkeit an, dass ich ihre Signale nicht deuten konnte. Aber ich nahm wörtlich, was sie sagten, und haderte selbst damit, dass es offensichtlich nicht das war, was sie meinten. Erst im Laufe der Jahre entwickelte ich ein besseres Gespür für die Botschaften zwischen den Zeilen oder sogar solche, die gar nicht in Worte gefasst wurden. Das ist immer noch nicht meine größte Stärke, aber ich habe dazugelernt.
Allerdings ist all das noch harmlos im Vergleich zu Meetings in Asien, wie ich sie zu Beginn meiner Laufbahn erlebte. Höchste Verwunderung, wenn nicht sogar Entsetzen machte sich in mir breit, wenn nach meiner gut vorbereiteten Präsentation als Marketingleiter erst einmal Stille eintrat. Und mit Stille meine ich: absolute Ruhe, niemand sagte etwas, manchmal 1-2 Minuten lang nicht. Einige meiner Kollegen hatten sogar die Augen geschlossen - ich war völlig verunsichert, ob sie mir überhaupt gefolgt waren. Oder eingeschlafen, weil sie Ansatz und Inhalt so langweilig fanden. Heute lasse ich mich davon nicht mehr so beeindrucken und habe besser verstanden, wie ich ihre Einschätzung, auch ihre kritische, in Erfahrung bringen kann. Besonders in asiatischen Kulturen spielen persönliche Beziehungen eine große Rolle und ich kann unbedingt bestätigen, dass es im Gespräch unter vier Augen leichter ist, Standpunkte zu eruieren. In größeren Runden dagegen, erst recht, wenn ranghöhere Menschen im Raum sind, funktioniert der konstruktive Diskurs nicht so, wie ich ihn aus Europa kenne.
Heute schaue ich auf meine Erfahrung zurück und kann sagen: Es ist mir gelungen, im internationalen Geschäft eine Strategie anzuwenden, die abweichende Meinungen, Dissens und Kontroversen so einbindet, dass wir miteinander im Gespräch bleiben und Dinge vorantreiben können. Auch wenn unsere Errungenschaften zum Teil ihren Preis haben.«
Schauen wir uns dazu Meyers Skala WIDERSPRECHEN an.1
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Abbildung 3: Handhabung von Konfrontation
42Auf der einen Seite der Skala gibt es Kulturen, in denen Themen und Ansichten sehr kontrovers diskutiert werden. Die offene Auseinandersetzung ist hier positiv belegt, denn sie bedeutet, dass neue Perspektiven entstehen und Ideen weiterentwickelt werden können. Diskussionen und Debatten spielen schon in der Schulzeit eine große Rolle und werden im Unterricht gezielt gefördert. Meistens funktioniert die Trennung zwischen Person und Sache, so dass persönliche Beziehungen unter engagierten Auseinandersetzungen nicht leiden.
Zu diesen Kulturen zählen unter anderem Frankreich, Deutschland und die Niederlande. Am anderen Ende der Skala befinden sich Kulturen, in denen Konfrontationen vermieden werden. In lateinamerikanischen, arabischen, afrikanischen und asiatischen Kulturen gelten herausfordernde Auseinandersetzungen als bedrohlich für die Harmonie einer Gruppe oder die Gesichtswahrung des Einzelnen. In größeren Runden, erst recht, wenn Vorgesetzte anwesend sind, finden daher keine harten inhaltlichen Diskurse statt.
Angelsächsische Kulturen stehen eher auf der Mitte der Skala.
Diese Skala wird von vielen, die interkulturell arbeiten, als besonders wichtig und knifflig angesehen. Meine eigene Erfahrung findet sich in vielen Punkten auf der Skala wieder, in anderen jedoch nicht. So habe ich selbst manche Spanierinnen oder US-Amerikanerinnen in der Zusammenarbeit als direkter und konfrontativer erlebt als meine deutschen Kolleginnen oder auch mich selbst. Doch wie wir bereits im CHECK-IN dieses Buchs festgestellt haben: Es ist nicht alles kulturell bedingt, manches liegt auch einfach in der jeweiligen Persönlichkeit.
Nachdem Cees allerdings angedeutet hatte, eine für ihn interkulturell funktionierende Strategie im Diskurs um unterschiedliche Standpunkte gefunden zu haben, bin ich neugierig geworden. Ich bitte ihn um ein konkretes Beispiel.
Er erzählt: »Im Konzern bin ich Teil einer Unternehmenseinheit, die langfristige Strategien für bestimmte Sparten in unserem Geschäftsfeld entwirft. In diesem Gremium arbeiten verschiedene Disziplinen zusammen: Marketing und Vertrieb, Finanzen und Controlling, Forschung und Entwicklung, Business Development, Operations und Produktion etc. In unseren Strategie-Meetings stellen wir uns die Frage, wo wir mit den einzelnen Sparten in den nächsten 10 Jahren stehen werden. Investieren wir? Gibt es neue Produkte und Trends auf dem Markt, die wir berücksichtigen 43müssen? Müssen wir mehr Geld in Forschung und Entwicklung stecken? Sind die Strategien nur in bestimmten Regionen wirksam oder weltweit? Wenn sie für den weltweiten Markt geeignet sind: Welche Anpassungen müssen dann für die verschiedenen Regionen erfolgen?
Du kannst Dir vorstellen: Das sind komplexe Fragen. Um sie entscheidungsreif den Länderchefs und unserem CEO präsentieren zu können, arbeiten unsere Teams monatelang an den Details. An dem großen Tag des Strategie-Meetings ist unser einziges Ziel, eine Einigung zu erzielen. Eine Konfrontation mit den Entscheidern wollen wir auf jeden Fall vermeiden. Denn wenn wir Pech haben, lehnen sie unseren Vorschlag ab und wir können von vorn anfangen. Es reicht oft schon, wenn einer sich nicht abgeholt fühlt: Dann bricht unsere ganze Konstruktion in sich zusammen. Es sitzen lauter ausgeprägte Egos am Tisch - das erfordert Fingerspitzengefühl.«
»Das klingt schwierig«, sage ich. »Welche Herangehensweise hast Du für Dich entwickelt, die bei aller Komplexität gut funktioniert?«
»Es liegt vielleicht auf der Hand, aber ich musste erst selbst darauf kommen, nach bitteren Misserfolgen. Der Schlüssel liegt in der Abstimmung mit dem Einzelnen. Da ich im Laufe der Jahre ein Band zu den verschiedenen Persönlichkeiten aufbauen konnte, kläre ich heute im Vorfeld mit jedem Einzelnen jeden Punkt so lange ab und arbeite das Feedback ein, bis ich dessen Einverständnis habe. In dem großen Strategie-Meeting sage ich dann - »Bertrand, wie wir besprochen hatten ...«, oder »Tom, Du erinnerst Dich ...«
Ich spreche sie explizit auf ihren Anteil an der Ideenentwicklung an und binde sie in der Präsentation aktiv mit ein. So fühlt es sich bereits wie ein gemeinsames Ergebnis an, bevor die Entscheidung gefällt wurde. Das klappt natürlich nicht immer, aber die Meetings verlaufen deutlich konstruktiver.«
»Sehr nachvollziehbar, dass diese Vorgehensweise grundsätzlich gut ankommt«, sage ich begeistert. »Doch was ist der Preis, von dem Du sprachst, der damit verbunden sein kann?«
»Der Preis kann sein«, erklärt Cees, »dass die Ideen für die weitere Entwicklung der Produkte nach so vielen Abstimmungsrunden und Anpassungen an Profilschärfe einbüßen. Deshalb war ich früher manchmal unzufrieden mit den Ergebnissen. Heute sehe ich: Derart komplexe Entscheidungen sind in globalen Konzernen nicht anders zu treffen. Man 44muss sie als Schritt nach vorn in ihrem größeren Kontext begreifen. Ich bin jedenfalls froh, herausgefunden zu haben, wie sich kontroverse Standpunkte und unterschiedliche Einschätzungen über interkulturelle Unterschiede hinweg besprechen lassen. Am Ende können dann konzernweit Entscheidungen...