Schweitzer Fachinformationen
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Kathleen schreckte hoch, als die Handarbeitslehrerin ungeduldig mit ihren Fingerknöcheln auf das Pult pochte. "Träumst du schon wieder?"
Desorientiert blickte Kathleen sich um. Entschwunden waren der leichte Wind in ihrem Traum und der Duft von Salbei. Vorbei waren der Anblick der schiefen Kiefern, das sorglose Lachen ihres Bruders und der Anblick der schroffen Berge im Hintergrund. Stattdessen befand sie sich in einem kargen Klassenzimmer mit grellen, weißgetünchten Wänden, hohen Fenstern, der schwarzen Schiefertafel und dem Geruch nach Bohnerwachs. Da war sie also: In dieser seltsamen Schule, in der sie "erzogen" werden sollte - finanziert von der Regierung über einen Fond für Waisenkinder. Dabei war sie gar kein Waisenkind! Sie hatte einen liebevollen Großvater, der sie nach dem Tod des Vaters aufgezogen hatte, und einen Bruder, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Kurz zuckte sie zusammen, als sie sich wieder an diesen schrecklichen Tag erinnerte, an dem sie gewaltsam ihrer Familie entrissen worden war. Sie hatte kein Wort verstanden, was diese Sheriffs geschrien hatten, nur die Worte ihres Großvaters hallten immer noch in ihren Ohren: "Kiksuya yo!" Erinnere dich!
Dann war sie in einem Fahrzeug weggebracht worden - für immer, hieß es.
Vor ihr tippten noch immer die Knöchel auf die Tischplatte und forderten ihre Aufmerksamkeit. Erschrocken blickte sie hoch und versuchte das Rasen ihres Herzens zu beruhigen. Diese Tagträume suchten sie immer häufiger heim - als wollten sie verhindern, dass sie die Worte ihres Großvaters und ihr Leben von damals tatsächlich vergaß. "Kiksuya yo!"
Die anderen Mädchen im Klassenzimmer kicherten und rückten mit ihren Stühlen hin und her. Aber die Lehrerin in ihrem steifen Rock und der hochgeschlossenen Bluse rügte sie sofort. "Seid still und arbeitet weiter!" Das Kichern verging, und eifrig wandten die Mädchen sich wieder ihren Arbeiten zu.
Mit wässrigen blauen Augen blickte Kathleen die gestrenge Handarbeitslehrerin an. "Entschuldigen Sie bitte, Missis Grant. Ich war etwas abgelenkt."
Prüfend tastete die Lehrerin über die Stickerei, die Kathleen gerade anfertigte: ein Blütenmuster am Kragen einer Bluse. "Sehr hübsch!", wurde sie gelobt. "Aber du solltest dich nicht so leicht ablenken lassen."
"Ja, Missis Grant!", antwortete Kathleen folgsam. Sie hatte gelernt, dass es besser war, sich dem strengen Reglement zu fügen. "Ich habe ein wenig Kopfschmerzen."
"Oh, vielleicht solltest du ein Glas Wasser trinken?" Die Lehrerin blickte sie leicht besorgt an.
Kathleen nickte und trat zum Waschbecken, um ein paar Schlucke zu nehmen. Das Wasser schmeckte abgestanden und metallisch, nicht nach der Reinheit der Quelle, aus der sie als Kind getrunken hatte. Vorsichtig benetzte Kathleen ihre Stirn und gewann an Klarheit. Sie musste diese Tagträume besser kontrollieren!
Die Lehrerin schritt zum nächsten Pult, um sich dort um einen weiteren Schützling zu kümmern. Die Mädchen im Alter von vierzehn bis siebzehn Jahren trugen alle die gleichen blauen Röcke mit weißen Blusen und darüber gestreifte Schürzen - die Schuluniform der Einrichtung.
Kathleen beugte sich über die Stickerei und dachte über den kurzen Traum nach, aus dem sie gerade geweckt worden war. Sie hatte wieder in dieser alten Sprache geträumt, die ihr viel vertrauter war als das Englische, das sie erst seit ihrer Ankunft vor sechs Jahren mühsam hatte lernen müssen. Niemand hier hatte verstanden, warum sie damals kein Englisch konnte, und das hatte das Rätsel um ihre Herkunft noch vergrößert. "Eine Wilde, die bei Indianern aufgewachsen war", wurde hinter ihrem Rücken getuschelt.
"Eine Wilde?" Sie war beileibe keine "Wilde", sondern ihr Großvater hatte sie behütet und beschützt. Sie verstand nicht, warum man ihr nicht glaubte, sondern den alten Mann für einen Kindesentführer hielt. Auch ihr Bruder war in die Obhut einer Einrichtung gewandert und sie vermisste ihn so sehr. Irgendwann, wenn sie endlich als "erwachsen" galt, würde sie sich auf die Suche nach den beiden begeben. Irgendwann würde sie ihre Familie wiederfinden und dann wäre dieser ganze Spuk vorbei. In ihrem Kopf summte sie unhörbar ein kleines Mutmachlied, das ihr Großvater sie gelehrt hatte. Immer, wenn sie Kraft brauchte, hielt sie sich daran fest. Das alte Lakota beruhigte sie auf wundersame Weise und half ihr das Heimweh und die Einsamkeit zu überwinden. "Tunkashila, wamashake shni, ca omakiya ye!" Sie sang es nur noch unhörbar, weil sie nicht wieder dafür bestraft werden wollte, wenn sie die alte Sprache benutzte. Es war eine heidnische Sprache, die hier nicht erwünscht war. Dabei wusste hier niemand, um welche Sprache es sich überhaupt handelte - woher also wollten sie wissen, dass sie von Heiden abstammte?
"Alle Indianerdialekte sind heidnisch und vom Teufel besessen!", hatte Mutter Oberin ihr erklärt und sie durch die dicke Brille hindurch streng angesehen. "So etwas wollen wir hier nicht."
Also hatte Kathleen ihr Geheimnis tief in sich begraben und gelernt, sich "wie es sich geziemt" auszudrücken. Die Mutter Oberin zeigte sich jedenfalls sehr zufrieden über ihre Fortschritte und lobte sie über alle Maßen. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen war Kathleen ausgesprochen pflichtbewusst und gehorsam. Das lag aber auch daran, dass Kathleen es als unschicklich ansah, wie frech sich manche der Mädchen gegenüber den Lehrerinnen und Nonnen benahmen. Ihr Großvater hatte ihr da ein anderes Benehmen beigebracht. Außerdem erinnerte sie sich nur zu lebhaft an die Zeit zurück, als sie hier angekommen war und kein Wort verstanden hatte. Sie war sprachlos gewesen, apathisch, herausgerissen aus einem Umfeld, das sie seit ihrer frühen Kindheit gekannt hatte. Hier war alles fremd gewesen, chaotisch und laut - mit Regeln und Anweisungen, die sie nicht verstanden hatte. Trotzdem hatte sie schnell gelernt, sich anzupassen, und versucht, Ordnung in die große Unordnung zu bekommen.
Man war ihr gewogen gewesen, hatte Mitleid mit ihr gehabt - nur Antworten auf ihre Fragen hatte man ihr nicht gegeben. Ihre ersten zögerlichen Versuche, sich nach ihrem Bruder oder ihrem Großvater zu erkundigen, waren im Keim erstickt worden. "Kind, man hatte dich entführt! Vergiss die beiden! Du wirst sie nie wieder sehen!"
Aber wenn die beiden nicht ihr Großvater oder ihr Bruder waren, wer war sie dann wirklich? Wer waren ihre wahren Eltern? Aber auch das wurde nur mit einem Schulterzucken beantwortet. "Du bist anscheinend ein Waisenkind. Der Staat zahlt großzügigerweise für deine Ausbildung. Sei also dankbar!"
Kathleen fügte sich. Als man sie hergebracht hatte, war sie zu klein gewesen, um sich zu wehren. Aber sie hatte sich geschworen, die Erinnerung an ihr früheres Leben zu bewahren. Inzwischen verfolgte sie einen anderen Plan: So viel zu lernen wie möglich - und dann zurückzukehren. Irgendwann würde sie ihren Großvater, ihren lieben "Lala", und ihren Bruder finden - und vielleicht dem Geheimnis ihrer wahren Herkunft auf die Spur kommen. Wer war sie wirklich? Wenn sie in den Spiegel sah, wusste sie, dass sie keine Indianerin war. Dafür waren ihre Haut zu weiß und ihre Haare zu hell. Sie hatte schöne lange braune Haare mit leichten Locken - die sie gerne zu einer Flechtfrisur zusammensteckte. Als man sie hergebracht hatte, waren sie noch zu zwei Zöpfen geflochten gewesen, aber diese "Indianersitte" hatte man ihr ausgetrieben. Unwillkürlich fasste sie nach einer Haarnadel, die sich etwas gelöst hatte, und stickte dann weiter an dem blauen Blütenmuster. Sie liebte das Fach Handarbeit, weil sie dann ihren Gedanken nachhängen konnte. Auch die Lehrerin war nett und normalerweise sehr geduldig. Kathleen war ohnehin sehr geschickt, sodass die Lehrerin sie gern hatte. "Wenn doch nur alle meine Schülerinnen so begabt wären!", lobte sie Kathleen oft.
Kathleen schloss für einen Augenblick die Augen und rief den Traum in sich hoch. Er war so schön gewesen: Sie befand sich wieder im Zelt des Großvaters, der seine schönen Geschichten erzählte. Sie begannen immer mit "Ehanni" - vor langer Zeit - und endeten mit "Oihanke" - das Ende. Es waren Geschichten um tapfere Krieger, listige Spinnenwesen und mutige Frauen. Manchmal verliebte sich ein Krieger in eine Büffelkuh, und ein anderes Mal ging eine Schildkröte auf den Kriegspfad und trickste die Menschen aus. Abends, wenn sie allein in ihrem Bett lag, wiederholte sie in Gedanken all diese Geschichten, damit sie nichts davon vergaß. Auch ihre Lieblingsgeschichte hatte sie schon oft in Gedanken nacherzählt. Sie handelte von einem berühmten Häuptling, dessen Ehefrau untreu gewesen war. Sie hatte sich in den Cousin des Häuptlings verliebt, und das ganze Dorf wusste um den Betrug. Aber der Häuptling, obwohl er von dem Betrug wusste, tat nichts, sondern ließ es zu, dass die Frau zu dem Cousin zog. Nach einer Weile kehrte die Frau wieder zu ihrem Mann zurück, und das ganze Dorf wartete darauf, dass es nun im Tipi hoch her gehen würde - aber nichts dergleichen geschah. Der Häuptling fragte seine Frau nur, ob sie nun glücklich wäre. "Ja!", sagte die Frau, und so schwieg der Häuptling.
Eines Tages aber gingen alle zur Büffeljagd - nur der Cousin nicht, da er faul und feige war. Nach der Büffeljagd sattelte der Häuptling sein bestes Pferd, setzte die Frau hinauf und brachte sie zu dem Cousin. "Cousin, ich sehe, dass du nicht Manns genug bist, um zu jagen und eine Frau zu finden. Ich schenke dir nun dieses Pferd, damit du...
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