Schweitzer Fachinformationen
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Nermoor 1924
Gredel saß bei Familie Houtrouws am Tisch und ließ ihren Blick über die Kinder schweifen. Sie saßen da wie die Orgelpfeifen: die Jungen angezogen mit ihren Matrosenanzügen und die beiden Mädchen Elisabeth und Foelke in ihren weißen Kleidchen. Gredel verkniff sich ein Kichern, als Otto unter dem Tisch nach seinem jüngeren Bruder trat, um die nächste Katastrophe zu verhindern. Gleich würde der jüngere den älteren Bruder verpetzen, und dann war Schietwetter angesagt. Schietwetter bedeutete strömender Regen, aber auch eine lange Standpauke des gestrengen Vaters, dessen schlechte Laune meist ziemlich lange andauerte, wenn einer seiner Sprösslinge über die Stränge schlug. Bei sechs Kindern im Alter von vier bis siebzehn Jahren, davon fünf Jungen, war es auch nötig, auf Disziplin zu achten. Otto hatte wieder mit dem Nachbarmädchen geflirtet und war dabei von dem kleinen Hermann beobachtet worden. "Otto hat es heute wieder getan!", petzte der Junge unbeeindruckt.
"Sei still!", zischte Otto böse. "Sonst fängst du eine!" Seine Stimme war leise, aber drohend. Auch der etwas jüngere Rudolf schaute den kleinen Bruder durchdringend an.
Der Vater horchte auf. "Was hat er wieder getan?"
Hermann zappelte auf seinem Stuhl hin und her. "Äh, er hat ."
Ehe er den Satz beenden konnte, kam Gredel ihrem Cousin zu Hilfe. "Nichts, er hat mir beim Holzhereintragen geholfen."
Sofort wandte sich das Interesse des Vaters wieder der Zeitung zu, die er jeden Tag las. Hausarbeiten gehörten in das Metier seiner Frau, um das er sich nicht zu kümmern pflegte. "Macht so etwas nicht Gusti?", brummte er ungeduldig. Gusti war das Hausmädchen der Familie. Hermann wollte noch etwas sagen, bekam aber dieses Mal einen Tritt von Gredel. "Untersteh dich!", warnte sie böse. "Sonst spiele ich nie wieder mit dir!" Gredel legte ihre ganze Autorität in die Stimme, um ihren Cousin zur Einsicht zu bringen.
Hermann zog den Kopf ein und blickte sie ganz erschrocken an. "Ich wollte doch gar nichts sagen!", versicherte er hastig.
Gredel tauschte einen belustigten Blick mit Otto und Rudolf und rollte mit den Augen. Geschwister - auch wenn es nicht die eigenen waren - konnten manchmal eine Plage sein. Dabei fühlte sie sich in dieser Familie so wohl. Viel besser als in dem strengen Lehrerhaushalt ihres Vaters in Leer, der dort mit seiner zweiten Frau und der kleinen Tochter Amalie wohnte. Gredel hatte noch während sie die Handelsschule besuchte die Flucht ergriffen und war wieder zu der Familie Houtrouw gezogen, um von dort aus in die Schule zu gehen und ansonsten als Hausmädchen mitzuhelfen.
Für Gredel waren die Houtrouws wie eine richtige Familie: Eigentlich waren sie Tante und Onkel, doch nach dem Tod von Gredels Mutter - kurz nach Gredels Geburt - hatte der Vater die kleine Gredel zu der Tante gegeben, wo sie zusammen mit dem kaum einen Monat älteren Otto von ihrer Pflegemutter gestillt worden war. Als der Vater wieder geheiratet hatte, war Gredel zu ihrem Vater zurückgekehrt, hatte aber immer eine enge Beziehung zu ihrer Tante beibehalten. Für sie waren all diese Kinder hier wie ihre leiblichen Geschwister, die sie abgöttisch liebte - mehr als ihre Halbschwester Amalie, die zudem noch von dem Vater und der Stiefmutter bevorzugt wurde. Gredel hatte die Schikanen einfach satt gehabt. Während die kleine Amalie stets im Mittelpunkt stand, erfuhr Gredel oft nichts als Tadel und scharfe Worte. Nie schienen ihre Leistungen gut genug zu sein - und der Vater hielt sie für faul. Bei den Houtrouws dagegen waren ihre Mitarbeit und Hilfe willkommen. Mutter Rudolfa genoss es, wenn Gredel den kleineren Kindern bei den Hausaufgaben half, sich um die Wäsche und das Kochen kümmerte oder ihr beim Sticken Gesellschaft leistete. Gredel stickte natürlich nicht, sondern lernte, wie man Socken stopfte oder den Saum von Kleidern ausließ. Allein das Bügeln der Wäsche, die bei so vielen Personen anfiel, dauerte Stunden. Gredel machte es gerne, denn das Lob von Mutter Rudolfa tat ihr gut. Ihr Vater schien dagegen nie zufrieden zu sein. Dabei waren ihre Leistungen in der Schule gar nicht schlecht gewesen, aber von der Tochter eines Lehrers hatte der Vater sich mehr erhofft. "Gutes Betragen allein reicht nicht", hatte er stets geschimpft, wenn sie wieder mal ein "Befriedigend" im Zeugnis stehen hatte. Überhaupt schien er nur die schlechteren Noten zu sehen - und nicht die guten Leistungen. "Wie soll ich dich nur unter die Haube bringen?", hatte er gemurmelt, und die Enttäuschung war ihm jedes Mal anzusehen.
Gemeint war damit auch, dass er Gredel nicht für besonders hübsch hielt: Sie hatte einen Wuschelkopf aus dunklen Locken, eine römische Nase und ein leicht strenges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Dass er es überhaupt erlaubt hatte, dass sie die höhere Wirtschaftsschule besuchen durfte, war für ihn schon ein außergewöhnliches Zugeständnis gewesen. Doch nach dem Weltkrieg hatte sich viel verändert, und es war inzwischen nicht mehr so ungewöhnlich, dass auch Mädchen aus gutem Hause einen Beruf ergriffen. Selbstverständlich kam ein Studium nicht in Frage, aber warum nicht Gouvernante oder Krankenschwester?
Gredel dagegen hatte andere Pläne. Ihr Lieblingsonkel Enno lebte in Berlin und hatte ihr ganz andere Gedanken in den Kopf gesetzt. Er war wesentlich weltoffener, denn er ermutigte Gredel, zu ihm nach Berlin zu kommen und dort eine Ausbildung anzufangen. "Mädel, du musst mal diesen Mief hinter dir lassen! Hier in Leer versauerst du nur. Komm doch zu mir nach Berlin und lerne etwas!"
Gredel hatte immer noch die Stimme ihres Onkels im Ohr, als sie nach dem Abendessen bei ihrer Ziehmutter im "Salon" saß. "Wissen Sie, Frau Houtrouw .", begann sie höflich.
"Ja, mein Kind?" Rudolfa schaute interessiert auf. Es störte sie nicht, dass Gredel sie siezte, denn das erwartete sie von ihren älteren Kindern auch. Nur die beiden kleinsten durften noch "Mama" zu ihr sagen. Sie sah sehr gepflegt aus in ihrem steifen weißen Kleid, das bis zum Boden reichte, den weißen Schuhen und der aufwendigen Flechtfrisur. Sie saß in einem schweren Ohrenbackensessel und hatte die Füße auf einem Hocker abgelegt. Dahinter stand eine Anrichte aus dunklem Mahagoniholz, in der das "gute" Geschirr und die Kristallgläser aufbewahrt wurden. Neben Rudolfa flackerte der warme Schein des Feuers im Kamin. Sie trug eine Nickelbrille, um die Stickarbeit besser sehen zu können. Es war früh dunkel geworden, und das Hausmädchen hatte die schweren Vorhänge aus Gobelin bereits zugezogen. Der Raum lag im Dunkeln, mit Möbeln aus Holz und dicken Stoffen mit Blütenmustern oder bestickten Tischdecken. Nur in der Nähe des Feuers und der einzigen Lampe, die auf dem Tisch stand, wurde das Zimmer beleuchtet.
Gredel lächelte geschmeichelt. Es war schön, wenn Rudolfa "Kind" zu ihr sagte. Ganz, als wäre sie ebenfalls eine Tochter des Hauses. "Mein Onkel Enno", fuhr sie fort, " . meinte, dass ich zu ihm nach Berlin kommen sollte, um eine Ausbildung zu beginnen."
Rudolfa hob etwas erstaunt die Augenbrauen. "Ja, möchtest du dich denn nicht bald verloben? Ich meine . nach diesem Jahr bei uns."
Gredel senkte den Blick. "Ach, ich habe noch gar keinen Sinn, mich binden zu wollen. Warum sollte ich nicht zuerst eine Ausbildung machen und etwas lernen?"
"Was für ein Unsinn. Du wirst einen guten Mann heiraten, der dann für dich sorgt. Viele Männer sehen es gar nicht gerne, wenn ihre Frau arbeiten möchte. Es ist doch genug, wenn du dich um Haushalt und Kinder kümmerst. Sieh mich an .!"
"Schon!", stimmte Gredel zu.
Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Näharbeit und dachte darüber nach. Wollte sie solch ein Leben? Einen Mann heiraten, Kinder bekommen, den Haushalt führen und vielleicht ein Beet anlegen? Daran lag bestimmt nichts Falsches. Insgeheim beneidete sie Rudolfa sogar für dieses Leben. Rudolfa hatte einen guten Mann, bezaubernde Kinder, Personal und ein gesichertes Einkommen. Wobei Gredel noch nicht ganz verstanden hatte, womit ihr Onkel sein Geld verdiente. Irgendwas mit Handel - außerdem war Land vorhanden, das bewirtschaftet werden musste.
Gredel seufzte tief. "Ach, bisher habe ich noch niemanden kennengelernt." In wen sollte sie sich also verlieben?
"Du gehst ja auch nie zum Tanzen aus", meinte Rudolfa mit einem Kopfschütteln.
"Tanzen?" Wo hätte sie das lernen sollen? Ihr Vater nannte es einen unnützen Zeitvertreib, der eines jungen, anständigen Mädchens nicht würdig sei. Sie musste kichern, als sie sich das Gesicht ihres Vaters vorstellte, wenn sie ihn fragen würde, ob sie zum Tanzen gehen dürfte....
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