Schweitzer Fachinformationen
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»Wir alle sind genauso, wie wir uns sehen, wenn wir uns schämen.«
Szczepan Twardoch, »Wale und Nachtfalter« (2019)
Das Folgende ist ein Versuch über Nostalgie - die starke, aber unklare Empfindung, dass früher alles klarer und besser war. Er handelt von Bewegungen, emotionalen wie politischen; von Gruppenbildung durch gemeinsame Erregung; von den Wechselwirkungen zwischen Vorbildern, Nachmachen und Medienechos und von theatralischen Auftritten - vom Fuchteln mit Gewalt und großen Worten. Und von Freiheit. Aber erst ganz am Schluss.
Vorher, so viel sei schon am Anfang verraten, wird es etwas peinlich. Wahrscheinlich ist das unvermeidlich bei einer Reise zurück in die gute (oder böse) alte Zeit. Weil es auch um Blamage geht, um deutsche Indianerspiele, Selbstmitleid, Liebe, Verrat, Geilheit (auch eines von den großen Worten) und notwendigerweise um Geschichte. Denn schon die gute alte Zeit kannte die Sehnsucht nach einer noch besseren älteren Zeit.
Am Anfang ist eine Leerstelle; das Erstaunen über etwas, das sich schwer in Worte fassen lässt, ein blinder Fleck ohne klare Konturen. Warschau, Dezember 2015. In der Altstadtstraße hinter dem Schloss war in eine barocke Fassade eine große schwarze Marmortafel eingelassen, geschmückt mit einem Kreuz, davor Blumen und Kerzen auf dem Gehsteig. Hier befand sich die Wache der Volksmiliz, in der am 12. Mai 1983 der neunzehnjährige Gymnasiast Grzegorz Przemyk schwer misshandelt wurde. Er starb zwei Tage später an den Folgen. Die Inschrift auf der Tafel schließt damit, dass die Täter bis heute - sie ist von 2012 - nicht bestraft worden seien.
Es war die Jahreszahl 1983, die mein Erstaunen erzeugte und das Gefühl von blindem Fleck. Die Städte, die ich regelmäßig besuche - Berlin, Zürich, Frankfurt, Hamburg - sind nicht gerade arm an Gedenktafeln, von Denkmälern ganz zu schweigen. Sie sind sehr unterschiedlichen Personen und Ereignissen gewidmet, vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, aber praktisch nie den 1980er Jahren. Im ehemaligen Westberlin erinnern heute ein großes Bronzerelief vor der Deutschen Oper und eine (kleine) Erinnerungstafel in einem nahen Hinterhof an den Studenten Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 dort bei einer Demonstration von einem Polizisten erschossen wurde. Am Ort der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer in Köln 1977 befindet sich eine Gedenkstätte mit einer dreieinhalb Meter hohen steinernen Säule. Sie ist unübersehbar und sieht ziemlich nach Kriegerdenkmal aus.
An der Straßenkreuzung Frankenallee/Hufnagelstraße in Frankfurt am Main dagegen gibt es keine Hinweise, dass dort im September 1985 ein Demonstrant namens Günther Sare von einem Wasserwerfer überfahren wurde und starb; ebenso wenig wie an der Mönchsbruchwiese im Frankfurter Stadtwald, wo die Polizeibeamten Klaus Eichhöfer und Thorsten Schwalm am 2. November 1987 von einem Demonstranten erschossen wurden.[1] Keine Spuren am Bellevue-Platz in Zürich, wo sich am 12. Dezember 1980 eine Vierundzwanzigjährige aus Protest gegen Polizeigewalt verbrannt hat, und an der Elandsgracht 117 in Amsterdam, wo am 25. Oktober 1985 der dreiundzwanzigjährige Hans Kok unter ungeklärten Umständen in einer Einzelzelle starb. Das Gebäude dient weiterhin als Polizeirevier.[2]
Was ist das für eine Zeitzone? Für die Toten der politischen Konflikte der 1980er Jahre in der BRD, in der Schweiz und in den Niederlanden gibt es keine Denkmäler, weil sie - anders als in Polen - nicht als Teil einer gemeinsamen Geschichte, eines offiziellen »Wir« angesehen werden. Öffentliche Erinnerung ist umso komplizierter, je näher sie liegt und je zwiespältiger die damit verbundenen Empfindungen sind. Die Konflikte sind vorbei, man schaut aus sicherer Entfernung zurück. Was kommt dabei zum Vorschein?
Willkommen in der guten alten Zeit. Nostalgie, die Sehnsucht nach Rückkehr in die Vergangenheit, ist eine Kombination aus freundlicher Erinnerung und schmerzlichem Vermissen. Sie hat eine Art von dunklem Zwilling. Er heißt Heimsuchung - auch das ein zwiespältiges Wort. Irgendwo zwischen Heimkommen und Hausdurchsuchung angesiedelt, steht es für Mischungsverhältnisse zwischen Vertrautem und Unfreiwilligem, mit bedrohlichem Unterton. Etwas von früher kehrt wieder, aber in veränderter Gestalt und mit veränderter Bedeutung.
»Heimsuchungen« hieß das Taschenbuch, das mir am Ende der 1980er Jahre ein schreibender Freund im Hamburg in die Hand drückte, erschienen in einem Schweizer Verlag. Der Name des Autors sagte mir nichts. »Lies das«, sagte er, »ist super.« Ich war skeptisch. Der Untertitel war eigenartig: »Ein ausschweifendes Lesebuch.« »Worum geht es?« »Um alles. Musst du selber herausfinden.«
Der Umschlag zeigt eine junge Frau in weißer Bluse, sie schneidet mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck einem halbnackten Mann den Kopf ab. Das Blut spritzt, es ist ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Caravaggio von 1598. Mit den im Buch versammelten Reportagen und Essays hat es nichts zu tun. Die liefern Momentaufnahmen aus den späten 1970er und 1980er Jahren über aufgeregte katholische Gymnasiasten, tote Rennfahrer, Schweizer Sammler von Nazi-Devotionalien, Pariser Einwanderer, bizarre Kulturpolitiker und Ratten, eine wilde Mischung aus Recherche, Gefühligkeit und Polemik. Ihr Autor Niklaus Meienberg war erfolgreicher Reporter, Publizist und kompliziertes Enfant terrible; 1993 brachte er sich um. Seine Essays mit ihrer Schamlosigkeit, Frechheit und Direktheit sind in den Schweizer Bibliotheken mittlerweile unter »Gegenwartsliteratur nach 1945« eingeordnet.
Dabei hat er nichts erfunden. Viele seiner Formulierungen lösen heute leichte Beklemmung aus, wenigstens bei mir. Der aufgeregte Ton und die starken Wertungen machen mich verlegen. Musste das sein? Aber so sind die 1980er Jahre: Es musste so sein.
Die eigene Vergangenheit gilt als das, was einen ausmacht; als die Zeitzone, aus der man kommt, in der bescheideneren ersten Person Singular ebenso wie im volltönenderen Plural, dem »Wir«, mit großem W. Dann wird von »unserer«, »meiner« und »deiner« Vergangenheit« gesprochen als einem Territorium, das man besitze, verwalte, ordne und für das man verantwortlich sei, im positiven wie im negativen Sinn. Gewöhnlich geschieht das in jener grammatischen Zeitform, die das Deutsche für unabgeschlossene Handlungen reserviert und die vermutlich nicht zufällig einen mehrdeutigen Namen trägt, Imperfekt. »Das warst du.«
Heimsuchungen demonstrieren einem, wie machtlos man dieser Vergangenheit gegenübersteht. War ich es, der, der dabei war, damals? Die Person, die man jetzt ist, hatte damals Empfindungen und feste Überzeugungen, die man sich in der Rückschau nur mit Mühe verständlich machen und zwar teilweise rekonstruieren, aber nicht mehr nachvollziehen kann. Wie war sie noch einmal aus der Nähe betrachtet, die gute alte Zeit?
Ziemlich viele Dinge, von denen auf den folgenden Seiten die Rede ist, erscheinen heute abwegig, und das ist noch die mildeste Bezeichnung, die mir dazu einfällt. Vieles davon erscheint in der Rückschau peinlich, übertrieben, zu Recht verboten und insgesamt ziemlich bescheuert. Aber daran erkennt man Vergangenheit: Sie ist fremd und etwas bizarr. Sie ist kein Vorbild, sondern provoziert jene Frage, die alle stellen, die hinterher aufräumen, nach der Party, nach dem Disaster, nachdem man weiß, wie das alles weitergegangen ist und wie die ungeplanten Konsequenzen ausgesehen haben. »Was haben die sich dabei eigentlich gedacht, damals?«
Nicht viel, fürchte ich. Dafür ganz viel gefühlt. Fühlen, um recht zu behalten. Fühlen, um in Sicherheit zu sein und gleichzeitig den Schrecken genießen zu können. Und Fühlen als Erlaubnis, darüber laut Auskunft zu geben, etwas aufdringlich und nicht sehr differenziert.
Das hier ist kein Bekenntnisbuch. Es handelt von jener Vergangenheit, in die sich in der Gegenwart, in der ich das schreibe, viele Leute um mich herum lautstark und innig zurücksehnen. Ihre Klagen über verlorene Werte, unüberschaubar gewordene Beschleunigung und verdüsterte Zukunftsaussichten malen vergangene Ereignisse in Rosa mit Weichzeichner: »Ach, damals.« Als noch alles so echt war, so vertraut, so sicher. Von wegen.
Die kollektiven Affekte und ihre medialen Erscheinungsformen, von denen dieses Buch handelt, haben etwas eigenartig Vertrautes - als ob das Remake eines oder mehrerer alter Filme abliefe, als würden lang bekannte Geschichten mit neuen Figuren nacherzählt, eine Folge von Déjà-vus, Echos, Varianten von älteren Erzählungen und ihre Rekombinationen. Sie laufen im eigenen Kopf, aber man teilt sie mit anderen und gibt sie selbst weiter. Sie sind plausibel, selbsterklärend und unwiderstehlich - sie haften an einem, ob man will oder nicht. Und an den anderen auch.
Ich möchte die verschiedenen Varianten der Nostalgie von innen nach außen stülpen und nachsehen, woraus sie gemacht sind. Was macht sie so unwiderstehlich? Das erste Kapitel handelt von der verbreiteten Empfindung, in einer Spätzeit zu leben; in der erschöpften Endphase jener Moderne, die sich nur wenige Jahrzehnte zuvor noch so zuversichtlich angefühlt hatte. Davon sind jedenfalls viele Autorinnen und Autoren überzeugt. Am Ende der 1970er Jahre, so eine erfolgreiche und weit verbreitete These, sei die hoffnungsvolle Modernisierung an ihr Ende gekommen. Aber wie hat sie sich damals angefühlt, die gute alte Zeit?
Das zweite...
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