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Rosa übernachtete bei einer Freundin aus dem Kindergarten. Es war das erste Mal, dass sie woanders schlief, weswegen ich nicht glaubte, dass es funktionieren würde, also wartete ich. Ich legte die Wäsche zusammen, schaltete den Fernseher erst ein und dann wieder aus und schaute immer wieder aufs Handy. Da gegen zehn Uhr immer noch keine Nachricht gekommen war, beschloss ich, ins Bett zu gehen.
Als ich meine in Tränen aufgelöste Tochter eine Stunde später abholte, versicherte mir die andere Mutter, dass nichts passiert sei, Rosa hätte mich bloß vermisst. Nur hatte sie angefangen, noch heftiger zu weinen, sobald sie mich sah. Es hatte lange gedauert, bis ich es geschafft hatte, sie unter den missbilligenden Blicken der anderen Mutter zu beruhigen. Sie schlief im Taxi ein, das Gesicht voller Tränenschlieren.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Kindergarten, erzählte mir Rosa, dass sie bei ihrer Freundin ein Buch von Adolf Hitler gelesen habe. Rosa sagte immer lesen, wenn sie vorlesen meinte. Ich vermutete, dass es ein Bilderbuch über das Leben von Anne Frank war - ich hatte es am Vorabend in der Wohnung liegen sehen und mich bemüht, nicht die Augen zu verdrehen. Es war eines jener Bilderbücher, die das Leben berühmter Personen auf ein paar Sätze herunterbrachen und die mich an die sowjetische Reihe Das Leben berühmter Menschen erinnerten, die meine Mutter geliebt hatte. Die Reihe war längst vergriffen, aber meine Tante hatte noch ein paar Exemplare aufbewahrt, in denen ich manchmal als Kind geblättert hatte. Statt mir zu antworten, kniff Rosa ihre Augen zusammen und erzählte mir das Buch nach.
Meine Tochter, die nach ihrer Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden, benannt war, wusste bis dahin nichts über Anne Frank oder die Shoah. Offenbar hatte sie die Sache mit Adolf Hitler in dem Buch falsch interpretiert, und jetzt standen wir mitten in Berlin, ausgerechnet in der Nähe des Axel-Springer-Hochhauses. Der Himmel war wolkenverhangen, zwischen den Hochhäusern wehte ein rauer Wind, und aus Rosa sprudelte es nur so heraus. Was sie sagte, war im Prinzip richtig, außer dass sie dachte, Adolf Hitler hätte das Buch geschrieben. Außerdem dachte sie, er hätte etwas gegen Jungen, nicht Juden, gehabt. Jüdisch sei sie selbst übrigens nicht, denn sie glaube nicht an Gott. Rosa wusste natürlich, dass sie jüdisch war, sie wusste nur nicht, wie viele Menschen aus diesem Grund ermordet worden waren, und ich hoffte, dass es noch eine Weile lang so bleiben könnte. Zu Hause hatten wir eine Chanukkia, den neunarmigen Leuchter, dessen Kerzen an Chanukka angezündet werden. Doch die Kerzen auch am Schabbat rauszuholen, war uns bereits zu viel Aufwand. Die anderen hohen Feiertage begingen wir auch irgendwie, allerdings niemals in der Synagoge.
Rosa plapperte weiter fröhlich vor sich hin, ich hingegen wurde immer stiller. Als wir ankamen, schaute uns die Kindergärtnerin neugierig an, und ich versuchte, mich so schnell wie möglich zu verabschieden.
Ich fuhr zu einer Buchhandlung, die eher einem durchgestylten Café als einem Geschäft glich, und fand das Buch sofort: Anne Frank sah aus wie eine Mischung aus einer Manga-Figur und einer stilisierten Audrey-Hepburn-Postkarte. Die Prosa war unterkomplex und konnte nicht einmal eine vage Vorstellung vom Holocaust vermitteln. Sofern man als Elternteil den Wunsch verspürte, es zu tun. Das KZ kam nur am Rande vor und hätte auch ein Sanatorium sein können. Ich hatte das ganze Buch im Laden durchgelesen und stand nun fassungslos vor dem Bücherregal. Die Buchhändlerin wurde ungeduldig. Sie hatte einen kurzen Pony, flachsblondes dünnes Haar und eine sehr große dunkle Hornbrille. Ich versuchte, vertrauenerweckend zu wirken, aber das Gesicht der Buchhändlerin spiegelte deutlich ihre wachsende Besorgnis. Als sie sich mir näherte, verließ ich den Laden.
Am Abend, nachdem ich Rosa ins Bett gebracht hatte, fragte ich Sergej, was er zu tun gedenke und ob Rosa irgendeine Identität brauche, aber er schenkte sich lediglich ein Glas Wein ein und ging zurück zu seinem Flügel. Nachdem er sich hingesetzt hatte, drehte er sich noch einmal zu mir um und sagte: »Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine«, lachte, prostete mir zu und wandte sich wieder von mir ab. In diesem Augenblick verfluchte ich ihn und seinen Steinway-Flügel. Sobald er dahinter saß, war er nicht mehr ansprechbar, und da er ja der Künstler war, hatte ich still zu sein. Er studierte ein neues Programm ein.
»Serescha, so geht es nicht weiter«, sagte ich zu mir selbst und goss mir ebenfalls ein Glas Wein ein. Das Glas wurde zu voll, ich nahm einen großen Schluck. Es war seine Wohnung, die er kurz vor unserer Hochzeit gekauft hatte - gerade noch rechtzeitig. Vier Zimmer innerhalb des S-Bahn-Rings, Altbau, große Flügeltüren, genug Platz, um glücklich sein zu müssen, dazu Nachbarn, die wegen eines Konzertpianisten nicht gleich das Ordnungsamt riefen, selbst wenn der für sie nach Jahrzehnten im Westen noch immer ein Russe war. Dennoch hatten wir inzwischen das Übungszimmer schalldicht isoliert. Ich setzte mich auf die Klavierbank neben ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Er küsste mich, ohne sein Spiel zu unterbrechen.
Wir blieben eine Weile nebeneinander sitzen. Dann sagte er: »Lou, ich muss üben.« Eigentlich heiße ich Ludmilla, aber dieser Name existiert nur noch auf Formularen, wobei ich mich glücklich schätzen kann, dass er bei der Einreise nach Deutschland nicht völlig verstümmelt wurde. Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität.
Sergej hatte noch nie etwas anderes in seinem Leben getan, als zu spielen. Seine Mutter hatte ihn im Alter von vier Jahren ans Klavier gesetzt, und dabei war er geblieben. Sie war selbst eine ausgebildete Konzertpianistin, aber keine erfolgreiche. Seit ihrem Abschluss hatte sie kein einziges Konzert gespielt. Obwohl sie drei Kinder hat, war Sergej der Einzige, der von ihr unterrichtet und konsequent zum Üben gezwungen wurde. Einmal fragte ich sie, weshalb ihre Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen war, aber sie starrte mich lediglich an, zog an ihrer Zigarette, obwohl ich sie gebeten hatte, sie nicht in meiner Küche zu rauchen, und sagte: »Und warum hast du dich für ihn entschieden?«
Ich hatte ihr nicht geantwortet, war nur aufgestanden und hatte das Fenster sperrangelweit geöffnet. Es war Dezember. Ekaterina hatte jedoch Recht: Es gab kaum jemanden, der eine solch konstante Leistung lieferte wie er. Geboren in Moskau, Schüler am dortigen Konservatorium, später Studium an der Julliard School mit einem Vollstipendium, Teilnahme am Chopin-Wettbewerb in Warschau, erster Platz mit fünfundzwanzig. Es folgten Konzerte in Asien, Europa und Nordamerika, Ruhm und Druck, dem Sergej immer standhielt. Er erhob nie die Stimme, wurde selten nervös, trank ausschließlich Weißwein oder Champagner und selbst das mehr oder weniger kontrolliert. Er war wie eine Maschine. Der Traum eines jeden Managers und Veranstalters.
Seine Mutter war meistens an seiner Seite und passte auf, dass ihm nichts passierte. Nur bei unserem Kennenlernen sei sie kurz abgelenkt gewesen, scherzte sie gerne. Ekaterina wohnte fußläufig und kam ständig bei uns vorbei, natürlich unangemeldet. Dann erwartete sie von mir, dass ich ihr Tee zubereitete, während sie mit Sergej sein Repertoire, die neuesten Rezensionen, seine Managerin, Rosa und mich durchsprach. Vor allem mich - naturgemäß war unser Verhältnis etwas angespannt -, denn sie machte keinen Hehl aus der Ansicht, dass ich für ihren Sohn nicht annähernd gut genug sei. Doch Sergej hatte sich in mich verliebt. Vielleicht lag es daran, dass ich wie eine Schickse aussah, aber keine war. Die Geburtsurkunde meiner Mutter, in der die Nationalität als jüdisch vermerkt war, war jedenfalls in Ordnung, zumindest ordentlicher als die der meisten jüdischen Sowjet-Bürger. Sowie derer, die ihre Papiere in der Sowjetunion korrigiert hatten, um bessere Chancen im Leben zu haben, etwa um zu promovieren oder bestimmte Fächer studieren zu dürfen. Manche bestachen nach dem Zusammenbruch des Imperiums die Rabbiner, um als Juden ausreisen zu können. Andere wiederum waren zwar jüdisch, aber ihre Papiere, die in den Synagogen ausgestellt worden waren, wurden vom sowjetischen Regime kurz vor dessen Kollaps eingezogen und gegen neue ausgetauscht, die absichtlich wie...
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