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Er hasste solche Termine. Glücklicherweise kam es nicht oft vor, dass er Eltern aufsuchen musste, die ein Kind verloren hatten. Genau genommen war das hier das erste Mal. Bisher hatte er es nur mit trauernden erwachsenen Töchtern oder Söhnen zu tun gehabt. Wobei von Trauer nicht in jedem Fall die Rede sein konnte. Bei manchen Hinterbliebenen hatte er den Eindruck von Erleichterung einfach nicht übersehen können. Wie auch immer, dieser Fall lag anders.
Ein Mann Ende dreißig öffnete ihm. Er trug einen Dreitagebart, seine hellen Augen blickten den Besucher desinteressiert an.
»Ja, bitte?«
Achim Gruber nannte seinen Namen und seinen Beruf: Kriminalhauptkommissar, was den Mann jäh aufhorchen ließ. »Haben Sie . wissen Sie .?«
»Nein, tut mir leid, ich habe keine Neuigkeiten«, sagte Gruber bedauernd.
Der Mann sackte zusammen. »Was wollen Sie dann hier? Ich hab Sie noch nie gesehen.«
»Man hat Ihnen doch sicher mitgeteilt, dass Hauptkommissar Weber pensioniert ist.«
»Ach ja.« Der Mann schwieg einen Moment. »Deshalb hat er sich so lange nicht blicken lassen.«
Der Mann drehte sich um und schlurfte den dunklen Flur entlang. Eine viel zu große Jogginghose bedeckte seine dünnen Beine. Sie betraten ein geräumiges Wohnzimmer. Am Esstisch saß eine Frau vor einem Laptop. Sie blickte den Eintretenden ängstlich entgegen und stand auf. Dunkles kurz geschnittenes Haar umrahmte ihr blasses Puppengesicht. Eine schöne Frau, dachte Gruber. Noch schöner als auf den Bildern, die er in der Inspektion gesehen hatte. Schön und zerbrechlich. Die Frau betrachtete ihn schweigend, als traue sie sich nicht, nach dem Grund seines Besuchs zu fragen.
»Ich bin der Nachfolger von Hauptkommissar Weber«, erklärte Gruber, »und ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten, wenn es Ihnen recht ist.«
»Dann gibt es nichts Neues?« Die Stimme der Frau war erstaunlich fest.
»Leider nein.«
Sie nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet, und setzte sich wieder. Der Mann hatte sich schwer auf das Ecksofa fallen lassen.
»Was gibt es denn dann noch zu sagen?«, fragte sie. Es klang resigniert und ein wenig unwillig.
Gruber räumte ein paar Kleidungsstücke beiseite und setzte sich.
»Ich verstehe, dass es für Sie schmerzhaft sein muss. Ich habe die Akte Ihrer Tochter sehr genau gelesen, möchte mir aber auch persönlich ein Bild von dem Fall machen.«
»Was soll denn das noch bringen?«, fragte der Mann. »Oder glauben Sie etwa, dass sie noch lebt?«
»Ich will Ihnen nichts vormachen, das ist unwahrscheinlich, aber ich nehme an, Sie wollen doch wissen, was passiert ist?«
»Das ist das Schlimmste«, sagte die Frau leise. »Die Ungewissheit. Das haben wir auch Kommissar Weber immer wieder gesagt, und er hat sich ja bemüht . aber -«
»Kommissar Weber hat bestimmt alles Nötige unternommen, da besteht kein Zweifel«, unterbrach sie Gruber. Er musste den Leuten ja nicht erzählen, dass sein Vorgänger nicht immer besonders sorgfältig ermittelt hatte. »Vielleicht erzählen Sie mir noch mal genau, was damals passiert ist.«
Die Frau wischte imaginäre Krümel von ihrer Jeans und sah aus dem Fenster in einen mit üppig blühenden Rosensträuchern bepflanzten Garten.
»Es gibt nicht viel zu erzählen, zumindest nichts, was nicht auch in den Akten steht.« Sie wandte sich Gruber zu. »Jedenfalls hoffe ich das.«
»Natürlich.«
»Maike war mit der Schule unterwegs. Sie wollten die Kaiserpfalz besichtigen.«
»Sie war in der dritten Klasse, nicht wahr?«
»Ja, neun Jahre alt . war sie. Jetzt wäre sie zehn.«
»Und als die Klasse die Kaiserpfalz verlassen hat, war Maike verschwunden?«
»Ja . einfach verschwunden«, wiederholte die Frau leise.
Der Mann nickte schweigend.
»Wir wollten die Lehrerin verklagen, aber . die war schon in der Psychiatrie wegen der Sache. Kann ihren Beruf nicht mehr ausüben. Und außerdem bringt uns das Maike nicht zurück.«
»Was war sie für ein Kind?«, fragte Gruber, der natürlich wusste, dass Eltern die am wenigsten objektiven Beobachter ihrer Kinder waren. Dennoch wollte und musste er wissen, wie sie das Verhalten ihrer Tochter beurteilten. Erst wenn er auch mit den anderen Zeugen gesprochen hatte, würde er sich eine endgültige Meinung bilden.
Die Frau lächelte. »Sie war . fröhlich, nicht wahr, Hans?« Der Mann nickte wieder und rieb sich eine Träne von der Wange. »Fröhlich und aufgeschlossen und klug.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht klug genug, und dafür zu aufgeschlossen«, fügte sie bitter hinzu. »Sie muss mit jemandem mitgegangen sein. Davon war Kommissar Weber überzeugt.«
»Halten Sie das auch für wahrscheinlich?«, wollte Gruber wissen.
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Wenn sie denjenigen kannte, vielleicht, aber eigentlich . Warum sollte sie sich von ihren Schulkameradinnen trennen und mit irgendwem mitgehen?«
»Und ihre Freundinnen können sich nicht erinnern, wann sie sie zuletzt gesehen haben?«
Die Frau lachte kalt. »Lisa hat gesagt, sie hat sie zuletzt vor der Kaiserpfalz gesehen. Da wollte sie noch zur Toilette. Das war um halb zwölf. Die Kinder waren noch auf dem Rasenplatz vor der Pfalz herumgelaufen. Dann sammelten sich alle und wollten sich auf den Rückweg machen. Die Lehrerin hat dann durchgezählt und festgestellt, dass Maike fehlt. Sie haben eine Weile gewartet, weil Lisa ja gesagt hatte, sie ist zur Toilette. Als sie nach zehn Minuten immer noch nicht wieder da war, ist die Lehrerin wieder rein und zur Toilette gegangen, aber da war Maike nicht. Und dann haben sie gesucht. Immer weitergesucht. In der Kaiserpfalz, vor der Kaiserpfalz, dahinter, daneben, die Straße rauf und runter. Dann haben sie die Polizei angerufen, und danach haben sie mich in der Firma angerufen.« Sie schwieg einen Moment. »Sie haben die Suche ausgeweitet, viele Polizisten haben die Stadt und den Wald abgesucht. Ein Hubschrauber war da, Hunde waren da . und alle Freunde haben geholfen. Die ganze Nacht und die nächsten Tage haben wir gesucht. Jeden Stein umgedreht, Taucher haben die Gewässer durchkämmt . Gefunden haben wir sie nicht. Bis heute nicht.«
Bedrückendes Schweigen breitete sich aus. Gruber erhob sich.
»Ich würde mich gern in Maikes Zimmer umsehen. Geht das?«
Der Mann sah auf und verzog den Mund. »Das haben Ihre Kollegen damals schon durchsucht, ohne dass es was gebracht hätte.«
»Natürlich, aber ich mache mir gern selbst ein Bild.«
»Gehen Sie hoch, die erste Tür rechts, das ist Maikes Zimmer. Wir haben nichts verändert.«
Gruber erklomm die Stufen zur ersten Etage. Niemand begleitete ihn. Maikes Zimmer war ein typisches Mädchenzimmer, obwohl er sich da eigentlich nicht so auskannte. Die Vorhänge waren zugezogen, so als wollte man die Privatsphäre des Kindes schützen, wenn man das Kind selbst schon nicht schützen konnte.
Er betätigte den Lichtschalter. Die Deckenlampe, ein großer weißer Ballon, verteilte warmes Licht im Raum. Die Wände waren weiß gestrichen und mit bunten Kindergemälden beklebt. Kopien dieser Bilder hatte er bereits in der Akte gesehen. Weber hatte sich in diesem Fall selbst übertroffen und sie sogar einem Psychologen vorgelegt, der aber nichts Aufschlussreiches dazu hatte sagen können. Den Motiven und der Farbwahl zufolge sei Maike ein fröhliches, aufgeschlossenes Kind.
Aber für diese Erkenntnis brauchte man kein psychologisches Gutachten, das war für jeden Betrachter offensichtlich, und alle Zeugen hatten Maike so beschrieben. Sie hatte Farben geliebt. Vor allem Grün in allen Schattierungen. Ihr Lieblingsmotiv waren Wiesen, auf denen sich Hunde und Pferde tummelten. Auch Menschen hatte Maike gemalt, ihre Eltern, ihren kleinen Bruder und sie selbst Hand in Hand vor einer Pferdekoppel. Zu ihren Füßen ein kleiner schwarzer Hund. Maike hatte sich wie die meisten Kinder einen Hund gewünscht, aber die Familie hatte nie einen besessen. Vielleicht hatte ein Hund bei ihrem Verschwinden eine Rolle gespielt, ging es Gruber durch den Kopf.
Auf dem Schreibtisch lagen verstreut Schulhefte und -bücher, Buntstifte, zwei Barbiepuppen und ein braunes Plastikpony mit langer weißer Mähne. Neben dem Bett, über das ein Moskitonetz gespannt war, war liebevoll ein Playmobil-Bauernhof mit Pferden, Kühen, Schweinen und Hühnern aufgebaut. So was gab es doch eigentlich gar nicht mehr, oder doch? Bestimmt waren hier Bilderbücher der Bauplan gewesen. Bilderbücher. Auch vom Aussterben bedroht, aber in dem Holzregal neben dem Kleiderschrank standen welche. Die meisten waren Tiergeschichten, auch ein reich bebildertes Buch mit den klassischen Märchen war vorhanden. Sie alle wiesen Gebrauchsspuren auf. In diesem Haus wurde den Kindern vorgelesen.
Gruber wandte sich ab. Er hatte genug gesehen, war traurig und wütend zugleich. Hier lebte oder hatte ein gesundes, glückliches Kind in einer intakten Familie gelebt. Das jedenfalls war sein Eindruck. Und dann hatte das Schicksal grausam zugeschlagen. Er löschte das Licht und ging hinunter. Mutter und Vater saßen immer noch im Wohnzimmer. Der Mann brütete vor sich hin, die Frau blickte versonnen aus dem Fenster.
Gruber räusperte sich. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, und ich versichere Ihnen, wir geben nicht auf. Die Akte liegt auf meinem Schreibtisch, und dort bleibt sie auch, bis der Fall gelöst ist.«
Die Frau sah ihn freudlos, aber auch dankbar an und stand auf. An der Haustür drückte sie ihm die Hand.
»Finden Sie Maike. Bitte. Wenn sie tot ist, dann werden wir damit fertig. Aber mit dieser Ungewissheit zu leben ist schrecklich....
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