Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
ZWEI
Eastbourne, Südengland, vier Tage zuvor
Matthew King war regelmäßig am Samstagmorgen Gast am Frühstückstisch von Prentiss Bolton-Smythe, dem Pfarrer des kleinen Ortes Beecock an der Küste von East Sussex. Dieser und seine Frau Harriet sahen es als Christenpflicht an, dem armen kranken Mann, dem eine Bombe der IRA den linken Arm weggerissen und der in schweren Zeiten seinem Land so tapfer gedient hatte, ein Mal in der Woche ein opulentes englisches Frühstück zu servieren. Matt brauchte immer zwei Stunden, um den gut gefüllten Teller zu leeren, wobei man das Gefühl hatte, dass er sich zwingen musste, das reichhaltige Essen und vor allem den Tee hinunterzubekommen.
Harriet wurde das Gefühl nicht los, dass Matt das Frühstück so lange hinauszögerte, bis er reinen Gewissens nach einem Bier verlangen konnte. Meistens wurden auch zwei daraus, denn Harriet brachte es nicht übers Herz, dem Mann diese bescheidene Bitte abzuschlagen. Nachdem er dann bis zum frühen Nachmittag an Harriets Tisch in ihrem mit Häkeldecken überfrachteten Esszimmer gesessen und bereits ein erstes Mittagsschläfchen hinter sich gebracht hatte, begleitete Harriet ihren Gast im Verein mit einer »guten Tasse Tee«, die wahrscheinlich in der Toilette landen würde, wieder in seine Wohnung zurück. Harriet schüttelte sich jedes Mal, wenn sie die Wohnung betrat.
Matt war zwar ein stiller, gutmütiger Mensch, aber er weigerte sich vehement, jemanden in seiner Wohnung putzen zu lassen. Ihn störe das bisschen Schmutz nicht, pflegte er zu sagen, wobei Harriet nicht von einem bisschen Schmutz reden würde, sondern von einer Mülldeponie. Wenn Daisy Henderson, ihre Freundin vom Women's Institute, sie besuchte, beschwerte sie sich jedes Mal über den muffigen Geruch nach kaltem Rauch aus dem oberen Stockwerk und erinnerte Harriet an ihre Pflicht als Vermieterin.
»Du musst dafür sorgen, dass dieser Saustall ausgemistet wird, Harriet. Und vor allem musst du diesem Menschen das Rauchen hier im Haus untersagen. Am Ende fackelt der euch hier alle noch ab. Wo soll denn das hinführen, wenn du nicht mal mit so einem alten Säufer fertigwirst?«
Harriet musste Daisy in diesem Punkt recht geben. Sie hatte Probleme, sich gegen ihre Mitmenschen durchzusetzen. Mit solchen, die friedfertiger Natur waren und die anderen nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden ließen, kam sie wunderbar zurecht. Aber mit jenen, die sich ständig einmischten und sich einbildeten, sie hätten für alles eine Lösung und würden alles besser machen - mit anderen Worten: solchen wie Daisy Henderson -, kam sie einfach nicht klar.
Die passenden Antworten auf Daisys Unverschämtheiten fielen Harriet immer erst ein, nachdem sie sich eine Weile im stillen Kämmerlein darüber aufgeregt hatte. Was hatte sie nicht schon alles versucht. Sogar ein Seminar in Eastbourne über Rhetorik hatte sie besucht. Heimlich natürlich, ohne Daisy etwas zu sagen.
Genützt hatte es wenig. Ja, ein paar nette Tipps hatte die Leiterin ihren Seminarteilnehmern mit auf den Weg gegeben. Sich bestimmte Repliken zurechtzulegen, die man dann bei Bedarf abrufen konnte. Zum Beispiel auf eine unverschämte Frage mit einer Gegenfrage zu antworten, anstatt brav Auskunft zu geben, wie man das als höflicher Mensch gewöhnt war. Guter Tipp, er funktionierte bloß nicht, weil Harriet solche Dinge immer erst dann einfielen, wenn sie schon artig geantwortet beziehungsweise sich für irgendetwas entschuldigt hatte. Es war wie ein Reflex. Das war ihr Problem, sie war einfach zu höflich. Aber musste die Frau eines Pfarrers nicht höflich sein?
Harriet folgte ihrem Untermieter geduldig die Stufen hinauf zu seiner Wohnung. Der Becher Tee in ihrer Hand war nur etwas mehr als halb voll, damit sie auf der Treppe, die mit flauschigem dunkelgrünen Teppichboden ausgelegt war, nichts verschüttete. Allerdings konnte sie sich diese Vorsichtsmaßnahme in Zukunft sparen, denn Matt hatte in seinem Hirn die Bedeutung von einem Fußabtreter nicht abgespeichert. Und er lief grundsätzlich in diesen alten Armeetretern herum, in deren Profil sich jeder Kiesel vom Strand festtrat, und nicht nur die Kiesel. Harriet hatte manchmal das Gefühl, dass Matt bewusst jeden einzelnen Hundehaufen ansteuerte, den er finden konnte.
Es war unfassbar, dass immer noch Menschen die Hinterlassenschaften ihrer Vierbeiner einfach liegen ließen. Wo das doch mittlerweile eine empfindliche Geldbuße nach sich zog. Aber wer kümmerte sich heutzutage noch um Gesetze. Diebstahl war auch verboten, hielt das die Taschendiebe vielleicht davon ab, alten, hilfsbedürftigen Damen die Handtaschen zu klauen?
Oder schlimmer: Gesetze und harte Strafen verhinderten ja nicht mal, dass Menschen umgebracht wurden. Das hatten sie vor nicht allzu langer Zeit auch in Beecock schmerzlich erfahren müssen, als einer der ihren einen der ihren ins Jenseits befördert hatte. Aber das war eine andere Geschichte.
Harriet betrat die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung mit der Miniküche, in der Matt in den zwei Jahren, in denen er nun schon hier wohnte, mit Sicherheit noch keine sechzig Minuten verbracht hatte. Sie stellte die Tasse auf die kleine Kommode im Flur und schob dabei einen randvoll mit filterlosen Kippen gefüllten Aschenbecher zur Seite, warf einen kurzen, leidvollen Blick auf die vergilbte Rosentapete und nickte Matt zu, der in der Wohnungstür stehen geblieben war, um diese zu schließen, wenn Harriet seine Wohnung verlassen hatte. Nicht gerade eine subtile Art, seiner Vermieterin zu zeigen, dass sie unerwünscht war.
Was macht der Mensch bloß den ganzen Tag?, fragte sich Harriet auf dem Weg nach unten. Manchmal hörte sie ihn weggehen, meistens war er dann auf dem Weg zum Foxhole Inn, dem örtlichen Pub. Dort verbrachte er viele Stunden, manchmal fuhr er auch mit dem Bus nach Eastbourne und kam mit einer Einkaufstüte vom dortigen Tesco zurück. Wenn er von der Haltestelle zum Pfarrhaus ging, schlenkerte sein linker Jackenärmel wie ein ausgedienter Schlauch um seinen ausgemergelten Körper. Warum er allerdings bis nach Eastbourne fuhr, um sich mit Schnaps einzudecken, das war Harriet ein Rätsel. Es gab in Beecock einen Aldi, da war der Schnaps bestimmt billiger. Aber vielleicht legte er in dieser Beziehung ja Wert auf Qualität und setzte teurer mit besser gleich.
Aber Harriet wollte sich darüber jetzt keine Gedanken machen. Sie musste noch die Reisetasche packen, bevor sie zum WI-Treffen ging. Und morgen früh, gleich nach dem Frühstück, würde sie zum Lake District aufbrechen, um ihre Schwester Lydia zu besuchen, die heute aus dem Krankenhaus zurückkommen würde. Sie hatte sich einer Blinddarmoperation unterziehen müssen und Harriet gebeten, ihr ein paar Tage Gesellschaft zu leisten, da sie sich noch recht schwach fühle. Harriet schnaubte in sich hinein. Lydia brauchte weniger die Gesellschaft ihrer Schwester als jemanden, den sie herumkommandieren konnte.
Aber konnte man eine solche Bitte abschlagen? Nein, fand Harriet, sie, die Frau des Pfarrers, konnte das nicht. Und wenn sie ehrlich war, fuhr sie ganz gerne mal in den Norden. Das Seengebiet war traumhaft schön - wenn es dort bloß nicht so oft regnen würde. Hier in Südengland waren sie da besser dran. Eigentlich hatte sie schon gestern aufbrechen wollen, aber heute war ja das Treffen vom Women's Institute. Daisy hatte es anberaumt, weil sie wieder irgendeine karitative Sammlung initiiert hatte.
Diesmal wollte sie ein Cricketspiel zwischen dem Männergesangsverein Beecock und dem Segelclub von Seaford auf die Beine stellen. Harriet hatte heftige Zweifel, dass die Herren sich dazu bereit erklären würden. Wenn, dann wahrscheinlich nur, um dem Zorn von Daisy Henderson zu entgehen. Aber im Grunde war es Harriet egal, womit sich die Männer beschäftigten, von ihr aus auch mit einem Spiel, dessen Regeln sie nie verstanden hatte und bestimmt auch nie verstehen würde.
Und das ging vielen Leuten so. Nicht mal Prentiss hatte sie begriffen. Nun, das war nicht weiter verwunderlich. Harriet sah auf die Uhr und beschleunigte ihre Schritte. Sie würde zu spät kommen, und das hatte Daisy gar nicht gerne. Immerhin, Erin war da und würde Daisy bremsen. Harriets Gesicht entspannte sich.
Das war das wirklich Gute an den Treffen des WI, dass sie in Erin Roberts Tea Room stattfanden. Sie backte herrliche Scones und hatte immer so ausgefallene Rezepte für ihre Sandwiches. Nicht dieses Hühnchen-Bacon-Thunfisch-Einerlei. Bei ihr gab es Avocadocreme und dieses komische Tofuzeugs. Okay, das war jetzt nicht der Brüller gewesen, aber neulich hatte sie Sushi gemacht, nachdem sie in Eastbourne bei einem japanischen Koch einen Kurs besucht hatte. Harriet hätte nie vermutet, dass ihr das schmecken würde, aber sie fand es köstlich. Neben ihren Kochkünsten hatte Erin Humor und war nett anzusehen. Außerdem wurde sie mit Daisy fertig.
Das kleine Glockenspiel an der Eingangstür des Tea Rooms bimmelte so leise, dass es das Stimmengewirr der achtzehn bereits versammelten Frauen nicht übertönte.
Erin stand hinter dem Tresen und goss Wasser in bauchige Porzellankannen. Doris Martin, die Erin oft und gerne aushalf, bahnte sich mit vollen Tabletts ihren Weg zwischen den Vierertischen hindurch und verteilte Tee, Kaffee und Sandwiches. Daisy saß mit Phoebe Appleton und Holly Dalton, der die Boutique in der King's Road gehörte, zusammen. Kaum hatte sie Harriet erblickt, winkte sie sie mit beiden Händen heran.
»Harriet, da bist du ja endlich, wir warten nur auf dich! Nun beeil dich mal, damit wir anfangen können.«
Harriet zog unwillkürlich den Kopf ein, tat wie ihr geheißen, und ließ sich auf den...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.