Schweitzer Fachinformationen
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In seiner letzten Nacht in der Wohnung an der Worth Street fand Will ganz unten in einer Ablagebox mit alten Werbebriefings, die er gerade wegwerfen wollte, die Schneekugel. Er schüttelte sie und sah zu, wie die weißen Flocken im Glas herumwirbelten und ein Schneesturm über ein Mini-New-York fegte. Vor langer Zeit hatte er sie für einen Glücksbringer gehalten. Aber an das Glück glaubte er schon lange nicht mehr.
Er packte zu Ende und zog seine Joggingklamotten an. In letzter Minute steckte er die Schneekugel in die Tasche seiner Shorts und trat hinaus in die schwüle New Yorker Sommernacht. Seine übliche Strecke führte ihn um den Columbus Park, aber heute bog er links in die Lafayette Street Richtung Fluss ab.
Er war außer Atem, als er mitten auf der Brooklyn Bridge kurz haltmachte und einen Blick zurück auf Manhattan warf. Die glitzernde Skyline war nicht dieselbe wie in der Schneekugel. Sie stammte aus einer Zeit, als die Twin Towers noch die Stadt überragten.
Will hatte das Gefühl, er müsse diesem Augenblick irgendwie Bedeutung verleihen. Vielleicht seine Faust in die Luft recken oder ein Träne verdrücken, aber er hatte seit Jahren nicht mehr geweint, und abgesehen davon waren hier zu viele Menschen unterwegs. Also zog er die Schneekugel aus seiner Tasche, beugte sich über das Geländer und hielt sie über das dunkle Wasser, in dem sich die Lichter spiegelten.
Am nächsten Morgen schaltete Will auf Autopilot, als wäre es eine ganz gewöhnliche Reise. Er prüfte, ob der Kühlschrank ausgeschaltet und die Fenster abgesperrt waren. Die Bedienungsanleitungen für die Klimaanlage, den Alarm und die Heizung lagen auf dem Tisch. Alles ging gut, bis er ins Foyer kam. Dort saß Carlos, der Portier, hinter dem Schreibtisch, und Will erinnerte sich daran, wie er Julias Namen immer ausgesprochen hatte, als begänne er mit einem H.
»Ist Alice schon auf dem Weg?« Carlos warf einen Blick zum Lift.
»Nein«, Will räusperte sich, »sie war für ein paar Wochen im Urlaub mit ihrer Großmutter. Ich hole sie am JFK ab.«
»Sagen Sie ihr hasta luego von mir. Dann sehe ich euch also wieder, oder? Sie sind nur für ein Jahr weg, nicht wahr?«
»Erst mal für ein Jahr.« Will steckte den Wohnungsschlüssel in einen Umschlag und klebte ihn zu. »Länger, wenn alles gut geht.«
»Sie sehen ein bisschen blass aus, Will. Brauchen Sie ein Glas Wasser?« Carlos legte besorgt die Stirn in Falten.
»Danke, es geht mir gut.« Will schüttelte ihm die Hand, sah sich ein letztes Mal um und trat hinaus.
Seine Tochter und seine Schwiegermutter warteten in der Halle für Inlandsflüge von Delta in Terminal 4. Maggie hatte Farbe bekommen, aber Alice' Gesicht war unter ihrem ohnehin schon totenbleichen Make-up noch blasser. Sie sah ihn zur Begrüßung nur düster an, drehte sich weg und nahm ihre Großmutter fest in den Arm.
»Hab dich lieb, Großmutter!« Ihre Stimme klang leise, wurde aber härter, als sie sich löste und zu Will sagte: »Ich hol mir einen Kaffee. Ich brauche fünf Dollar.«
»Ich begleite dich«, sagte Will.
Sie warf ihre blonden Haare mit den blassrosa Dip-Dye-Spitzen zurück und funkelte ihn an. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Aber wir haben wirklich kaum Zeit. Wir müssen ins andere Terminal«, erklärte er, »und durch den Zoll. Ich hole dir einen Kaffee, wenn wir eingecheckt haben.«
»Ich hol ihn mir selber. Großmutter hat mir Geld gegeben.«
Sie sahen ihr hinterher. Sie hatte die Fäuste in die Taschen ihrer sehr kurzen Jeans-Shorts geschoben, und in ihrer Strumpfhose war eine Laufmasche.
»Ist das ein Modestatement oder ein Versehen?« Maggie runzelte die Stirn.
»Frag mich nicht«, seufzte Will.
»Es ist doch ganz logisch, dass sie durcheinander ist«, sagte Maggie forsch. »Sie ist nur gereizt, Will, ihr geht's bald wieder gut«, sie strich über sein Revers, »und dir auch. Dublin wird euch beiden guttun.« Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und drückte sie, dann wandte sie leicht den Kopf, um eine Durchsage besser verstehen zu können. »Ich glaube, das ist mein Flug. Ich gehe besser mal rüber.«
Will zählte vier Cafés in der Abflughalle, fand aber Alice nirgendwo. Er rief sie an, doch sie ging nicht dran. Er spürte dieselbe Panik, die ihn immer ergriffen hatte, als sie noch klein gewesen war und sich in einem Laden davongestohlen hatte. Aber jetzt war sie fünfzehn, aber - und in diesem Punkt hatte sie unrecht - immer noch ein Kind.
Er zwang sich zurückzugehen und noch mal nach ihr zu suchen, und fand sie im letzten Café. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden neben einer Sitzbankreihe, hatte den Kopf gesenkt und blätterte in einer Graphic Novel.
»Alice! Ich hab dich überall gesucht! Wir sind spät dran!«
Sie zuckte mit den Schultern und nahm einen winzigen Schluck aus ihrem Pappbecher. »Ich muss noch meinen Kaffee austrinken.«
Nicht eskalieren lassen, sagte er sich. Cool bleiben. Er nahm ihre Hand, und sie ließ sich widerwillig hochziehen. Er versuchte, sie in Bewegung zu setzen, aber sie blieb beharrlich stehen.
»Dad«, sagte sie eindringlich, »wir müssen das nicht machen. Wir müssen hier nicht weg.« Mit großen Augen und flehendem Blick sah sie zu ihm auf. »Ich mache keinen Ärger mehr. Ich werde ganz brav sein. Versprochen. Können wir einfach wieder zurück in die Wohnung?« Tränen hingen wie winzige Diamanten an ihren langen schwarzen Wimpern. »Bitte.«
»Jetzt ist alles organisiert, Alice«, sagte Will sanft. »Das weißt du.«
Eigentlich war er der Meinung, dass er es ganz gut hinkriegte. Als alleinerziehender Vater hatte er alles gegeben. Alice war immer seine erste Priorität, und sie hatte es ihm leicht gemacht. Sie war so ein liebes kleines Mädchen gewesen, bis sie letztes Jahr in die Mittelstufe gekommen war. Plötzlich hatte sie sich völlig verändert. Fast über Nacht. Der Punkt war, dass Will genau dasselbe schon einmal erlebt hatte, und zwar mit seiner kleinen Schwester.
Vielleicht war es schrittweise geschehen, aber Will hatte es nicht so empfunden. Im einen Augenblick schlief Alice noch mit ihren Stofftieren im Bett und las Harry Potter, im nächsten färbte sie sich die Haare, ließ sich ein Zungenpiercing stechen und strich die Wände ihres Zimmers schwarz.
Okay, hatte er gedacht, sie sucht nach Ausdrucksmöglichkeiten, das muss ja schließlich erlaubt sein. Nichts, weshalb man sich Sorgen machen muss. Dann hatte er einen Anruf von ihrer Lehrerin bekommen, weil in der Schule eine teure Uhr gestohlen und im Schrank seiner Tochter gefunden worden war.
Alice sagte, sie habe keine Ahnung, wie sie dort hingekommen sei, und er glaubte ihr. Doch dann wurde sie an Weihnachten festgenommen, weil sie in einer Drogerie Parfum geklaut hatte. Glücklicherweise hatte der Besitzer Mitleid und erhob keine Anklage. Aber als Will ihr Zimmer durchsuchte, fand er Klamotten, Videospiele und Make-up im Wert von mehreren Hundert Dollar. Fast alles war noch verpackt und unbenutzt. Was ging da vor sich?
Alice knickte ein, gab zu, dass sie alles gestohlen hatte, versprach, damit aufzuhören, und sie bekam Hausarrest. Dann war sie im darauffolgenden April mit einer Flasche Wodka im Rucksack erwischt worden, und die Schule teilte ihm schriftlich mit, dass sie bei einem weiteren Vorfall im Herbst nicht mehr zugelassen würde.
Will wusste, dass eine drastische Maßnahme nötig war. Er hatte mit Maggie darüber gesprochen, nach Florida zu ziehen, um näher bei ihr zu sein. Aber als die Stelle im Dubliner Büro seiner Werbeagentur frei wurde, überredete sie ihn, sie anzunehmen.
»Ich glaube, Irland ist besser für sie. Du solltest deine Wohnung untervermieten; versuch es doch mal für ein Jahr. Du hast da drüben deine Schwester und deren Kinder. Einen Cousin in ihrem Alter. Teil einer großen Familie zu sein, könnte genau das sein, was sie braucht.« Seine Tochter jedoch hatte sich heftig gewehrt.
Auf dem sechsstündigen Flug von New York nach Dublin sprach Alice kein einziges Wort mit ihm. Aber zehntausend Meter über Neufundland schlief sie mit einem Magazin auf dem Schoß und ihrem Kopf an seiner Schulter ein. Er saß völlig reglos da, als wäre ein kleiner Wildvogel auf seiner Hand gelandet, spürte das Auf und Ab ihres Atems, ihre kleine Ohrmuschel an seinem Schlüsselbein, und er schöpfte Hoffnung, dass Maggie recht behalten und Dublin ihr guttun würde.
In der Ankunftshalle am Dubliner Flughafen brauchte Will ein paar Sekunden, bevor er seine Schwester erkannte. Er hatte damit gerechnet, dass Gemma sich noch so kleidete wie in ihrer Jugend: als wäre sie gerade auf dem Weg zu einem Maskenball - ein Bleistiftrock mit gestreiftem T-Shirt und Barett, ein Reiterjackett und Reiterstiefeletten oder im ausgefransten Pocahontas-Kleid und mit geflochtenen Haaren.
Aber die kleine Frau, die auf der Stelle tanzte und ein handgemaltes Schild schwenkte, trug einen weiten Pulli und Jeans, ihre kurzen Haare steckten unter einer Baseballcap. Auf dem Schild verkündeten krakelige grüne Buchstaben: »Willkommen zu Hause Alice und Onkel W«. Onkel W? Gemma schwenkte es über ihrem Kopf und drehte es dann um, sodass die Rückseite zu sehen war, auf der stand: »-ill«. Sie schlüpfte unter dem Metallgeländer hindurch und warf sich in seine Arme. Wie fast jedes Mal staunte er, wie zierlich und leicht seine kleine Schwester war.
»Lass dich anschauen.« Sie trat einen Schritt zurück, die Hände immer noch auf seinen Schultern....
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