1. KAPITEL
Vier Monate später
Britische Militärbasis
Donnerstag, 6.15 Uhr
Die aufgehende Sonne färbte den Himmel pink und den Sand golden. Kit rieb sich die schmerzenden Augen, ließ den Blick über die Wüste schweifen und fragte sich, ob er morgen noch am Leben sein würde.
Geschlafen hatte er eine Stunde, vielleicht zwei, und von Sophie geträumt. Beim Aufwachen pulsierte noch unerfülltes Verlangen durch seinen Körper. Seine Gedanken rasten, und fast meinte er, den Duft ihrer Haut riechen zu können.
Beinahe war ihm seine Schlaflosigkeit lieber.
Fünf Monate. Zweiundzwanzig Wochen. Einhundertundvierundfünfzig Tage. Eigentlich hätte seine Sehnsucht mittlerweile verblassen müssen, aber sie schien sogar noch stärker geworden zu sein. Angerufen hatte er Sophie nie, obwohl der Wunsch, ihre Stimme zu hören, heiß wie Feuer in ihm brannte. Doch er wusste genau, dass mit dem ersten Wort aus ihrem Mund, die Flammen nur noch höher emporlodern würden. Und gleichzeitig wusste er, dass es nichts gab, was sie einander mit sechstausend Meilen zwischen sich sagen konnten, um sein Leid zu lindern.
Nur noch ein Tag.
In vierundzwanzig Stunden würde er nach Hause fliegen. Unter den Männern seiner Einheit herrschte eine gewisse Aufregung, eine Mischung aus Erleichterung und Hochgefühl.
Kit teilte diese Gefühle nicht.
Seit vielen Jahren arbeitete er bei der Bombenentschärfung. Es war nur ein Job, nichts anderes, ein schmutziger, unangenehmer und sehr anstrengender, aber notwendiger Job. Allerdings stammte diese Einschätzung noch aus der Zeit, als er mehr gedacht als gefühlt hatte. Damals hatte er seine Emotionen so tief in sich vergraben, dass er gar nicht mehr wusste, ob er überhaupt noch etwas empfand.
Nun hatte sich alles geändert. Er hatte keine Ahnung, wer er war - diesen Umstand hatte er vor allem den Lügen des Mannes zu verdanken, den er sein bisheriges Leben für seinen Vater gehalten hatte. Dazugewonnen hingegen hatte er die Liebe zu Sophie. Dank ihr hatte er ihm bislang gänzliche unbekannte Seiten an sich kennengelernt. Und jetzt kam ihm sein Job viel schmutziger vor, viel mehr schien auf dem Spiel zu stehen - und die Chance zu überleben schien viel geringer zu sein. Sehr viel geringer.
Noch ein Tag. Würde sein Glück anhalten?
"Major Fitzroy . Kaffee, Sir. In wenigen Minuten sind wir marschbereit."
Kit wandte sich um. Gefreiter Lewis kam mit einem Kaffeebecher in den Händen auf ihn zu, ein ernster, ein wenig unbeholfener Junge von neunzehn Jahren. In seiner Gegenwart fühlte Kit sich uralt. Er nahm die Tasse entgegen, trank einen Schluck und verzog das Gesicht.
"Danke, Lewis", murmelte er. "Andere Männer bekommen ihren Kaffee von kurvigen Sekretärinnen gebracht. Ich hingegen habe Sie, der mir etwas anschleppt, was wie frisch aufgebrühter Schlamm schmeckt."
Lewis grinste. "Sie werden mich vermissen, wenn Sie nach Hause kommen."
"Das bezweifle ich." Kit nahm noch einen Schluck und schüttete den restlichen Kaffee auf den Boden. Dann setzte er sich in Bewegung. "Glücklicherweise sind Sie ein besserer Infanterist als ein Barista. Vergessen Sie das nicht, wenn Sie nach Hause kommen", rief er dem jungen Mann über die Schulter hinweg zu.
"Ja, Sir!" Lewis eilte ihm nach. "Ich möchte Ihnen noch sagen, wie großartig es war, mit Ihnen zu arbeiten, Sir. Ich habe so viel gelernt. Bevor ich zu Ihrer Einheit kam, war ich nicht sicher, ob ich überhaupt in der Armee bleiben möchte. Jetzt habe ich mich entschieden, mich bei der Bombenentschärfung zu verpflichten."
Kit blieb stehen. "Haben Sie eine Freundin, Gefreiter?"
Von einem Fuß auf den anderen trippelnd, schwankte Lewis' Miene zwischen Stolz und Verlegenheit. "Ja. Sie heißt Kelly. In zwei Monaten kommt unser Kind zur Welt. Sobald wir uns wiedersehen, werde ich ihr einen Heiratsantrag machen."
"Lieben Sie sie?"
"Ja, Sir. Wir kennen uns noch nicht lange, aber . ja, ich liebe sie wirklich."
"Dann lassen Sie mich Ihnen einen guten Rat geben. Lernen Sie, einen anständigen Kaffee zu kochen und suchen Sie sich einen Job bei Starbucks, denn Liebe und das Entschärfen von Bomben passen nicht gut zusammen." Lächelnd reichte Kit dem jungen Mann die leere Tasse. "Schön, rücken wir aus und bringen es hinter uns."
"Tut mir leid, dass ich so spät komme."
Grinsend bahnte Sophie sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch und ließ sich Jasper gegenüber auf einen Stuhl fallen.
Misstrauisch beäugte er ihre Einkaufstüten. "Wie ich sehe, warst du leider unabkömmlich ." Er zog die Augenbrauen hoch, als sein Blick auf das diskrete Logo eines bekannten Geschäfts für erotische Dessous fiel. "Kit steht eine angenehme Überraschung bevor."
Hastig schob sie ihre Tüten unter den Tisch und bemühte sich, endlich aufzuhören, wie ein verschossener Teenager zu grinsen.
"Zumindest habe ich eine ziemlich unanständige Summe ausgegeben", gab sie zu, schob die Sonnenbrille in ihr Haar und griff nach der Karte. Der Tisch, den Jasper ausgewählt hatte, stand im Schatten einer roten Markise, die seiner poetischen Blässe ein gesundes Leuchten verlieh. Er und Kit waren so verschieden, es war unglaublich, dass sie so lange geglaubt hatten, Brüder zu sein.
"Für ziemlich unanständige Klamotten, ich kenne den Laden." Jasper schielte in die Tüte.
"Es ist nur ein Nachthemd", erwiderte Sophie rasch und hoffte, er würde nicht den dazu passenden winzigen Slip aus silber-grauer Seide herausholen und den Gästen im Restaurant präsentieren. "Ich kam zufällig an dem Geschäft vorbei und habe gerade die Gage für diesen Vampirfilm bekommen, und Kit kommt morgen nach Hause, und da dachte ich . Was soll's? Eigentlich war es viel zu teuer."
"Unsinn. Die Tage, in denen du Klamotten auf Flohmärkten und Brot vom Vortag kaufen musstest, sind vorbei." Er blickte sich nach einem Kellner um. "In ein paar Stunden ist dein Leben als Single wieder vorbei, und du verwandelst dich in eine hauptberufliche Verlobte. Planst du noch ein paar wilde Partys?"
"Die spare ich mir für Kit auf, wenn er in ." Sie schaute auf ihre Armbanduhr. ". in achtundzwanzig Stunden nach Hause kommt. Mal sehen . dort drüben sind sie uns fünf Stunden voraus, also sollte er seine Schicht ungefähr jetzt beenden."
Jasper musste den ängstlichen Unterton in ihrer Stimme gehört haben, denn er nahm tröstend ihre Hand. "Denk nicht daran", sagte er. "Du hast dich fantastisch gehalten. Ich wäre vor Sorge verrückt geworden, wenn Sergio Kits Job hätte. Du bist sehr tapfer."
"Nicht im Vergleich zu Kit." Plötzlich fühlte ihr Mund sich ganz trocken an. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Kit jetzt aussah: verschwitzt, schmutzig, erschöpft. Fünf Monate hatte er sich um ein Bataillon Männer gekümmert, hatte ihre Bedürfnisse über seine gestellt. Sie wollte nur noch, dass er nach Hause kam, damit sie sich endlich um ihn kümmern durfte.
"Sophie?"
"Was? Tut mir leid." Sie blickte auf und sah einen Kellner mit gezücktem Stift an ihrem Tisch stehen. Eilig bestellte sie einen Salat Niçoise, weil er an erster Stelle auf der Karte stand.
"Kit versteht sein Handwerk", murmelte Jasper abwesend, während er dem Kellner verträumt nachschaute. "Seit Jahren tut er nichts anderes. Wie geht es ihm denn?"
"Oh . weißt du . er klingt okay", flunkerte sie. "Aber jetzt möchte ich alles über dich hören. Habt ihr alles für die Reise nach Hollywood gepackt?"
Jasper lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. "Wir sind noch nicht ganz fertig, aber ich habe mich noch nie in meinem Leben zu etwas bereiter gefühlt. Nach allem, was in den vergangenen sechs Monaten passiert ist . Dad ist gestorben, ich hatte mein Coming-out, Alnburgh gehört mir und nicht Kit . ich kann es kaum erwarten, in ein Flugzeug zu steigen und alles hinter mir zu lassen. Die nächsten drei Monate werde ich nichts anderes tun, als am Pool zu liegen und Cocktails zu schlürfen, während Sergio arbeitet."
"Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du versuchst, mich eifersüchtig zu machen!"
"Ertappt." Jasper schenkte dem Kellner ein Lächeln, der sich gerade wieder mit einem Tablett ihrem Tisch näherte. "Funktioniert es?"
"Nein." Der Kellner stellte ein hohes Glas mit Gin Tonic vor sie, in dem leise Eiswürfel klirrten. "Pool und Cocktails klingen großartig, aber zum ersten Mal in meinem Leben verspüre ich nicht den Wunsch, woanders zu sein. Na ja, nicht direkt hier." Sie nickte und meinte damit das Restaurant. "Aber zu Hause. Mit Kit."
Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, musterte Jasper sie und tippte mit einem Finger nachdenklich auf seine Unterlippe. "Entführung durch Außerirdische - das muss die Ursache für diese Veränderung sein! Früher wolltest du nicht einmal ein Handy mit Vertrag, weil das zu viele Verpflichtungen mit sich brachte. Jetzt bist du eine Frau, der es Spaß macht, Wäsche zu waschen! Mir fällt einfach kein anderer Grund ein."
"Liebe", erwiderte Sophie. "Und vielleicht auch...