Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Zug fährt auf Gleis 13 ein.
«Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Hamburg Hauptbahnhof. Aufgrund von Behinderungen durch störrische Jugendliche im Einstiegsbereich hat unser Zug zurzeit eine Verspätung von acht Minuten. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass trotzdem alle Anschlusszüge erreicht werden. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung links.»
Die Stimme aus dem Lautsprecher klingt knarzig, aber hoch motiviert.
«Mama, was haben die Jugendlichen denn gemacht? Wieso sind die störrisch?»
Ich stehe im Gang zwischen gutgefüllten Sitzreihen und klaube geschäftig Jacken, Kinderrucksäcke, Verpflegungstasche und meinen Reiserucksack zusammen. Anschließend helfe ich meiner siebenjährigen Tochter Anni in die Jacke. Damit es schneller geht. Zumindest ist dies das Ziel meiner Anstrengungen.
«Schatz, die haben wohl zu lange im Eingang rumgelungert, und der Zug konnte nicht weiterfahren. Und jetzt zieh bitte, bitte deine Jacke an, der nächste Zug wartet nicht auf störrische Kinder!»
Natürlich halten meine Bitten Anni nicht davon ab, mich weiter mit Fragen zu traktieren. Und aus Erfahrung weiß ich, Anziehen und Reden funktionieren bei Anni nicht gleichzeitig. Wie so oft in letzter Zeit werde ich ungeduldig. «Nun mach schon, der Zug wartet nicht auf uns!»
«Warum haben die da rumgelungert?»
«Das machen Jugendliche schon mal. Jetzt, bitte, hier, nimm deinen Rucksack!»
«Wieso machen Jugendliche das?»
Ich verdrehe die Augen und schiebe ihr den Rucksack unsanft über die dicke Winterjacke. Annis zehnjährige Schwester Ella steht bereits seit Minuten fix und fertig im Gang und zerrt nun ebenfalls genervt an ihrer Schwester.
«Boah, jetzt hör auf zu quatschen. Wir müssen aussteigen!»
«Lass mich in Ruhe, ich zieh mich doch an. Immer meckert ihr mit mir rum.»
Noch eine Sekunde, und die Anni-Sirene geht los. Das kann ich gerade wirklich nicht gebrauchen.
Der Zug steht mittlerweile im Bahnhof, und vor und hinter uns schieben sich die aussteigewilligen und vollbepackten Mitreisenden dem Ausgang entgegen.
«Ruhe», zische ich mit letzter Beherrschung zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, «raus jetzt, los!»
«Ich habe überhaupt nichts gemacht, immer meckerst du mit mir rum. Das ist so unfair», beschwert sich Ella, ganz der Teenager, der sie im Begriff ist zu werden, setzt sich jedoch immerhin in Bewegung. Anni, dem Himmel sei Dank, tut es ihr nach. Meinen schweren Rucksack auf dem Rücken, mit dem ich kaum durch den schmalen Gang passe, dirigiere ich die beiden zum Ausgang und kann es kaum glauben. Wir stehen tatsächlich auf dem Bahnsteig.
Anni vergisst nichts - nie!
«Weil Jugendliche manchmal denken, sie können sich alles erlauben, weil Jugendliche manchmal nicht ganz richtig ticken und - ach, ist doch auch egal. Auf DIE Zeit mit euch freue ich mich schon! Los, hier lang, beeilt euch! Wir müssen auf Gleis 6. Noch drei Minuten. Wenn wir uns nicht beeilen, ist der Zug weg!»
Endlich wird meinen Kindern bewusst, dass uns die Zeit davonläuft. Anni vergisst sogar, mich mit weiteren Fragen auf Trab zu halten.
«Ich will den Zug nicht verpassen, Mama, ich will nicht!»
«Dann lauf!»
Ich scheuche die Kinder vor mir her. Mittlerweile bin ich trotz Temperaturen nahe am Gefrierpunkt schweißgebadet. Wir hetzen den Bahnsteig entlang, hieven uns auf die Rolltreppe, laufen so schnell wie möglich mit der Treppe mit und eilen anschließend durch die Menschenmasse, die sich oben auf der Galerie an den Treppenaufgängen vorbeischiebt.
«Anni, an meine Hand, Ella, bleib bei uns. Hier ist Gleis 6!»
Wir ächzen mit dem Gepäck die Treppe runter. Zum Glück ist noch kein Zug in Sicht, wir werden es also schaffen. Unten angekommen, stellen wir, wie so oft, wenn wir mit dem Zug unterwegs sind, fest, dass die ganze Eile - natürlich - völlig unnötig war.
«Zehn Minuten Verspätung, na toll.» Ich verdrehe die Augen.
Wieder bahnen wir uns den Weg durch die Menschenmenge, diesmal sichtlich entspannter. Vor dem Wagenstandanzeiger beziehen wir Stellung und bauen eine Burg aus unseren zahlreichen Gepäckstücken.
«Auf welcher Seite kommt der Zug?», erkundigt sich Ella.
«Hier, Gleis 6», antworte ich versöhnlich, «es ist der Zug nach Kopenhagen. Stellt euch vor, der fährt von Puttgarden aus mit dem Schiff nach Dänemark weiter. Komische Vorstellung, oder?»
«Wie kommt der denn aufs Schiff?» Ella fixiert mich ungläubig.
«Im Bauch des Schiffes befinden sich ebenfalls Schienen. Der Zug kann hineinfahren und auf dem dänischen Festland fährt er dann auf dänischen Schienen weiter.»
«Und die Leute bleiben alle sitzen?»
«Das weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht, aber jetzt hört bitte mit der Fragerei auf, mir wird schon ganz schummrig im Kopf.»
«Ich hab die ganze Zeit nichts mehr gesagt», entgegnet Anni mit patzig verschränkten Armen.
«Dann fang jetzt bitte nicht wieder damit an und halte einfach mal deinen Mund.» Genervt von allem, seufze ich tief. «Eine Minute. Bitte! Ich muss schauen, zu welchem Gleisabschnitt wir müssen.»
Es hilft, sie geben Ruhe. Anscheinend merken sie doch, wenn ich kurz vorm Explodieren stehe. Dabei haben sie mir eigentlich nichts getan. Aber manchmal, und in letzter Zeit leider viel öfter, als mir lieb ist, ist es mir einfach zu viel. Heute sind es die lange Zugfahrt, die Eile, der Lärm, die Menschen, die Kinder - ich verzehre mich nach meinem Sofa und einer Tasse Tee. Hoffentlich ist wenigstens der nächste Zug nicht so voll wie der vorherige. Ein bisschen Ruhe könnte ich gerade wirklich gebrauchen. Ich atme einmal tief durch und vergleiche konzentriert die Angaben auf meiner Reservierung mit den Angaben des Wagenstandanzeigers. Aha, Abschnitt D, das ist nicht weit, wir müssen nur .
Mein Blick bleibt an einer Frau hängen, die mit ihrer etwa zehn- oder elfjährigen blutleeren Tochter direkt neben mir steht. Ihr strähniges grauschwarzes Haar ist zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst, und ihre mausgraue Kleidung vermittelt von Kopf bis Fuß den Eindruck: schlampig. Sie schaut müde und gleichzeitig genervt in der Gegend herum. Okay, das sind halt DIESE Leute, denke ich, schließlich stehe ich direkt neben der Raucherecke, und mein Blick zieht weiter zur nächsten . Mutter. Aber die sieht nicht viel besser aus, nur dass sie zwei Kinder im Kindergartenalter dabeihat. Daneben die nächste . Mutter, und noch eine und noch eine. Stutzig, nein fassungslos, lasse ich meine Fahrkarte sinken, als mir das Ausmaß klar wird. Habe ich in den letzten Minuten vor lauter Stress und Aufregung etwas verpasst?
Mütter! Der Bahnsteig ist voll von ihnen. Graue Mütter, bunte Mütter, schrille Mütter. Dicke und dünne, junge und alte. Und sie sind nicht alleine. Unzählige Kinder jeder Altersstufe haben sie im Schlepptau. Vom kreischenden Baby bis zum gelangweilten, kaugummikauenden Teenager, dessen Smartphone an der Hand festgewachsen scheint. Dazu gefühlte Berge von buntem Gepäck. Rollkoffer, Kinderwagen, Taschen mit Verpflegung, Wickeltaschen, Spielzeugtaschen, Schulranzen, Kuscheltiere.
Teils stehen sie einzeln, damit beschäftigt, ihren Berg an Gepäck und ihre Kinder im Auge zu behalten, teils in Grüppchen, heftig diskutierend, lachend und gestikulierend. Die Lautstärke, die hier herrscht, ist erstaunlich.
Aber das beinahe Schlimmste ist: Wir sind mittendrin - eins zu eins in das Bild passend, das sich mir in diesem Moment eröffnet.
Die Erkenntnis prasselt wie ein Eimer Eiswasser auf mich herab. Wir sind nicht die Einzigen. Natürlich sind wir nicht die Einzigen! Das hätte ich mir auch denken können. Aber selbst in meinen kühnsten Albträumen habe ich nicht damit gerechnet.
Seit heute Morgen, sechs Uhr dreißig, sind wir auf dem Weg zu einer Maßnahme, die sich Mutter-Kind-Kur nennt. Eine Möglichkeit für ausgelaugte und von Krankheit bedrohte Mütter mit ihren gegebenenfalls ebenfalls ausgelaugten und von Krankheit bedrohten Kindern, auf Kosten der Krankenkassen eine dreiwöchige Auszeit vom Leben und dessen Protagonisten zu nehmen, in der man sich - losgelöst von den schnöden Problemen des Alltags - um sich selbst, seinen Körper und seine Kinder kümmern kann. Das soll laut Werbebroschüre zumindest das Ziel einer solchen Maßnahme sein. An Nord- und Ostsee gibt es eine Vielzahl von Mutter- (oder auch Vater-) Kind-Kliniken, die diese Möglichkeit anbieten.
Und so, wie es hier aussieht, ist der Mittwoch wohl in allen Kliniken der allgemeine An- und Abreisetag. Jetzt, wo ich darüber nachdenke oder vielmehr das Elend sehe, erklärt sich natürlich das Bild auf dem Bahnsteig. Hier in Hamburg treffen nämlich sämtliche Bahnlinien aus dem Süden und Osten Deutschlands zusammen. Von hier aus werden die Teilfamilien auf die gesamte norddeutsche Küste verteilt.
Diese Masse an kurwilligen Frauen macht mich nervös. Warum hat mir das vorher niemand gesagt? Warum auch hätte ich das wissen wollen? Es ist schließlich nur die Anreise. Die sagt ja wohl nichts darüber aus, wie es wirklich ist in so einer Mutter-Kind-Klinik. Was also macht mir Angst? Die Tatsache, dass die Frauen, die mir ins Blickfeld springen, Klischees erfüllen, die ich mir in meinen ärgsten Träumen nicht hätte ausmalen können?
Ich versuche zur Beruhigung meiner angespannten Nerven wenigstens eine Frau auszumachen, die mir sympathisch sein könnte. Die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.