9. KAPITEL: DAS HAUS AN DER BRÜCKE
Es dauerte fast zwei Wochen - für Bernadette schien es eine Ewigkeit gewesen zu sein - da kam endlich, wieder durch Elsbeth, eine Nachricht, diesmal mündlich.
"In der nächsten Woche am Donnerstag ist ein großer Aufmarsch in Dortmund geplant", begann sie ihre Information. "Alle werden dorthin abkommandiert, auch dein Vater und dein Bruder. Sie werden anschließend bis spät in die Nacht hinein feiern. In dieser Zeit seid ihr sicher. Nach der Schule gehst du mit mir nach Hause. Wir werden zu Mittag essen und dann eine kleine Radtour machen. Ich werde dich zu einer Stelle führen, die ich jetzt selber noch nicht weiß. Dort wirst du ihn treffen."
Bernadettes Augen strahlten. Sie drückte Elsbeth still die Hand. Dann klingelte es zur nächsten Stunde.
Die zehn folgenden Tage gingen im Schneckentempo dahin. Bernadette hatte ihre Mutter kurz vorher nur dahin gehend informiert, dass sie an dem besagten Donnerstag nach der Schule zu ihrer Freundin Elsbeth gehen und auch den Nachmittag und Abend bei ihr verbringen möchte und daher besser auch bei ihr übernachte. Sie wolle mit dem Rad zur Schule fahren, weil sie nachmittags bei gutem Wetter eine kleine Radtour vorhätten. Ihre Mutter hatte sie ein wenig erstaunt angesehen, aber verstanden, dass es besser ist, nichts zu fragen. Ihr Mann hatte ihr schon darüber Mitteilung gemacht, dass er und Horst am Donnerstag nicht zum Mittagessen kämen und es abends wahrscheinlich spät würde. Mehr wurde nicht gesagt. Bernadettes Mutter aber wusste 2 + 2 zusammenzuzählen .
Dann kam der Donnerstag! An diesem Tag hatte die gesamte männliche Hitlerjugend schulfrei. Horst hatte seine Uniform schon zum Frühstück angezogen und strahlte mit den frisch gewichsten Stiefeln um die Wette. Zusammen mit seinem Vater verließ er stolz und im Bewusstsein seiner Wichtigkeit das Haus etwas früher als gewohnt und so war für Bernadette noch Zeit genug, schnell ihr schönstes Kleid anzuziehen. Dieser Tag sollte ein Fest werden!
Am Nachmittag machte sie wie vereinbart mit Elsbeth nach dem Mittagessen eine Radtour. Sie fuhren ziemlich lange, machten mal hier eine Rast auf einer Bank, sahen dort spielenden Kindern zu und Bernadette wunderte sich, dass sie manchmal im Kreis zu fahren schienen. Sie sagte aber kein Wort, wusste sie doch, dass dies der Plan Benjamins war.
Schließlich blieb Elsbeth mitten auf dem Weg stehen. Sie schaute sich um, es war niemand hinter ihnen. Eine Gruppe von jungen Burschen, die in einiger Entfernung vor ihnen unter hohen Bäumen saßen und sich unterhielten, schien sie nicht weiter zu stören. Sie zeigte auf eine kleine Hütte, die abseits vom Wege stand und sagte: "Da geh jetzt hinein. Das Fahrrad stelle hinter das Haus. Ich wünsch dir alles Gute und ich bete, dass ihr nicht erwischt werdet!"
Damit verabschiedete sie sich und fuhr zurück.
Mit klopfendem Herzen ging Bernadette auf das kleine, verfallen wirkende Häuschen zu und stellte das Fahrrad hinter das Haus. Ein Herrenfahrrad stand schon da. Dann ging sie zurück zur Vorderseite, um an die Tür zu klopfen. Doch jetzt stand die Tür auf und ein strahlender Benjamin zog sie schnell herein und schloss die Tür wieder. Er nahm sie in den Arm und die beiden schienen sich nie wieder loslassen zu wollen.
Nach einer ganzen Weile sagte Benjamin: "Komm mein Engel, setz dich an den Tisch, ich habe schon Tee für uns gekocht. Wir haben uns sehr viel zu erzählen."
Bernadette schaute sich in dem Raum um und staunte, wie sich ein so gemütlicher Raum in einer von außen so verfallen wirkenden Hütte befinden konnte. Sie äußerte ihr Erstaunen und Benjamin erklärte: "Das Haus ist noch nicht lange völlig unbewohnt. Früher wohnte hier der Fährmann, als es die Brücke noch nicht gab. Nachdem die Brücke fertiggestellt und der Fährdienst eingestellt war, zog der alte Fährmann zu seiner Tochter und seinen Enkelkindern. Manchmal aber kam er noch hierher, wenn er sich nach Ruhe sehnte. Er hatte nicht mehr die Kraft, das Haus von außen in Ordnung zu halten, aber innen pflegte er es, so gut er konnte, nur ab und zu kam seine Tochter zum Großreinemachen. Vor einiger Zeit ist er gestorben. Einer seiner Enkel gehört zu unserer Bekennergruppe, und der hat mir den Schlüssel gegeben. Geschirr, Tischtuch und so weiter musste ich natürlich selbst mitbringen."
"Und sauber gemacht hast du vorher sicher auch!?"
"Selbstverständlich, glaubst du vielleicht, ich lasse dich in eine schmutzige Bude?"
Die beiden mussten lachen und wussten selbst nicht, warum. Dass sie sich heimlich treffen mussten, war traurig, das Risiko erwischt zu werden trotz allem groß und die Aussicht auf ein nächstes Treffen gering. Benjamin setzte sich zu ihr auf die Bank.
"Ich muss dir gleich etwas Trauriges sagen, damit wir es hinter uns haben. Ich kann nicht unbefangen zu dir sein, wenn ich es nicht gesagt habe." Bernadette schaute ihn erschrocken an.
Er machte eine kleine Pause, dann legte er seinen Arm um sie und hielt sie ganz fest.
"Du weißt, dass man mich beobachtet, und meine Freundschaft mit der Tochter eines hohen Parteimitgliedes ist natürlich ein Skandal. Darum bin ich zum Wehrdienst einberufen worden."
"Nein!" Bernadette schrie erschrocken auf.
"Beruhige dich, Liebes, man ist ja immerhin so gnädig, mich vorher mein Abitur machen zu lassen. Nur kann ich dann nicht sofort Theologie studieren, wie ich es vorgehabt habe, sondern muss vorher zur Wehrmacht. Danach aber kann ich sicher studieren wie geplant. Auch wenn Hitler sehr mächtig ist: So ein Despot kann sich in unserer zivilisierten Gesellschaft doch nicht lange halten. Im Augenblick sind die Menschen froh, dass es wieder Arbeit gibt und dass den Deutschen wieder ein Nationalbewusstsein gegeben wird. Man kann ein Volk eben nicht auf die Dauer materiell und seelisch ausbluten lassen. Ich vertraue aber darauf, dass unserem Volk immer deutlicher bewusst wird, wer ihr Führer ist, und dass sie ihm dann nicht mehr so blind ins Verderben folgen."
"Mein Vater macht öfter so Bemerkungen, die ich nicht ganz verstehe, die mir aber das kalte Grausen einjagen", sagte Bernadette.
"Sollte Hitler an der Macht bleiben, kann es einem schon das kalte Grausen einjagen, aber daran kann und will ich nicht glauben!"
Benjamin hatte es mit einer so festen Überzeugung gesagt, dass Bernadette sich allmählich beruhigte.
Nun tranken sie ihren Tee und erzählten sich alles, was sie seit ihrem letzten Zusammensein erlebt hatten. Manchmal schwiegen sie auch in dem glücklichen Bewusstsein, beisammen zu sein. Benjamin hatte inzwischen eine Kerze angezündet und die Vorhänge zugezogen. "Mehr Licht dürfen wir uns nicht erlauben", sagte er.
Die Dämmerung hatte einer nachtschwarzen Dunkelheit Platz gemacht und von weither waren Jungenstimmen zu vernehmen, die Wander- und Abendlieder sangen.
"Als wir hier ankamen, saß eine Gruppe junger Männer unter einer Baumgruppe und ich fürchtete schon, die könnten zur HJ gehören. Ob die das wohl sind?", fragte Bernadette ein wenig bang.
"Keine Sorge, die sind alle in Dortmund, die haben keinen hier gelassen. Massenaufmarsch ist nun mal Massenaufmarsch, da darf unter den Tausenden nicht einer fehlen! Die Jungen, die du gesehen hast und jetzt hörst, sind unsere Leute. Die sitzen da zur Tarnung und Ablenkung - und falls es doch nötig würde zur Warnung."
Benjamin lachte leise vor sich hin. "Wir haben schließlich auch unsere Wachmannschaft", fügte er noch hinzu.
Die beiden hatten es sich inzwischen auf einem kleinen Sofa gemütlich gemacht. Benjamin legte in seiner liebevollen Art behutsam seine Arme um Bernadette, sie schmiegte ihren Kopf an seinen Hals und fühlte ein tiefes Glück und gleichzeitig eine Art Heimweh, eine Sehnsucht, die sie sich nicht erklären konnte. Tränen füllten ihre Augen und Benjamin fragte ganz leise: "Was ist dir, mein Liebes?"
"Ich weiß es nicht", flüsterte sie zurück und versuchte, noch näher an ihn heranzurücken, was unmöglich war. "Du bist doch da, so nah, und ich habe trotzdem so eine unsagbare Sehnsucht nach dir!"
Benjamin streichelte zart ihr Gesicht, küsste ihre Augen, ihre Lippen und sagte leise und zärtlich: "Mir geht es genauso und alles tut mir weh vor Sehnsucht. Und ich weiß auch, was das ist."
Wieder küsste er sie auf die Lippen und Bernadette war es, als tauche sie in ein Meer von Glück und sie sehnte sich, immer tiefer hineinzutauchen.
Bernadette hatte mit ihrer Erzählung innegehalten. Sie blickte in die Kerzenflamme auf Irmtrauds Tisch. Nach einer ganzen Weile sagte sie: "Glaube mir, Irmtraud, ich habe mich dem Himmel nie so nahe gefühlt wie in dem, was nun folgte. Das mag in deinen Ohren eigenartig klingen, aber was ich erfahren habe, war der Ausdruck reinster Liebe, ein unsagbares Glücksgefühl. Heutzutage wird Sex oft mit Liebe verwechselt. Die Sexualität ist neutral. Sie ist eine Kraft, die man zum Guten und zum Bösen nutzen kann, sie kann in den Himmel heben, aber auch in die Hölle stürzen lassen. Sie kann die höchste Vollendung der Liebe ausdrücken, aber auch Hass und Verachtung. Nur da, wo zwei Menschen einander wirklich lieben, so vollkommen, wie es überhaupt nur möglich ist, da ist der Himmel unglaublich nahe." Sie schwieg.
"Ich glaube dir, Bernadette. Ja mehr noch: Ich kann es dir ein wenig nachempfinden", sagte Irmtraud.
Wieder schauten die beiden schweigend in die Kerzenflamme, bis Bernadette in die Stille hinein flüsterte: "Ich wusste, dass du mich verstehen würdest, trotz deines ehelosen Lebens."
"Es ist...