Schweitzer Fachinformationen
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Stadelmann drehte vor dem Eingang des Nölliturms, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts als Ersatz für einen Turm mit mangelhafter Bausubstanz errichtet und um 1900 mit der Durchfahrt für den Verkehr versehen wurde, seine Kreise und kaute auf seinen Fingernägeln.
Isler reagierte sichtlich genervt darauf. »Beruhig dich endlich und führ dich nicht auf wie ein Irrer. Du erinnerst mich an einen der Spinner oder Pseudo-Spinner aus >Einer flog über das Kuckucksnest<.«
»Ich kann nicht anders. Ein Toter hier im Nölliturm, unserem heiligen Nölliturm. Das bringt Unglück.«
Isler verwarf die Hände. »Ach, heilig. Scheinheilig manchmal, ja. Aber heilig? Mitnichten und Neffen.«
Ein Todesfall dieser Art war für die Staatsanwaltschaft immer ein außergewöhnlicher Todesfall. Die ganze Kavallerie musste ausrücken.
Hector schien gänzlich unbeeindruckt. Er kratzte sich mit dem Hinterbein das rechte Ohr, womit er seine Gleichgültigkeit mehr als jeder Mensch perfekt zum Ausdruck brachte.
Die Polizei traf in Vertretung einer Wachtmeisterin und eines Wachtmeisters ein. Sekundiert wurden sie von Feldwebel Thomas Kessler, der den gut erhaltenen achtundzwanzig Meter hohen Rundturm von 13,45 Meter äußerem und 8,85 Meter innerem Durchmesser kurz betrachtete und sich dann den Anwesenden widmete.
Es gesellten sich die frischgebackene Staatsanwältin Nora Schilling, Amtsärztin Annette Freitag und der Kriminaltechnische Dienst dazu, dem auch Thomas Kesslers Freundin Eliane Kaufmann angehörte, die jedoch an diesem Tag nicht im Einsatz stand.
Frau Dr. Freitag war Mitte fünfzig, trug ihr Haar schwarz gefärbt, frisiert wie Mireille Mathieu. Sie war von zierlicher Erscheinung und nicht besonders groß. In ihrem hageren Gesicht waren gleichzeitig Ernsthaftigkeit und ein gesunder Schalk zu lesen.
Nachdem sich alle gegenseitig begrüßt hatten und sich Isler als Melder zu erkennen gegeben hatte, nahmen die Profis ihre Arbeit auf, während sich Isler und Stadelmann für etwaige Fragen in gebührendem Abstand zur Verfügung hielten.
Dr. Freitag konnte es nicht unterlassen, noch einen kleinen Kommentar von sich zu geben. »Ich weiß, es ist zynisch. Aber zum Glück haben Sie mich gerufen. Sie haben mich aus den Klauen eines Irren befreit, ein Hypochonder erster Güte. Jede Woche kommt er mit neuen Flausen zu mir, hat immer wieder mal was bei Dr. Google gelesen. Soll er sich doch von dem behandeln lassen. Wenn der alles hätte, was er sich einbildet, wäre er schon fünfmal gestorben. - Also, wen haben wir denn hier?«
Die beiden Polizeibeamten in Uniform halfen der Ärztin, den Leichnam auf den Rücken zu drehen, und entfernten die Kleidung. Dr. Freitag begann mit der Untersuchung.
»So auf den ersten Blick erkenne ich keine Fremdeinwirkung. Aufgrund der Lage und Nähe zur Treppe schließe ich einen Sturz nicht aus. Aber das ist reine Spekulation.«
Sie tastete den Körper ab, die neuralgischen Partien wie etwa den Hals, und arbeitete sich dann vor zum unübersehbaren Bauch.
»Na ja, Sport schien bei ihm auf der Prioritätenliste nicht gerade eine Spitzenposition einzunehmen.«
Dann schaute sie sich das Gesicht an.
»Ah, und hier haben wir vermutungsweise einen typischen Fall von Leichenfraß. Da bedienten sich wohl Ratten am kalten Buffet. Sehen Sie her, die Bissspuren im Gesicht und an der rechten Hand. Das geschah sicher post mortem.«
Die versammelte Schar begutachtete die Spuren der Verwüstung am Körper des Toten.
»Ratten?«, fragte Staatsanwältin Schilling etwas konsterniert.
»Ja, Ratten sind entlang der Reuss nicht ungewöhnlich«, bestätigte Frau Dr. Freitag.
»Aber sicher!«, intervenierte Paul Stadelmann, der sich unbemerkt und unbefugt zur Legalinspektion reingeschlichen hatte. »Als ich die Türe öffnete, rannte eine große fette an mir vorbei. Die hat den armen Theo angeknabbert. Ich glaube, mir wird schlecht«, sagte er, der sich seines Reinplatzens sogleich reuig wurde, und rannte raus. Er erbrach sein Frühstück auf die wenig befahrene Straße. Hector, der es sich auf dem Asphalt gerade gemütlich machen wollte, schaute auf, zog die Ohren hoch und verstand die Welt nicht mehr.
»Was können Sie zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Kessler.
»Hm, anhand der äußeren Umstände, der schon markanten Leichenstarre und der Totenflecken schließe ich auf einen Todeszeitpunkt vor neun bis zwölf Stunden, also noch gestern Abend. Spuren einer Dritteinwirkung kann ich jedenfalls auch jetzt keine erkennen.«
Kessler wandte sich dem KTD zu. »Und, etwas Auffälliges?«
»Nein. Sein Portemonnaie trägt er noch auf sich. Geld scheint keines zu fehlen. Dann hatte er noch einen, vermutlich, Hausschlüssel dabei und sein Handy. Was auffällt, es hat hier neben der Leiche jede Menge Fußspuren. Unübersichtlich viele«, sagte eine Frau im Schutzanzug.
»Was war denn hier los? Touristenführung?«, fragte Kessler in Richtung Isler, der sich beim Eingang zur Verfügung hielt.
»Nein, keinesfalls. Der Turm ist nicht öffentlich zugänglich, nur für private Führungen. Aber wir hatten vorgestern unseren Zunfthöck. Die Putzfrauen wären erst heute damit beauftragt gewesen, gründlich sauber zu machen.«
»Aha«, sagte Kessler. »Schade, weniger Spuren hätten das Suchen nach der Nadel im Heuhaufen einfacher gestaltet. Wissen Sie, was er hier wollte, also vermutlich noch gestern Abend?«
»Keine Ahnung«, antwortete Isler. »Ich bin auch nicht so ein regelmäßiger Gast dieser Höcks. Vorgestern war ich zum Beispiel nicht hier. Päuli aber, der weiß so ziemlich alles, was da vor sich geht«, sagte Isler und klopfte Stadelmann, der nach seiner Magenentleerung immer noch kreideweiß im Gesicht war, etwas spöttisch-kumpelhaft auf die Schulter. Dieser stand nach wie vor so unter Schock, dass er aufsprang.
»Also, Herr .?«, fragte Kessler.
»Stadelmann, Paul.«
»Was haben Sie in der ganzen . ähm, Gruppe hier für eine Rolle?«
»Ich bin der Turmwart des Nölliturms. Stolzer Turmwart und noch stolzeres Mitglied der >Zunft der Waldstätter<.«
»Aha. Dann erzählen Sie mir mal, ob mit oder ohne Stolz, ein wenig vom toten Zunftmitglied, Ihrem >Zunftbruder< oder wie Sie sich bezeichnen.«
»Was soll ich sagen? Er war vor fünf, nein sechs Jahren unser Zunftmeister. Es war ein tolles Jahr. Wir hatten damals auch ein Jubiläum. Da hatten wir ein großartiges Fest auf dem Bramboden -«
»Bitte, Herr Stadelmann, beschränken Sie sich auf das Wesentliche«, unterbrach ihn Kessler barsch, als Stadelmann endlich aus seiner Schockstarre aufzuwachen schien.
»Ja, was wollen Sie denn genau wissen, Herr Kommissar?«
»Ich möchte wissen, was für eine Art Mensch er war. Ist es für Sie ungewöhnlich, dass er nachts oder zumindest nicht im Rahmen eines Zunftanlasses so alleine in diesem Turm umherwandelte?«
»Schon. Aber Theo war eigen. Er hatte einen Schlüssel. Er konnte hier ein und aus gehen, wann es ihm beliebte. Ich habe vernommen, dass er hier Geschäfte abgeschlossen hat, und dabei sollen nicht nur Geschäftsleute anwesend gewesen sein.«
Isler versuchte es mit Ablenkung. Das Thema war ihm offenbar unangenehm. »Egli hatte als hohes Zunftmitglied, quasi als Ehrenpräsident auf Lebenszeit, als einer der wenigen das Privileg, einen Schlüssel auf sich zu tragen.«
»Wer verkehrte hier sonst noch?«
»Na, Sie wissen schon, Damen für gewisse Stunden.«
»Soso. Und seine Frau wusste davon? Also, war er überhaupt verheiratet?«
»Schon, aber er und seine Frau leben . lebten seit über einem Jahr getrennt. Man hörte allerhand Gerüchte über außereheliche Geschichten seinerseits. Doch darüber will ich nicht weiter spekulieren«, sagte Isler zurückhaltend.
»Wird wohl mit der Zeit schwierig. Können Sie mir sagen, wo seine Frau wohnt?«
»Ja, an der früheren Adresse von Theo in St. Niklausen, Luzerns Goldküste. Er selbst hat sich eine Wohnung unterhalb vom Art Deco Hotel Montana genommen. Also genau genommen gehörte sie ihm schon vorher. Hat einfach die Mieter rausgeschmissen. Der kannte gar nichts, der Theo«, sagte Stadelmann.
»Mit Verlaub, das klingt nicht sehr, wie soll ich sagen, sympathisch«, seufzte Kessler und verdrehte die Augen, während er sich die Adresse von Eglis Frau von Stadelmann geben ließ.
Kessler wandte sich um.
»Können Sie uns etwas zur Todesursache sagen, Frau Dr. Freitag?«, fragte Schilling, die nervös wirkte.
Wieder eine, die aufgrund des politischen Kalküls viel zu früh in dieses verantwortungsvolle Amt gewählt worden war, dachte sich Kessler. Dass Staatsanwältinnen und Staatsanwälte aufgrund einer politischen Wahl und nicht primär und ausschließlich aufgrund der Fähigkeit sowie der Lebenserfahrung in ihre Position gehievt wurden, erachtete er als großen Fehler des Systems. Aber solange die Parteien durch die Abgabe einer Mandatssteuer profitierten, würde man hier nichts ändern. Man beißt nicht in die Hand, die einen füttert.
»Todesursachen, ich spreche bewusst im Plural. Sie können es sich aussuchen. Ich stelle jedenfalls ein gebrochenes Genick fest. Dann gehe ich aufgrund der massiven Prellspuren im Abdomen davon aus, dass innere Blutungen ebenfalls kausal zum Tode geführt haben könnten. Den Schädel hatte er sich, vermutlich mehrfach, angeschlagen. Alles wohl verursacht durch einen schweren Sturz von der Wendeltreppe, wie mir seine Lage verrät. Ob es die Endlage ist, kann ich nur spekulieren. Allerdings gehe ich prima vista davon aus. Das können dann Ihre Kollegen von...
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