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Die Kindheit? Ist nicht jede Kindheit eine große Kränkung, weil man nie das bekommt, was man braucht? Dabei hatten die Flöges ja noch Glück, halbwegs gute wirtschaftliche Verhältnisse, eine liebevolle und lebenslustige Mutter, einen immer abwesenden, weil hart arbeitenden Vater, der aber als Sonntagnachmittagsvater (so nannten ihn manchmal die Flöge-Töchter) auf eine täppische Art durchaus seinen Kindern zugetan war, sofern sie seinen Vorstellungen, die vom rigorosen Ethos eines norddeutschen Protestantismus geprägt waren, entsprachen. Am meisten liebte er natürlich Hermann, weil der ein Junge war. Emilie kam als letztes Kind, und da es schon zwei Schwestern gab, hätte sie wirklich ein Junge sein sollen. Drei Mädchen, das bedeutete, drei Aussteuern zu erarbeiten, dreimal Glück mit Schwiegersöhnen haben zu müssen, die möglichst gut situiert sein, aber auch die absolute Autorität des Schwiegervaters anerkennen sollten. Schwiegertöchter machten in diesem Punkte selten Schwierigkeiten, bei ihnen gab es immer nur die Befürchtung, dass sie nicht mit Geld umgehen konnten.
Emilie war also die jüngste, die vierte. Die Geschwister waren mit einigem Abstand gekommen, Hermann, der älteste war 1863 geboren, 1866 Pauline, fünf Jahre später Helene, schließlich Emilie Louise im Jahr 1874. Kein Nesthäkchen, aber eine Nachgeborene. Erfahrungsgemäß hat sich die Begeisterung der Eltern beim vierten Kind abgeschliffen, das ist aber nicht immer von Nachteil, weil die mangelnde Konzentration auf ein Kind diesem auch Freiheit gibt. Trotzdem beneidete Emilie manchmal ihren Bruder Hermann, der drei Jahre lang als Kind die ungeteilte Liebe und Aufmerksamkeit zumindest der Mutter genossen hatte.
Emilie hatte nie eigene Kleidung, immer nur von ihren älteren Schwestern geerbte oder umgeänderte. Dabei hätten die Flöges das Geld gehabt, ihr auch einmal ein neues Kleid zu kaufen, aber wozu diese Ausgabe, wenn man doch eine Mutter hatte, die die Nähmaschine bedienen konnte.
Als Emilie neun Jahre alt war, bat sie ihre Mutter, sie solle ihr einfach ein paar Fetzen geben, sie würde sich jetzt selbst etwas nähen. Mama Flöge ging im Spaß darauf ein und brachte ihrer Tochter einen Stoß aufgetrennter Kleider und Blusen, Nadel und Faden und Schere. Jeden Tag neckte sie Emilie mit der Frage, wann denn das Wunderwerk fertig sei. Es dauerte lange. Aber dann erschien das Mädchen eines Sonntagsmorgens mit einem langen Rock, der aus zwölf kunterbunten Flicken zusammengeschustert war. Den Vater rührte fast der Schlag: „Wo habt ihr denn dieses Zigeunerkind aufgelesen?“
Natürlich durfte Emilie den „Zigeunerfetzen“ nicht tragen.Aber ihre Mutter fühlte sich bemüßigt, ihr einen besonders schönen Rock (aus dem aufgetrennten Stoff eines Sommerkleides, das Helene zu klein geworden war) zu nähen.
Jetzt müsste eigentlich kommen, damit die Geschichte auf einen Sinn hinausläuft, dass alle Familienmitglieder prophezeiten, dass die Emilie eine Kleidermacherin werden würde. Keine Rede davon. Es war eine folgenlose Episode.
Vielleicht nicht ganz: was Emilie blieb, war, dass sie als Kind, mehr noch als Jugendliche, nie zufrieden mit ihrer Kleidung war. Am schlimmsten empfand sie es, als sie im Alter von vierzehn Jahren von ihren Schwestern in die „weiblichen Geheimnisse“ eingeweiht wurde. Da waren einmal die in vielen sprachlichen Verrenkungen angedeuteten Hinweise auf die bald einsetzende Menstruation. Wie sollte man das begreifen, dass man jeden Monat bluten musste, damit man eine richtige Frau war und eines Tages Kinder in die Welt setzen konnte? Als das Ereignis dann zum ersten Mal eintrat, brüllte Emilie vor Schrecken über das schwärzliche Blut in ihrer Unterhose das Haus zusammen, sodass sogar Hermann entgeistert angelaufen kam, weil er glaubte, sie hätte sich schwer verletzt. Ähnlich verstörend waren die Anweisungen der älteren Schwestern, wie Emilie sich jetzt zu kleiden habe – nämlich wie sie! Schluss mit den flotten Hängekleidchen, die eine Handbreit über dem Knie endeten. Ab jetzt gab es lange Kleider und Röcke, die bis zu den Schuhen fielen, hochgeschlossenen Blusen, unter denen lachsfarbene Büstenhalter getragen werden mussten. Dass Emilie so schlank war, dass ihre Brüste in diesem Alter nur zwei kleine „Krapferl“ waren, spielte keine Rolle. Ähnlich erging es ihr mit der Corsettage, die auch im Hochsommer nie weggelassen werden durfte. Es war lächerlich, einem schmalen jungen Mädchen ohne die geringsten Rundungen einen Unterbau zu verpassen, mit dem die Taille noch wespiger zusammengezurrt werden konnte, aber es gehörte sich einfach so.
Wer bestimmt denn eigentlich, was sich gehört, fragte sich die junge Emilie. Musste man diese Quälerei wirklich ertragen? Durfte man nicht vielleicht ungehorsam sein? Was wären denn die Strafen?
Aber das waren die Probleme der späteren Jahre. Als Kind hatte Emilie andere, vielleicht auch nur eines. Von dem Zeitpunkt an, da sie lesen konnte, hungerte und dürstete sie nach Büchern und konnte nie genug bekommen – und das war viel schlimmer, als immer abgetragene Kleider anziehen zu müssen. Vielleicht gab es einmal ein Buch zu Weihnachten oder zum Geburtstag, wenn sie heftig darum quengelte. Das Buch hatte sie dann am Abend desselben Tages ausgelesen. Selten war es so spannend, wie sie erhofft hatte. Die Mädchenliteratur im Wien ihrer Kindheit feierte als Prototyp das brave Mädchen, das Unglaubliches leistet, wenn die Mutter einmal krank wird und sieben Geschwister versorgt werden müssen. Emilies Mutter war nie krank.
Da war es ein Höhepunkt, als ihr Pauline mit der Großmut der acht Jahre älteren Schwester den Band „Grimms Märchen“ lieh. In diesen Geschichten gab es nicht nur brave Mädchen, sondern böse Hexen, ungehorsame Kinder, widerliche Schwestern, grausame Mütter, also viel interessantere Figuren.
Sie hätte auch gerne Jungenbücher gelesen. Da hatte sie keine Chance. Hermann konnte ihr nichts vererben, er konnte mit Büchern nichts anfangen, er war an Technik interessiert.
Im Jahr ihrer Geburt wurde in Österreich die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Für Mädchen gab es zunächst nur die sechsjährige Volksschule. Ab dem 12. Lebensjahr mussten die Mädchen der Arbeiterklasse arbeiten, die Mädchen des Bürgertums sich irgendwie beschäftigen, bis sie möglichst mit 17 oder 18 Jahren einen respektablen Mann kennenlernten und nach angemessenem zeitlichen Abstand heirateten. Immerhin konnten die Flöge-Mädchen schon auf die achtjährige Bürgerschule gehen, sodass sie erst mit 14 Jahren aus der Schule kamen. Für die reiche Oberschicht – zu der Flöges nicht gehörten – gab es die Möglichkeit, die Töchter auf private und teure „Höhere Töchterschulen“ zu schicken. Aber auch die dienten nur dazu, die Töchter als bessere Heiratspartien auszustaffieren. Die Schulen führten nicht zu einer Matura, weil es diese für Frauen nicht gab, also konnten sie auch nicht studieren.
Immer wenn Emilie später eine so gebildete Frau wie Adele Bloch-Bauer traf, dachte sie, wie schmerzhaft es für diese gewesen sein musste, nicht studieren zu dürfen. Adele sprach mehrere Sprachen, sie hatte eine intensive Liebe zur Literatur, sie war an Kunst, Musik, ja, auch an Politik interessiert, führte einen Salon und konnte sich mit den führenden Männern ihrer Zeit unterhalten, aber sie blieb ihr ganzes kurzes Leben lang von ihrem Mann abhängig, unfähig, all ihr Wissen und Können jemals in einem Beruf produktiv umzusetzen.
Die einfachen Flöge-Töchter konnten der Bankierstochter und Fabrikantengattin Bloch-Bauer natürlich nicht das Wasser reichen, der Vater hätte nicht das Geld und nicht die Einsicht gehabt, die Mädchen etwas lernen zu lassen, das über die ehevorbereitenden Tätigkeiten wie Kochen und Backen, Nähen und Klavierspiel hinausging. Emilie bestand aber – genau wie Pauline und Helene – darauf, den Beruf der Kleidermacherin von Grund auf zu erlernen, auch wenn die Perspektive, irgendwann eine Beschäftigung für drei Kronen am Tag zu finden, nicht eben verlockend war.
Die Lehrzeit war schrecklich. Emilie hätte bei Pauline lernen können, die schon ihre eigene kleine Lehranstalt für Kleidermacherinnen hatte, aber sie hatte sich in ihren vierzehnjährigen Kopf gesetzt, dass sie „auswärts“ mehr lernen würde. „Auswärts“ bedeutete in einem anderen Lehrbetrieb in Wien. Emilie lernte wenig und litt umso mehr, da sie als Lehrmädchen weniger wert war als die Kohle im Ofen der Werkstatt. Sie beklagte sich nie, aber ihre Mutter ahnte, was sie durchmachte. Barbara baute Brücken, Emilie könne doch aufhören und zu Pauline in die Lehre gehen. Aber die Mutter wusste, dass ihre Tochter genauso dickköpfig war wie sie selbst, die sich als Niederösterreicherin zum Entsetzen ihrer Familie einen protestantischen Mann mit preußischen Vorfahren ausgesucht (das Aussuchen war zumindest ihre Version) und durchgesetzt hatte, Hermann Flöge zu heiraten und mit ihm nach Wien zu ziehen. Was man gewählt hatte, dabei blieb man. Wenn auch nicht immer ein Leben lang.
Emilie sah eine „Karriere“ als Hausschneiderin oder Änderungsschneiderin in einem der neuen Warenhäuser in der Mariahilfer Straße vor sich. Aber dann ging sie nach der Lehre doch in die Werkstatt in der Neuburgstraße, die Pauline und Helene betrieben. Die Schwestern verdienten kein Vermögen, das mussten sie auch nicht, weil sie den wohlhabenden Vater im Rücken hatten, aber sie waren ihr „eigener Herr“, sie liebten die Unabhängigkeit – und sie mussten nicht so dringend auf einen Mann warten.
Dann traten Ernst und Gustav Klimt in das Leben der Flöge-Fräuleins. Mit Ernst änderte sich Helenes Leben, mit Gustav Emilies Leben. Ob und was sich für Pauline änderte,...
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