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Inanna Alraies
In seiner persönlichen Lebensgeschichte, die sich jeder von uns irgendwann auf die seine Weise zu erzählen beginnt, war Yvonne van der Meer Pavels erste richtige Liebe gewesen, einige Jahre nach seinem Erlebnis mit Gülcan, er war damals vierzehn gewesen wie sie auch. Sie hatten sich während einer durch die evangelische Kirchenjugend organisierten Sommerfreizeit in der Toskana kennen gelernt, er war noch ein Kind gewesen und sie bereits ein junges Mädchen. Als er damals sah, wie Yvonne ihre Armbanduhr trug, immerzu, auch im Bikini im Wasser, war es für ihn, als sei dies ein Ausdruck ihrer ganz eigenen mädchenhaften Reife. Denn an jener Stelle, wo das Gehäuse sich an die empfindliche Haut schmiegte, lag, so wusste er später, der Lehre der Akupressur zufolge ein ganz bestimmter energetischer Punkt, den sie unbewusst auf diese Weise unentwegt stimulierte, und das, auch ohne heilkundliche Erklärung, machte ihn damals unglaublich an. Sie nahm sich die Freiheit, ihre Uhr so zu tragen, wie es ihrem Körpergefühl am wohlsten tat. Und sie zeigte es in aller Behaglichkeit, jedenfalls hatte der kleine Pavel damals den Eindruck gehabt, das sie das tat, denn wenn sie sich beim Gespräch ihm zuwendete, beugte sie ihr Gelenk und stützte ihr weiches Kinn darauf, so dass man nicht anders konnte, als entweder ihre lockenden Augen oder ihre Uhr zu betrachten. Jedenfalls konnte man unter keinen Umständen nicht zu ihr hinsehen, und das wusste sie ganz genau. Ganz ähnlich war es nun mit Inanna.
Ihr Weg mit dem Reisebus hatte ihn und Yvonne damals durch sonnige Pinienhügel geführt, auf denen hier und da verschlafene Steingehöfte mit flachen römischen Dächern lagen, bis sie schließlich am Tor der mittelalterlichen Stadt San Gimignano angekommen waren, und als sie ihre Gassen betraten, atmete Pavel für einen Moment das feine Licht darin, während sein Blick über die kunstvollen Erdfarben zwischen den Häusern glitt.
Zur Mittagszeit saßen Pavel und Yvonne zusammen mit den anderen aus der Reisegruppe am Steinbrunnen der Piazza, die langen Schlagschatten der Gebäude flossen über das Kopfsteinpflaster, und der Junge war vertieft in den Anblick ihres haselnussbraunen Haares, das sanft über ihre Schultern fiel, während sie mit ihrer Hand hindurchstrich, so dass Pavel sehen konnte, dass die Haut unter ihrer Armbanduhr ein blasser Streifen überzog, ungebräunt, weil dort die Sonne nicht hinkam. Unter ihrem T-Shirt zeigten sich zarte Rundungen.
In diesem Augenblick hörte Pavel von irgendwoher ein leises Singen. Undeutlich erst, doch dann wurde es klarer. Eine Frau singt, dachte er, während die hohe kristallene Stimme verspielt sein Ohr küsste. Es war ein unschuldiges Singen, anmutvoll funkelten die Töne durch das fröhliche Stimmengewirr auf dem Brunnenplatz. Yvonne schien es auch gehört zu haben und sah ihn verwundert an. Sollen wir mal gucken gehen?, fragte Pavel und Yvonne nickte, und so gingen sie los.
Ihr Weg führte durch einige enge und winklige Gassen, durch steinerne Gänge unter alten Wohnhäusern hindurch, entlang schiefer Mauern, zwischen denen die Zeit irgendwann stehen geblieben zu sein schien. Nach einer Weile gelangten sie an die Pforte eines Klostergartens, hier war der Gesang viel deutlicher zu hören, deshalb gingen sie hinein. Es wurde kurz dunkel und schon im nächsten Moment standen sie in einem Innenhof, den weitläufige Arkaden sorgsam umsäumten. In einiger Entfernung saß jemand und spielte Harfe.
Das hatte Pavel damals nicht erwartet, und auch Yvonne schien erstaunt zu sein, dass es gar kein Gesang war, den sie zu hören geglaubt hatten, sondern dass der Klang einer Harfe sie hierher geführt hatte.
Entrückt blieben sie zwischen den Arkaden sitzen und lauschten dem sehnsuchtsvollen Perlen der Melodie, die der Mann spielte. Und Pavel dachte, so ein riesiges Instrument, ich könnte mir nie vorstellen, so etwas zu spielen, während er gleichzeitig die Schönheit dieser Musik wie etwas nie zuvor Gefühltes spürte.
Etwa zur gleichen Zeit begannen die ersten seiner Klassenkameraden damit, sich für Musik zu interessieren. In den Pausen wurde darüber gesprochen, und es wurden selbst aufgenommene Kassetten im Walkman gehört, jeder einen Stöpsel im Ohr. Pavel konnte damals noch recht wenig damit anfangen. Doch weil er vor den Mädchen (vor allem vor Yvonne) nicht als Langweiler dastehen wollte, bat er sie eines Tages, ihm einmal eine ihrer Kassetten zu überspielen. Er dachte, wenn er sie nur oft genug hörte, dann könne er sicher mitreden und keiner der anderen würde etwas merken.
Zuhause aber lag die Kassette an seinem Rekorder und immer wieder nahm er sich vor, sie endlich einmal zu hören. Doch es verging viel Zeit, bis er es wirklich tat, denn immer war anderes wichtiger und eigentlich fühlte er sich bei allem auch ohne die Musik der anderen recht wohl. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen, denn tatsächlich waren auf der Kassette vor allem die nichtssagenden Stücke aus dem Radio versammelt, gleichartig und ohne einen Sinn für ihn. Doch gab es auch ein Lied darunter, das ihm wirklich gut gefiel. Es hieß Turn Back The Clock von Johnny Hates Jazz, und je mehr er es hörte, desto mehr begann er es zu lieben. Den Text verstand er zwar nicht wirklich, doch war ihm klar, dass es darin um die tiefe Sehnsucht geht, die Zeit noch einmal zurückdrehen zu können, das ewige Weiter einmal anzuhalten und noch einmal die vergangenen Tage zu erleben, die schöner waren als heute. Immer waren die vergangenen Tage schöner, und selbst als Vierzehnjähriger spürte Pavel bereits, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern würde.
Als er schließlich begriff, dass es gar nicht darum ging, Musik deshalb zu hören, um mit den anderen mitreden zu können, sondern allein, um sie zu genießen, begnügte er sich endlich damit, immer wieder nur dieses eine Lied zu hören, es immer wieder zurückzuspulen und noch einmal zu hören. Ganze Nachmittage verbrachte er so, summte es leise und mit ahnungsvollen Tränen und manchmal, für einen gläsernen Augenblick, war er dann plötzlich ganz unbeschreiblich glücklich.
Für die anderen war damals klar, dass Pavel und Yvonne ein Paar waren, besser konnte es gar nicht passen, und tatsächlich trafen sie sich auch nach der Sommerfreizeit sehr häufig, schlenderten durch die Stadt, aßen Eis, redeten und schmusten einmal sogar ein wenig. Alles weitere allerdings hätte Pavel bei weitem überfordert. Den Mut, sie einfach zu fragen, willst du mit mir gehen?, worauf sie insgeheim gewartet hatte, hatte er nicht aufgebracht. Sie trafen sich und trafen sich und eines Tages, es war bereits Winter, rief Pavel bei ihr an und wollte sich ein weiteres Mal mit ihr treffen. Doch zu seiner Bestürzung sagte ihr Vater, tut mir Leid, Yvonne ist mit ihrem Freund weg, zum Skifahren.
Die Folge davon war, neben einer lang anhaltenden und tief sitzenden Depression, dass Pavel damals immer, wenn er sich alleine wähnte, heimlich seine Uhr trug wie sie. Seine Eltern durften davon nichts wissen, denn er schämte sich dafür.
Inanna Alraies, die von alldem nichts wusste, war nach dem Deutschkurs noch mit ihrem Mann und dem kleinen Mehdi einkaufen gewesen, und danach waren sie nach Hause gefahren. Der Lehrer, dachte sie während der Fahrt, war sehr sympathisch, da hatte sie Glück gehabt, es hätte auch anders kommen können. Er erinnerte sie ein wenig an jemanden, den sie noch als Mädchen in Syrien kennen gelernt hatte. Sie konnte kaum mehr als seinen Namen erinnern, er hatte Aziz geheißen und sie waren sich überhaupt nur ein oder zwei Mal begegnet. Doch das war alles schon so sehr lange her, und um so etwas sollte man sich nicht allzu viele Gedanken machen. Wirklich wichtig war jetzt erst einmal, das Zertifikat Deutsch zu machen, wenn sie es in sechs Monaten erfolgreich bestanden hatte, dann hätte sie gute Chancen darauf, dass ihrem Antrag auf Einbürgerung sehr viel früher stattgegeben würde. Und Mehdi brauchte eine neue Jacke, im Kindergarten hatte ein anderes Kind ihm die alte eingerissen, doofer Muchel, hatte es gesagt und dann hatten die Jungen sich gehauen, und dabei war die Jacke eingerissen. Die Versicherung zahlte das, aber ärgerlich war das alles schon.
Zuhause machte Inanna das Essen, Falafel, die sie selbst zubereitete, auch deutsches Essen gab es manchmal, oder jedenfalls das, was sie bei Lidl als solches bekommen konnte, doch heute ganz traditionell. Am Abend kamen Nachbarn aus dem Haus zu Besuch, Marokkaner, die wie sie arabisch sprachen, so konnte man auch hier in der Ferne ein wenig das Gefühl von Gemeinschaft pflegen, das Inanna, seit sie in Deutschland war, so sehr vermisste. Doch bei allem war es noch immer besser, hier zu sein als in der Heimat, denn als Christen waren sie dort, wenn auch nicht offiziell politisch, so doch durch die muslimische Mehrheit der Einwohner in ihrer Stadt Al Hasakah nicht unerheblichem sozialen Druck ausgesetzt gewesen. Man mied die Christen, ebenso wie man die Kurden, die Schiiten, die Drusen und die Alawiten mied, und die Tatsache, dass Inanna und ihr Mann von ihrer Herkunft her Aramäer waren (also sogar die Sprache des heiligen Zimmermannssohns sprachen), hatte ebenfalls dazu beigetragen, dass sie sich entschlossen hatten, nach Deutschland zu gehen. Ihr Mann Salim hatte hier vor bereits mehr als zehn Jahren eine Ausbildung zum Industrieschlosser machen können und hatte seine Frau später zu sich geholt. Mit der Arbeit war es anfangs ganz gut gegangen, er hatte Deutsch gelernt, hatte eine Anstellung bei einem mittelständischen Dortmunder Unternehmen gefunden und so waren sie wirtschaftlich endlich in der Lage gewesen, eine eigene Familie zu...
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