Kapitel 2
Am nächsten Morgen erwachte ich viel zu früh. Vier Stunden Zeitverschiebung gingen nicht spurlos an mir vorbei, und die ungewohnte Umgebung hatte ebenfalls nicht zu einem erholsamen Schlaf beigetragen. Lange hatte ich noch wach im Bett gelegen und versucht zu begreifen, dass ich in weniger als zwei Wochen meinen gesamten Alltag auf den Kopf gestellt hatte.
Heute startete mein neues Leben auf Kodiak. Schon übermorgen würde ich das erste Mal vor meiner eigenen Klasse stehen. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. In Jacksonville war ich als Vertretungslehrerin angestellt gewesen und überall eingesprungen, wo ich gebraucht wurde. Eine richtige Beziehung hatte ich dabei nicht zu meinen Schülern aufbauen können. Das wollte ich hier ändern!
Etwas gerädert von der unruhigen Nacht ging ich hinunter in die Küche, und dank Tante Maddie fand ich frisches Brot und ein Glas selbst gemachte Marmelade auf dem Tisch vor. Nur der Kaffee fehlte. Etwas, was ich heute schleunigst ändern musste. Ich bestrich mir eine Scheibe Brot großzügig mit Marmelade und biss noch im Stehen das erste Mal ab.
»Mhh.« Ich seufzte laut, als sich der köstliche saure Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete. Gedankenverloren lief ich mit dem Brot in der Hand an die große Fensterfront im Wohnzimmer.
Hinter dem Garten meines Hauses verlief eine weitere schmale Straße, die zu einer Reihe baugleicher Häuser führte. Direkt dahinter schaute ich auf einen mächtigen Berg. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich dieses Haus allein bewohnen würde. In Jacksonville hatte ich nur eine kleine Einliegerwohnung bei meiner Mutter und ihrem Freund im Haus gehabt - und bei Weitem nicht so viel Platz.
Neugierig schaute ich auf das merkwürdige Gärtchen, das zu meiner neuen Bleibe gehörte. Es gab keine Hecke und nicht eine einzige Pflanze. Dafür aber einen saftig grünen Rasen, dessen Bewässerung in Florida ein kleines Vermögen kosten würde. Ein vollkommen rechteckiger grüner Zaun grenzte das Grundstück von dem anscheinend identischen Nachbargrundstück und der schmalen Parallelstraße ab.
Nur . Warum war das Zaunfeld so beschädigt? Eines der grünen Maschendrahtteile war heruntergebogen, als hätte sich ein Mensch einen Wippsitz formen wollen. War das gestern schon so gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.
Ich steckte mir das letzte Stück Brot in den Mund und öffnete das Schiebefenster. Barfuß trat ich auf den Rasen und merkte schon nach zwei Schritten, dass man so etwas auf Kodiak besser nicht allzu oft tat. Brrr, war das kalt! Trotzdem setzte ich meinen Weg fort und musterte das Zaunfeld genauer. Es wirkte, als wären die einzelnen Maschen mit Gewalt herausgebogen worden. Gänsehaut, die nichts mit der Kälte zu tun hatte, kroch meine Arme herauf. Das konnte ein Mensch unmöglich ohne Werkzeug geschafft haben. War hier jemand eingebrochen? Vergangene Nacht?
Unsicher blickte ich die Straße hinunter. Nein, versuchte ich mich zu beruhigen. Der Zaun ging mir kaum bis zur Taille. Ein Einbrecher hätte mühelos darüberspringen können. Der kaputte Zaun musste eine andere Ursache haben.
Plötzlich packte mich jemand von hinten an der Taille. Erschrocken keuchte ich auf. Doch bevor ich laut schreien konnte, wurde mir eine Hand auf den Mund gepresst.
Ich strampelte wild, um mich aus dem schraubstockartigen Griff zu winden. Ohne Erfolg.
Ich versuchte noch einmal zu schreien.
»Psst«, zischte die Person wütend, und unerbittlich wurde ich zurück ins Haus getragen.
Schweiß brach mir auf der Stirn aus.
»Seien Sie leise, verdammt!«, flüsterte eine raue Männerstimme direkt in mein Ohr. Ehe ich mich's versah, rastete die Fensterscheibe mit einem geräuschvollen Klicken ein, und ich wurde in die Ecke meines neuen Wohnzimmers gedrängt.
»Was fällt Ihnen ein?! Lassen Sie mich los!«, rief ich panisch und versuchte, mich zu befreien. Doch der fremde Mann presste mich schnell atmend an die Wand.
»Was mir einfällt? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Wollten Sie mit dem Bären da draußen ein nettes Pläuschchen halten?«
»Mit dem . Was?!« Entsetzt drehte ich mich zum Fenster, und diesmal ließ der Fremde mich gewähren.
Dort in meinem Garten hockte ein Braunbär und blickte aufmerksam in Richtung des Fensters, neben dem wir standen. Entsetzt schnappte ich nach Luft.
»Ruhig!«, flüsterte der Mann wieder. »Wir dürfen ihn nicht provozieren.«
Wie sollte man ruhig bleiben bei dem Anblick eines riesigen Raubtiers in seinem Garten? Für einen Moment hörte ich nur unser beider keuchenden Atem. Dicht an dicht standen wir weiterhin an die Wand gedrückt. Obwohl der Fremde mich nicht mehr wie ein Schraubstock gepackt hielt, ließ er mich nicht los, als befürchtete er, ich könnte wieder nach draußen zu der Bestie rennen. Doch ich war wie erstarrt.
Die Sekunden vergingen wie in Zeitlupe. Der Bär stand mit lauerndem Blick da - eine Pfote in der Luft - und lauschte. Er wartete. Wir warteten. Konnte der Bär die Scheibe einschlagen, wenn er sich von uns bedroht fühlte? Wahrscheinlich.
Erschrecke niemals einen Bären, das war der oberste Grundsatz gewesen, den ich in der Touristenbroschüre im Flugzeug gelesen hatte. Wie hatte ich diesen braunen Koloss übersehen können?
Langsam trat der Bär einen Schritt auf das Fenster zu. Jeder Muskel in meinem Körper verkrampfte sich.
Es knallte. Vor Schreck zuckte ich zusammen. Auch der Kodiakbär drehte den Kopf.
Es dauerte einen Moment, ehe ich das Geräusch als zuschlagende Autotür einordnen konnte.
»Waa. Was macht ein Bär in meinem Garten?«, stammelte ich. Meine Stimme war nur ein leises Krächzen. Obwohl der Bär sich auf das kaputte Zaunstück zubewegte, den Blick neugierig in Richtung des nun anfahrenden Autos gerichtet, zitterte ich am ganzen Körper.
»Wie können Sie so kopflos sein und einfach nach draußen rennen, wenn Sie schon aus der Ferne sehen, dass ein Bär Ihren Zaun kaputtgemacht hat!?« Der fremde Mann stieß sich von der Wand ab, das Fenster stetig im Auge behaltend.
»Mir . Ich .« Immer noch versuchte ich zu begreifen, was eben geschehen war. Auf einmal wurde mir schwindlig. Halt suchend stützte ich mich an der Wand ab. Meine Knie drohten, unter mir nachzugeben.
»Sie müssen langsamer atmen, Ms.« Auf einmal klang seine Stimme viel tiefer. Er trat wieder auf mich zu und fasste sanft nach meinen Unterarmen. »Sehen Sie mich an.«
Stumm folgte ich seinem Befehl. Mein Blick traf auf einen Wirbelsturm. Seine dunkelblauen Augen hatten die Farbe von Wolken, die sich über dem Meer zum Sturm zusammenbrauten. Ich konnte die angespannten Emotionen, die darin wallten, beinahe greifen. Darüber zogen sich dichte dunkle Augenbrauen, und er hatte die Stirn grimmig zusammengezogen. Die kurzen schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab. Mein Blick glitt über die kantigen Gesichtszüge hinunter zu dem glatt rasierten Kinn, auf dem sich trotz fürsorglicher Rasur ein dunkler Bartschatten abzeichnete.
Mein Retter war ein auffällig attraktiver Mann, und während ich immer noch von ihm gehalten wurde, nahm ich seine Nähe überdeutlich wahr. Raue, warme Hände hielten mich, als befürchtete er, dass ich jeden Moment umkippen würde. Sein T-Shirt spannte um seine kräftigen Oberarme und die breite Brust.
Langsam beruhigte sich etwas in meinem Inneren, und mir wurde unangenehm bewusst, wie sehr ich diesen fremden Mann anstarrte. Ein Kodiakbär in meinem Garten hatte eindeutig einen schlechten Einfluss auf meine Manieren.
»Danke.« Ich räusperte mich verlegen und sah dem Mann, den ich auf Mitte dreißig schätzte, wieder in die Augen. »Ich würde Ihnen ja gern einen Kaffee anbieten, aber leider habe ich außer etwas Brot und Marmelade noch nichts weiter im Haus.«
»Erst mal nehme ich ein Telefon. Wir müssen die Wache der Base erreichen.«
»Was machen die mit dem Bären?«, fragte ich zögerlich, während ich an dem breitschultrigen Mann vorbei in Richtung des Küchentresens sah. Dort irgendwo musste mein Handy liegen.
»Wenn möglich, ihn vertreiben. Wenn nicht . ihn erschießen.« Während er sprach, versicherte er sich mit einem weiteren Blick aus dem Fenster, dass uns der Bär keine Beachtung mehr schenkte, dann trat er zur Seite.
Zögerlich lief ich in die Küche. Der Mann, von dem ich anhand seines Outfits vermutete, dass er mein Nachbar war, folgte mir. Wie ich wirkte er in seinem schlichten schwarzen T-Shirt, der Jeans und den Hausschuhen, die er trug, nicht warm genug angezogen für das Wetter. Ich sah an mir hinab und seufzte innerlich. Natürlich. Ausgerechnet, wenn ein gut aussehender Mann mir zu Hilfe eilte, trug ich meine ausgewaschene graue Jogginghose mit dem weitesten Schlafshirt, das ich besaß. Dabei fielen mir meine ungekämmten Haare ins Gesicht und erinnerten mich an den zerknitterten Anblick, den ich heute Morgen im Spiegel hatte betrachten dürfen.
Ich entsperrte mein Handy und sah fragend zu meinem Retter.
»Darf ich?« Abwartend blickte er mich an. Ich reichte ihm mein Telefon, und er wählte aus dem Kopf eine Nummer. Es dauerte nicht lange, und am anderen Ende nahm jemand ab. »AST1 Owen Henderson. Wir haben hier einen jungen Bären im Garten der 301.« Er wartete einen Moment. »Nein, bisher nicht.« Obwohl sein Gesprächspartner ihn nicht sehen konnte, nahm der Petty Officer Haltung an, während er sprach.
Die Navy musste ihm in Fleisch und Blut übergegangen sein. Ich wusste nicht, wofür »AST« stand,...