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»Wieso denn Bitterschokolade, sag mir, perché?« »Weil der Kaffee die Papillen auf der Zunge fast ein bisschen betäubt, Livi, capisci?« »Und Schokolade weckt sie wieder auf?« Er lacht und nickt dann. »Ja. So kann man es sagen.«
(Eissorte Dolcezza di caffè con cioccolato fondente, zum ersten Mal hergestellt in der Artigiani del Gelato im Mai 1992)
Livia schlug die Augen auf und fragte sich, was sie geweckt haben mochte: das Kreischen der Möwen, das vom nahe gelegenen Meer zu ihr gelangte, oder doch der Kaffeeduft, der aus der Küche ihrer Nachbarin kommen musste. Die gute Patrizia schlief schlecht, wie Livia wusste - nein, wie eigentlich jeder wusste, der sich lange genug mit der alten Dame unterhielt. Livia schnupperte und rechnete sich aus, dass der einladende und unvergleichliche Geruch es ungehindert aus Patrizias Küche und dann wieder hinein in ihr Schlafzimmer geschafft hatte. Streng genommen kein großes Kunststück, denn sie lebten in einer typisch italienischen Gasse, wo die Häuser so eng aneinandergebaut waren, dass kaum ein Blatt zwischen sie und die Nachbarn passte. Für viele mochte diese Bauweise vielleicht beklemmend sein, nicht aber für Livia, die ausgesprochen gerne hier mitten in Amalfi mit ihrer nonna Filippa lebte.
Livia gähnte und streckte sich. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, es konnte also kaum später als halb sechs sein, doch war es für sie Zeit, aufzustehen. Leise kroch sie also aus dem Bett, um Filippa nicht zu wecken, die, im Gegensatz zu Patrizia, sehr gut und lange im Schlafzimmer nebenan schlief, ging ins Bad, zog sich an und verließ das Haus. Die Via Lorenzo d'Amalfi war noch menschenleer, und man hörte die Möwen weithin kreischen. Im Laufe des Tages würden sie sich etwas zurückziehen, um erst bei Sonnenuntergang wieder ihre eleganten Runden zu drehen.
Wenig später betrat Livia eilig den antiken Palazzo und genoss weiterhin die Ruhe, die so früh am Morgen auch hier noch herrschte. Die Stille im Eingangsbereich aus hellem Marmor, der durch die hohen Decken etwas geradezu Majestätisches ausstrahlte, war angenehm, ebenso die dezente Kühle, die gegenüber der sommerlichen Temperatur draußen wohltuend war. Livia liebte jeden Winkel des Palazzo La Fontana, der sich in privilegierter Lage gleich zu Füßen des Amalfi-Doms befand. Hier war sie aufgewachsen, hier hatte sie fast jeden Tag verbracht, seit sie denken konnte.
»Buongiorno, Signorina Livia!«, hörte sie leise, aber deutlich.
Die Stimme erkannte sie sofort, noch bevor sie sah, zu wem sie gehörte: Es war Andrea, der Pförtner, der seinen Dienst antrat. Er gehörte zum Palazzo wie das Meer zur Küste. Er kam aus der Hotelhalle in den Eingangsbereich, während sie diesen nutzte, um zur Hintertür ihrer Gelateria zu gelangen. Der Palazzo beherbergte, neben dem Traditionshotel La Fontana, verschiedene kleine Geschäfte, die allesamt auf die Piazza gerichtet waren, auf der sich ein Brunnen - also eine Fontana - befand. Der Palazzo war eine kleine Welt für sich. Eine große Familie fast. Das spürten wohl auch die unzähligen Touristen, die Jahr für Jahr im Hotel logierten, genauso wie die vielen Kunden der Geschäfte, die sich bunt und pittoresk aneinanderreihten. Denn wer einmal im Urlaub in die Welt des La Fontana eingetaucht war, der kam auch wieder. Irgendwann. Und selbst wenn es erst nach zwanzig oder dreißig Jahren passierte.
»Andrea, buongiorno!«, rief sie und winkte ihm im Vorbeigehen zu.
Er lächelte - das vermutete Livia eher, denn Andreas breiter Schnurrbart bedeckte seine Lippen -, dann hob er die Kappe seiner Uniform und machte einen Diener. Galant wie immer. Auf Andrea war Verlass. Ebenso auf seine Augen, die gleichzeitig Wärme, Freundlichkeit, Verständnis und Stärke ausstrahlten. Sie kannte diese Augen, wusste, wie beruhigend sie wirken konnten, wenn es darauf ankam.
»Viel Arbeit?«, fragte er höflich.
Livia tippelte im Rückwärtsgang durch den Flur, damit sie den Blickkontakt zu ihm nicht verlor und trotzdem weitergehen konnte. Sie hob ihre Arme seitlich, wobei ihre Tasche, die sie stets über die Schulter hängte, mit einem Ruck in ihre Armbeuge fiel. »Wie immer«, bestätigte sie.
Er hob den Daumen und winkte, dann ging er leise pfeifend weiter zu seinem Arbeitsplatz draußen gleich rechts neben der schweren Eingangstür aus Glas. Livia wusste, dass er geduldig und charmant jeden einzelnen Gast begrüßen würde. Sie wusste auch, dass die Gäste ihn teilweise gar nicht wahrnahmen, was sie wirklich schade fand. Wer Andrea nicht kannte, der verpasste viel.
Während sie sich der Hintertür zu ihrer Gelateria näherte, kramte sie schon in der Tasche nach dem Schlüssel, fand ihn natürlich erst, nachdem sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte. Sie beschloss mal wieder, Ordnung in ihrer Handtasche zu schaffen. Irgendwann würde sie bestimmt auch die Zeit dafür finden. Doch war das mit der Ordnung so eine Sache. Man fing an, in der Tasche aufzuräumen, dann plötzlich fand man, dass auch der Schrank das mal wieder nötig hätte, und kaum hatte man kurz nicht aufgepasst, war man versucht, das ganze Leben auf den Kopf zu stellen. Und dazu war Livia nicht bereit.
Sie schob die unbequemen Gedanken von sich, schloss auf, betrat ihr Reich und atmete tief ein. Obwohl sie tagtäglich hier arbeitete, machte ihr Herz immer wieder einen Sprung, wenn sie morgens in das Eislabor kam. Es war sicherlich nicht für alle Menschen so, dass sie voller Freude an die Arbeit gingen. Deshalb war Livia umso glücklicher, sich mit dem, was sie wirklich gut konnte und noch mehr liebte, ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Eis - Gelato - war ihre Welt, und sie war stolze Besitzerin der ältesten Eismanufaktur Amalfis. Artigiani del Gelato, so hieß ihr Laden schon immer, seit die Großeltern ihn eröffnet hatten. Der einfache Schriftzug über dem Eingang stand für Leidenschaft, Professionalität und Tradition. Auf Livias Schultern lastete die Verantwortung, die Eismanufaktur erfolgreich in die Zukunft zu tragen. Sie spürte diese Last jedoch kaum. Je mehr sie produzierte, umso glücklicher war sie, obwohl sie mit der Arbeit kaum nachkam. In letzter Zeit war es für sie regelrecht unmöglich geworden, ein Privatleben zu haben. Das lag daran, dass das Geschäft gut lief, besser noch als die Jahre zuvor. Vor einigen Monaten hatte ein Fernsehteam in Amalfi gefilmt, und es hatte ausgerechnet sie, Livia Lucibello, vor die Kamera geholt, damit sie über ihre Eismanufaktur sprechen konnte. Das Geschäft hatte danach einen bombastischen Aufschwung erlebt. Und ihre kleinen Eismaschinen, die . nun ja . nicht mehr die neuesten waren und in vielen Phasen der Herstellung manuell betätigt werden mussten, brummten und surrten und schafften es kaum, die Massen an Eis zu produzieren, die ihre Gäste verschlangen. Neue, größere Eismaschinen kaufen? Ja, das war natürlich naheliegend. Aber die Gaggia-Maschinen waren ihre Partner, ihre Engel, ihre Helfer. Sie hing daran. Weil ihr Papà sie gekauft und jeden Tag benutzt und beinahe verehrt hatte. Und allein deshalb schon waren sie für sie mehr wert als ein ganzer Sack Diamanten. Es stand also nicht zur Diskussion, sie zu ersetzen, auch weil sie eine Eismanufaktur und keine Eisindustrie betrieb. Den Unterschied schmeckte man! Deshalb legte Livia eine Frühschicht ein, und dann eine Spätschicht, und sie machte eigentlich den ganzen lieben Tag lang nichts anderes, als Zutaten in die Maschinen zu geben, darauf zu achten, dass alles geregelt ablief, und dann die cremige, kalte Eismasse in die Behälter zu füllen. Sie machte das natürlich alles selbst. Nie im Leben hätte sie jemand anderen an die Eisproduktion gelassen. No! Selbst der Gedanke daran ließ sie den Kopf schütteln. Sie würde das schon schaffen. Schließlich war sie eine Lucibello!
Sie blickte sich im Labor um, das weiß gefliest und überschaubar groß, aber sauber und gut durchorganisiert war. Alles, wie ihr Papà es ihr beigebracht hatte. Wenn ihr Privatleben auch manchmal keiner Ordnung zu folgen schien, hier in der Artigiani del Gelato lief alles streng nach Plan. Und mit ganz viel Herz.
»Livia? Bist du da drin?«
Erschrocken blickte Livia auf und rieb sich die Hände an der Schürze ab. Augenrollend nahm sie zur Kenntnis, dass man der Schürze jetzt sehr deutlich ansah, an welcher Geschmacksrichtung sie bis eben noch gearbeitet hatte. Vor ihr standen die letzten gefüllten Eisbehälter, die es in den begehbaren Kühlraum zu verfrachten galt.
»Ja, bin ich! Komm rein«, rief sie und hob zwei Behälter Fragola e basilico hoch. Sie ächzte dabei. Es waren immerhin zehn Liter Eis.
Die Tür öffnete sich, das hübsche Gesicht ihrer Freundin und Geschäftsnachbarin Carolina wurde sichtbar. »Pausa?«
Livia nickte erschöpft. Carolina packte mit an, sodass das Eis schnell verstaut wurde. Livia legte die Schürze weg und ließ sich von ihrer Freundin aus dem Labor führen. Livia hatte noch nichts gegessen oder getrunken, dabei hatte sie schon vier Stunden...
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