Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
San Teodoro
Mafalda Bianchi schwang sich von ihrem alten Damenfahrrad und stellte es bei Micheles Bar an der Hauswand ab, vor der schon die üblichen Rentner an einem der drei wackligen Tische saßen und Karten spielten. Mit Hut auf dem Kopf und Zahnstocher im Mundwinkel.
»Buongiorno, Sindaco. Dein caffè geht auf mich !«, rief Lillo, der Jüngste im Bunde. Er sah ein bisschen aus wie Al Bano und wurde deshalb von allen geneckt. Lillo fühlte sich geehrt, doch singen konnte er nicht.
»Sindaca .«, betonte Mafalda. Bürgermeisterin. Sie bestand seit Neuestem auf die weibliche Form. Das mussten die Bewohner von San Teodoro aber erst lernen. Sehr langsam, fast träge. Wie alles in San Teodoro.
»Was hat sie gesagt ?«, fragte Lillo, selektiv schwerhörig, seit er vor drei Jahren achtzig geworden war, seinen Sitznachbarn und besten Freund Alfio. Der wiegelte nur ab, machte seltsame beschwichtigende Zeichen mit seinen dürren Händen und Armen, die er hin und her schwang wie Fahnen im Wind und dann senkte, damit Lillo begriff, dass alles gut war.
Mafalda ging näher an Lillo heran, beugte sich vor und sprach das Wort noch einmal aus, laut und deutlich. »Sindaca, mit a am Ende.«
»Warum denn das ? Es hieß doch immer schon Sindaco.« In Lillos Gesicht lag ehrliche Verwunderung. Seine randlose Brille rutschte ihm auf die Nasenspitze.
Hätte Mafalda es nicht besser gewusst, hätte sie es ihm vielleicht sogar abgenommen. Aber Lillo hatte es faustdick hinter den Ohren. Und Mafalda kannte ihn immerhin schon seit siebenundfünfzig Jahren - also solange sie lebte. Sie ließ sich auf den leeren vierten Stuhl fallen.
Pio tätschelte ihr Bein. »Nimm es ihm nicht übel. Du weißt doch, wie Lillo ist«, riet er ihr augenzwinkernd.
Mafalda zuckte die Achseln. Eigentlich war es ihr vollkommen egal, wie die Bewohner von San Teodoro sie nannten - dazu kannte sie alle zu gut. Und eigentlich mochte sie das a am Ende von Sindaca auch nicht besonders, das mit dem Gendern beherrschte sie ja selbst kaum. Aber wenn sie nicht dafür sorgte, dass ein Hauch von Feminismus in San Teodoro einkehrte, wer dann ? Politische Nuancen, idealistische Bewegungen und Themen wie Gleichberechtigung erreichten ihren geliebten Heimatort immer nur marginal. Es war, als läge ein magischer Filter über San Teodoro, der immer nur so viel hereinließ an polarisierenden Themen, wie die Bürger nacheinander verarbeiten konnten. Wenn Mafalda nicht alles täuschte, hatte sie erst neulich gehört, wie über Papa Ratzingers rote Schuhe diskutiert wurde - mal wieder. Wie lange das zurücklag, dass er damals damit im Independent gelandet war, vermochte sie nicht zu sagen. Und den neuen Papst, Papa Francesco, ja, den mochten sie, weil er Fußball mochte. So leicht war das manchmal, das Herz der San Teodoresi zu erobern.
Lillo und Alfio diskutierten noch immer über das a oder das o, als Michele mit Mafaldas Caffè kam. Den musste sie nicht extra bestellen, Michele wusste Bescheid.
»Grazie, Michele«, bedankte sie sich. Der Barbesitzer nickte nur. Er war nicht sehr gesprächig, aber dafür war sein Caffè unbeschreiblich gut. Mafalda hatte eine Zeit lang versucht herauszufinden, ob es an der Mischung oder der Maschine lag. Aber auch in dieser Hinsicht gab sich Michele eher zugeknöpft. Niemand nahm es ihm übel. In San Teodoro hob man gern die Schultern und akzeptierte Personen und Situationen einfach so, wie sie waren. Und Mafalda wusste, dass es sich dabei nicht um Gleichgültigkeit, sondern um Toleranz handelte. Und das war so eine Sache, die sie sehr mochte.
Mafalda nippte an ihrem Tässchen und genoss den intensiven, unvergleichlichen Geschmack: ein bisschen herb, ein bisschen süß, vor allem aber vollmundig und kräftig. Dann schloss sie die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Zu dieser Uhrzeit, die Kirchturmuhr hatte ein paar Minuten zuvor neunmal geschlagen, erreichten die Sonnenstrahlen die Piazza des kleinen süditalienischen Dorfes und verwandelten das Ortszentrum wie durch Magie in einen wundervollen typisch italienischen Platz wie aus dem Bilderbuch oder wie auf dem Titelblatt eines Magazins, das Touristen nach Bella Italia locken wollte. Alles sah viel freundlicher aus, von den betagten Sitzbänken über die umliegenden Hausfassaden bis hin zu den Bäumen und der Engelsstatue, die zu Ehren der Kriegsopfer beider Weltkriege von San Teodoro errichtet worden war. Enzuccio, der im Ort für Sauberkeit sorgte und jeden Morgen - egal ob bei Sonnenschein oder Regen - mit seinem großen Besen und der Tonne mit Rädern loszog, um die Straßen und Gassen zu kehren, sorgte dafür, dass der Engel und die ihm zu Füßen liegende Tafel mit den eingravierten Namen stets blitzblank waren. Dabei legte Enzuccio immer besonderen Wert darauf, dass der Name seines Vaters noch ein bisschen sorgfältiger als alle anderen geputzt wurde. Mafalda hatte Enzuccio auch endlich eine Uniform besorgt. Sein Name stand darauf, und auf dem Rücken prangte das Wappen der Gemeinde, was ihn besonders stolz machte.
Mafalda liebte die Piazza, ganz besonders am Freitagvormittag, wenn die Marktstände San Teodoro belebten und fast wie einen Ort wirken ließen, für den noch alles möglich war und dem alle Wege offenstanden. An normalen Wochentagen hingegen sah die Piazza aus wie von einem Westernfilm inspiriert. Manchmal war es so still, dass man nur das Zirpen der Zikaden hörte oder die leise Musik aus der Bar, wenn es selbst Michele zu ruhig wurde. Und Düfte konnten sich ungestört entfalten. Ob es nun der Tomatensugo aus einem Haushalt war oder die Mortadella, die Gerarda in ihrem kleinen Lebensmittelladen aufschnitt, beim Vorbeigehen schnappte man etwas davon auf und nahm es mit. Um das Bild der Ausgestorbenheit vollkommen zu machen, fehlten tatsächlich nur Steppenläufer, die über das Kopfsteinpflaster fegten, überlegte Mafalda. Und daran wollte, nein, musste sie, die Sindaca von San Teodoro, etwas ändern.
Lillo und Alfio wurden laut. Nach dem Streit um das a und das o waren sie auf Umwegen mal wieder bei einem Ereignis gelandet, bei dem sie sich geprügelt hatten - vor mehr als sechzig Jahren. Die Geschichte kannte jeder in San Teodoro, man kam einfach nicht daran vorbei. Alfio hatte sich damals angeblich Lillos Roller geborgt, ohne Bescheid zu geben, weshalb Lillo dann seinen Erzfeind Principio des Diebstahls beschuldigt hatte. Eins hatte zum anderen geführt und . Nun ja, hier waren sie noch immer, sechzig Jahre später, um sich wegen der alten Geschichte zu zanken.
Mafalda wurde warm ums Herz, obwohl sie den beiden alten Sturköpfen weitaus lieber die Ohren lang gezogen hätte. Gelegentlich konnten sie einem auf die Nerven gehen, aber sie waren auch die Seele dieses Ortes, der tief im kampanischen Hinterland lag. So weit, dass er selbst auf den Landkarten nur selten vermerkt war. Statt eines Ortsnamens fand man auf den Karten nur sattes Grün. Und grün war es in San Teodoro definitiv. Sie waren von einer harmonischen Hügellandschaft umgeben, die dicht mit Mittelmeervegetation bewachsen war. Unberührte Natur nannte man das. Ja. Und die Natur war sogar so unberührt, dass die San Teodoresi sich vorsehen mussten, um keinem Wildschwein oder gar einem Wolf zu begegnen. Das letzte Mal war im vergangenen Winter ein besonders prachtvolles Exemplar gesichtet worden, ein riesiges Tier mit grauem Fell. Das Foto, von einem San Teodorese geschossen, war in den regionalen Online-Nachrichten gelandet und hatte die Runde gemacht. Wolf in San Teodoro gesichtet - das waren die Schlagzeilen, die aus dem kleinen Ort kamen. Wie im Märchen fast. Doch brauchte San Teodoro keine Märchen, sondern Fakten.
Als Mafalda vor drei Jahren zur Bürgermeisterin gewählt worden war, hatten alle Einwohner, damals noch einhundertacht an der Zahl, ihr gratuliert. Nur Mafaldas zweiunddreißigjähriger Sohn Fernando hatte gesagt: »Ach, Mamma, da hast du dir jetzt aber was Schönes eingebrockt !« Und so unrecht hatte er nicht gehabt, das musste sie ihm lassen. Sie hatte gehofft und gebetet, dass sie in ihrer Amtszeit nicht um San Teodoros Überleben zu kämpfen haben würde. Aber so war es nun mal gekommen, und Mafalda war keine Frau, die vor Herausforderungen zurückschreckte. In diesem Sinne stand sie voller Elan auf, beugte sich wieder über Lillo und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf seine runzlige, dafür aber glatt rasierte Wange.
»Grazie für den Caffè, du lieber alter Griesgram !«, sprach sie direkt in sein Ohr.
Er lachte laut und tätschelte ihr kurz den Arm. Alles war gut, solange diese alten Herren, die San Teodoro noch am Leben hielten, laut lachen und sorglos an ihrem wackligen Tisch sitzen konnten.
Mafalda schwang sich wieder auf ihr Fahrrad und hielt an der einzigen Anzeigentafel, die sich am Rand der Piazza befand. Fetzen von alten Plakaten bildeten einen einheitlich chaotischen Hintergrund, und sie glaubte sogar, noch die Farben von einem besonders schönen Filmplakat zu erkennen, von einem Film, der vor Jahren in der nächstgrößeren Stadt im Kino gelaufen war. Auf der Tafel klebte prominent ein kleines orangenes Blatt mit einem Spendenaufruf von Don Paolo, ihrem Pfarrer, für die Caritas. Mafalda überlegte, dass sie diesmal wohl eine Sachspende beisteuern würde, und fuhr summend weiter, Richtung Rathaus, das auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes lag. Sie liebte das Gebäude, dem ihre Vorgänger dank öffentlicher Gelder, von denen natürlich ab und an große Teile in privaten Taschen verschwunden waren, zu ursprünglichem Glanz verholfen hatten. Nach...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.