Schweitzer Fachinformationen
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Es ist ein ebenso sonniger Maivormittag, ein Jahr zuvor, als Paulína Klara zum ersten Mal gegenübersitzt. Mit einem schnellen Handgriff holt sie die Unterlagen aus ihrem kleinen, penibel gepackten Koffer, der Stapel säuberlich gefalteter Kleidung enthält. Klara beobachtet, wie Paulína die Papiere sorgfältig sortiert, bevor sie die unterschriebenen und gestempelten Dokumente auf den Tisch legt und zu ihr hinüberschiebt, beschwert durch ihre Hand, die viel älter wirkt als ihr Gesicht. Klara tut so, als würde sie die Schriftstücke überfliegen, in Wahrheit verschwimmen die Zahlen und Worte vor ihren Augen, alles, was sie herauslesen kann, ist, dass sie gleich alt sind, obwohl sie Paulína jünger geschätzt hätte. Paulína lächelt sie an, ihre vollen Wangen lassen ihre Augen kleiner werden, die dünnen Augenbrauen verschwinden unter dem etwas zu langen Pony. Ihre braunen Haare glänzen in dem Streifen Morgensonne, der vom Fenster auf ihren Kopf fällt, ihre Hände liegen ineinander verschränkt auf dem Tisch, und Klara muss feststellen, dass sie eigentlich keine Fragen hat. Etwas an der Beherrschtheit der Slowakin hat eine beruhigende Wirkung auf sie. Die Agentur sagt, Ihr Deutsch sei sehr gut, bemerkt sie, und Paulína erklärt, ich habe in der Schule gelernt, auch später an der Universität, ein paar Semester, aber dann ist erster Sohn gekommen, sagt sie und legt eine Hand auf den weichen Bauch, als wäre er noch immer da drin. Jetzt ist er sechzehn, aber ich habe nicht vergessen. Ihr Akzent gefällt Klara, stellt den Worten nicht das Bein, macht ihr Deutsch zu ihrer ganz eigenen Sprache, in der kein Fehler ganz falsch ist. Und wo sind Ihre beiden Kinder, will Klara wissen, während Sie wochenlang bei uns sind? Schwiegermutter passt auf, sagt Paulína und steckt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, und sie sind große, keine Babys mehr, zwei Wochen ohne mich, kein Problem, wir telefonieren, sagt sie. Das ist gut, nickt Klara und wischt mit einer Handbewegung die Unterlagen vom Tisch. Kommen Sie doch einfach und treffen meine Mutter, schlägt sie vor. Doch schon als Klara vom Tisch aufsteht, beschleicht sie die Angst, ihre Mutter könnte ihr jetzt noch alles verderben, wenn sie schlechte Laune hat. Während sie Paulína die Treppe hinauf vorausgeht, möchte sie fast laufen, ein paar Sekunden vor Paulína oben ankommen, allein mit ihrer Mutter sein, ihr ins Ohr flüstern, sei ein bisschen nett, Mutter, ich bitte dich. Aber Irene sieht nicht einmal auf, als die beiden das Zimmer betreten, in dem sie sitzt und fernsieht. Nach den vorangegangenen zwei Versuchen möchte sie nichts mehr von einer Pflegerin hören, aber bevor Klara etwas sagen kann, legt Paulína den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelt den Kopf. Ich mach das schon, flüstert sie und geht allein weiter. Klara bleibt an der Türschwelle stehen und sieht zu, wie Paulína sich vorsichtig neben Irene setzt, die mit Spannung eine Quizsendung verfolgt. Ein Bein über das andere geschlagen, darüber ihr weites, dünnes Nachthemd, ein Arm über der Brust verschränkt, mit der zweiten Hand stützt sie ihr Kinn ab, ein Fuß wippt leicht und balanciert den daran hängenden Hausschuh. Ihre Lippen bewegen sich, als würde sie mitraten, oder vielleicht spricht sie mit dem blonden Moderator mit, dessen Phrasen sie auswendig kennt. Ein Team aus Vater und Sohn stellt sich seinen mit dramatischer Musik untermalten Fragen, die eigentlich nicht besonders schwer sind. Mit welcher Einheit misst man elektrische Leistung, Watt oder Volt? Wolt, schreibt der erwachsene Sohn auf sein Tablet, und die beiden Frauen lachen gleichzeitig auf, Irene heiser und rau, Paulína spöttisch verhalten. Sohn ist nicht besonders schlau, sagt Paulína, und Irene schüttelt den Kopf, Sie würden sich wundern, was die Leute alles nicht wissen. Sie sagt es in den Fernseher hinein, ohne sich der Pflegerin zuzuwenden, und doch weiß Klara, die sie von der Türschwelle aus beobachtet, dass das Eis gebrochen ist, dass Paulína sich zurechtfinden wird. Sie weiß es einfach, Paulína wird bleiben. Lautlos macht sie einen Schritt nach hinten, lässt die beiden allein, nimmt die Treppe nach unten, setzt Teewasser auf und sieht aus dem Fenster in den Garten, wo Ada auf dem Trampolin in einen Handstand springt. Komm raus, schreit das Mädchen, das durch das Glas seine Mutter erkennt, und zum ersten Mal seit Monaten hat Klara endlich wieder Zeit und Lust dazu, sie schaltet den Wasserkocher aus, öffnet die Terrassentür, durchquert den Garten und klettert zu ihrer Tochter.
Schwarz wollten sie niemanden beschäftigen, darin waren Klara und Jakob sich einig. Eine Agentur soll sich um alle nötigen Unterlagen kümmern, und überhaupt, am Geld soll es nicht scheitern, ihre Mutter hatte es schwer genug gehabt, wenigstens jetzt soll sich jemand richtig gut um sie kümmern. Seit dem Schlaganfall ist sie manchmal orientierungslos und vergisst, wo sie ist, was zu Problemen führt, wenn sie etwa allein losgeht, um einzukaufen. Ganz einfache Dinge wie Kochen, Spazierengehen, ein Bad nehmen sollte sie nicht mehr allein machen, was sie nicht einsieht. Die ständige Überwachung macht sie gereizt, es kann sein, dass sie unwirsch reagiert, wir suchen also jemanden, der, na ja, resilient ist, erzählt Klara der Agenturchefin, die mit einem hochfrisierten blonden Zopf vor ihr sitzt und sich nickend Notizen macht. Mit dem Stift zwischen ihren langen bunten Nägeln schreibt sie die Wörter vergesslich, launisch, resilient auf, und Klara möchte jetzt, wo sie es geschrieben sieht, alles zurücknehmen. Nein, so schlimm ist es nicht, korrigiert sie, sie ist im Kern ein guter Mensch, es ist bloß eine Komplikation als Folge des Schlaganfalls, ein sogenanntes Delir, bestimmt haben Sie schon davon gehört, oder vielleicht auch nicht, die Ärzte sagen auf jeden Fall, es sei durchaus reversibel, es gibt also Aussicht auf Besserung, sagt sie, und die Frau sieht lächelnd von ihrem Block auf, hatten wir alles schon, beruhigt sie Klara, machen Sie sich keine Sorgen.
Der Satz lullt sie ein und klingt noch eine Weile in ihr nach. Während sie zu Hause Gurken für den Salat schneidet, fühlt sie, wie sich etwas in ihrem Brustkorb öffnet. Sie werden jemanden finden, der sich mit sowas auskennt, und sie wird wieder in ihre alte Rolle als Tochter zurückkehren können, die einmal am Tag ins Zimmer der Mutter lugt, sie am Arm tätschelt und ihr Mut macht. So, wie es sein soll und wie die Natur es vorgesehen hat. Sie wird wieder mehr Stunden und Aufträge annehmen und Reinhard schon noch beweisen, dass er sie zur Teilhaberin machen muss. Und sie wird mehr Zeit mit Jakob haben, der sich seit Jahren nach einem zweiten Kind sehnt, ein Wunsch, den Klara bisher erfolgreich abzuwehren wusste. Selbst das kommt ihr an diesem Tag möglich vor, warum eigentlich nicht, sagt sie sich, warum nicht Ada ein Geschwisterchen schenken. Oder vielleicht werden sie endlich wieder verreisen. Reinhard hatte so begeistert von Japan erzählt, dass in Klara eine Sehnsucht erwacht ist, nach einem langen Flug, irgendwohin, wo nichts mit ihr und dem Kremstal zu tun hat. Diese Person, die ihnen von der Agentur vermittelt werden wird, wer immer es ist, wird ihr ihr Leben zurückgeben, und sie wird es nicht einfach wieder aufnehmen, wo es mit dem Schlaganfall ihrer Mutter aufgehört hat. Nein. Jetzt, da sie gesehen hat, wie schnell alles zu Ende gehen kann, wird sie keine Chance mehr vorbeiziehen lassen, denkt sie und säubert das Schneidebrett, wischt das feuchte Messer ab, holt eine Gabel aus der Bestecklade und setzt sich mit dem Gurkensalat an den Tisch. Sie wird noch einmal von vorne anfangen.
Drei Monate lang hat sie es allein versucht. Hat ihre Stunden im Büro reduziert, auf die gefürchteten dreißig Stunden, mit denen man nicht mehr ernst genommen wird. Die Aufträge, die ihr ab diesem Moment zugeteilt wurden, bekamen sonst nur halbkonzentrierte Jungmütter, die jede zweite Woche Pflegeurlaub brauchen, aber sie erklärte ihrem Chef, dass das nur vorübergehend nötig sei, bestimmt gehe es ihrer Mutter bald wieder besser. Reinhard nahm es mit einem schiefen Kopfnicken zur Kenntnis, es ist deine Entscheidung, sagte er, aber du kennst den Markt. Sie kannte den Markt. Als sie vor mehr als zwölf Jahren bei Reinhard angefangen hatte, waren sie nur zu zweit gewesen und eine Handvoll Kunden mit unrealistischen Wünschen. Voll verglaste Wohnzimmerdecke, verschnörkelte Hausfassaden mit Türmchen und Erkern, Kaminplätze im Badezimmer. Reinhard hatte früh begriffen, dass es nicht darum ging, den Kunden realistisch zu stimmen, sondern im Gegenteil, Gesetze und Verordnungen gekonnt zu umschiffen, um...
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