Schweitzer Fachinformationen
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Die Bahnhofshalle ist von der Passage durch eine Glaswand getrennt. Darüber huschen die Lichter der Spielautomaten. Jungs in Trainingsanzügen werfen Jetons ein und setzen den Punisher in Gang. Auf den Bildschirmen tollen Figuren aus dem Terminator herum, aus dem an einer Liane hängenden King of the Jungle und aus dem rot glühenden Tekken.
Ich treibe mich auf dem Bahnhof herum und zerbreche mir den Kopf, wo ich übernachten könnte. Es ist Tauwetter. In der Luft wimmelt es von Grippeviren. Ein böiger Südwestwind schlägt gegen das auf zweiundzwanzig Pfeiler gestützte gläserne Dach des Bahnhofs.
Als es kälter wird, gehe ich mit meinem Koffer in den Imbiss, wo ich einen Tee im Plastikbecher kaufe, mich an einen Metalltisch setze und auf das verzerrte Spiegelbild meiner Hände starre. In der Zeitung, unter dem Muster einer neuen Banknote mit einem Porträt von Wladyslaw Jagiello, lese ich Anzeigen - von einer deutschen Holding, zur Runderneuerung von Reifen, zum Adressieren von Briefen und von den diskreten Mädchen der Firma Monika.
Ein großer Mann mit Brille kommt in den Imbiss, bestellt einen Tee und setzt sich an den Tisch neben mir.
«Haben Sie gesehen, was die aus dem Bahnhof gemacht haben?», sagt er, an die Büffetfrau und an mich gewandt.
Die Büffetfrau schätzt ihn mit einem Blick ab und richtet ihre nicht festgesprayte Dauerwelle, aus der Schuppen auf die Theke fallen. In den an die Wand geklebten Spiegeldreiecken vervielfacht sich ihr eingecremtes Gesicht.
«Ich hatte, wenn man so sagen will, das Glück, den Bahnhof aus der Zeit der Eisenbahn Warschau-Wien zur Genüge kennenzulernen», sagt der Mann und streicht sich über den Bart, an dem ein bernsteinfarbenes Tröpfchen Tee herunterrinnt. «Das alte Gebäude hatte ein Türmchen, das in der Form an eine Lokomotive erinnerte. Früher war das ein Ort mit vielen schönen Details: Fenster, Lampen, Laternen. In dem geräumigen Restaurant liefen Kellner in schwarzen Anzügen zwischen den weiß gedeckten Tischen hin und her.» Er kneift die Augen zusammen und gestikuliert, als würde er uns in den Spiegeldreiecken an der Seitenwand des Imbisses Dias zeigen. «Ich weiß nicht, warum, aber es roch in dem Restaurant eher nach frisch gebrühtem Kaffee als nach Essen. Nebenan befand sich ein Friseur, der - glaube ich - sogar nachts geöffnet hatte. Ach, das waren Zeiten, meine Damen: Die Züge fuhren ein, die Lokomotiven pfiffen, der Dampf zischte, es roch nach Schmiere, das Stimmengewirr und das Treiben der Passagiere, die Pilger, die Frauen vom Land und die Damen aus der Stadt, Gepäckträger, Schaffner und Milizionäre, die zu zweit unterwegs waren, die Bänder der Mützen unterm Bart. Ich weiß noch, dass auf der Seite der Freiheitsallee die Passagiere direkt über die Gleise gingen, wo an einer bestimmten Stelle der Schaffner stand und die Fahrkarten kontrollierte. Das waren damals kleine Kärtchen aus Pappe.»
«Sie ham 'n Gedächtnis wie Papa Schlumpf», kommentiert die Büffetfrau die Erzählung, während sie Coca-Cola-Dosen in die Kühltheke räumt.
Der Mann sieht sie belustigt an und greift sich zum Spaß an die Rockschöße.
«Ich erinnere mich an das alles, meine Liebe, weil ich Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre oft mit meiner Mutter mit dem Zug nach Krakau gefahren bin. Mehrere Jahre lang hat die Arme mich alle zwei Wochen in die Augenklinik gebracht, wo ich operiert wurde. Die Operation ist nicht gelungen, deshalb blicke ich nur mit einem Auge in die Welt.»
Im Radio der Imbissbude ertönt der Jingle für Silvester. Das Neue Jahr 1995, die Zeit der Umwandlung der Eigentumsverhältnisse, der Kundenakquise, des Kabelfernsehens, der Wertpapiere, der Emission von Staatsanleihen, der Joint Ventures, der Investitionsfonds, der Finanzpyramiden und der Prophezeiungen des Weltuntergangs, explodiert auf dem Bieganski-Platz. Resigniert fliehe ich in den Korridor und gehe in den Wartesaal, wo ich mich auf eine der Holzbänke setze und in Lethargie verfalle. Durch die durchbrochenen Lehnen sickern Lichtflecke und huschen wie Kaulquappen über den Fußboden. Der Atem der Passagiere verdichtet sich in der Luft. Zum zweiten Mal seit meiner Ankunft in Tschenstochau denke ich daran, auf das Studium, das mich - abgesehen von einigen Vorlesungen zur altpolnischen Literatur - nicht interessiert, zu verzichten, die Suche nach Herrn Kamil aufzugeben und nach Hektary zurückzukehren.
«Was macht sie denn um diese Zeit allein auf dem Bahnhof?», spricht mich eine ältere, korpulente Frau mit Pagenkopf an. Erstaunt betrachte ich sie eine Weile, denn jedes Teil ihrer Garderobe scheint aus einer anderen Zeit zu stammen: ein weinroter verschossener Nylonmantel, schwarze Schaftstiefel, ein karierter Schal und ein schief sitzendes Filzhütchen mit Feder; sie riecht nach Lavendelseife wie meine Großmutter. «Hat sie keine Angst, sich so allein in der Nacht herumzutreiben?», fragt sie weiter in einem künstlichen, süßlichen Ton.
Etwas beunruhigt mich an ihr, aber ich lasse mich trotzdem auf eine Unterhaltung ein.
«Es hat sich so ergeben, wissen Sie.» Ich verstecke meine von einer Brombeerhecke zerkratzten Hände in der Jacke.
«Sicher hat sie Hunger?» Sie schiebt mir ein in graues Papier gewickeltes belegtes Brötchen zu. «Ist sie heute nach Tschenstochau gekommen?»
«Ich wohne seit Ende September in Tschenstochau. Heute bin ich aus dem Hotel in Sabinów ausgezogen, wissen Sie .» Ich schlucke mit Appetit ein Stück Mortadella, denn ich habe, seit ich mich nach dem Abschied von Cynga in der Bahnhofsgegend herumtreibe, den ganzen Tag kaum etwas gegessen.
«In Sabinów? Da, wo die Russen stationiert sind?»
«Die sind da nicht mehr stationiert, da sind nur Zivilisten, die nach Polen kommen, um Geschäfte zu machen.»
«Und wie ist sie dort hingeraten?»
«Ich hab keinen Platz im Studentenwohnheim bekommen, weil mein Dorf zu nahe an Tschenstochau liegt, und weil ich nicht jeden Tag hierherfahren wollte, habe ich ein Zimmer in einem Arbeiterhotel gemietet.»
Ich hätte gern vom Wega, von Natka, Waldek, Adelka und den Russen erzählt, aber stattdessen stottere ich nur etwas von einem Arbeiterhotel, in dem es furchtbar kalt war, weil nicht geheizt wurde.
«Gut, dass sie ausgezogen ist!» Sie verabschiedet sich schwungvoll, denn draußen heult der Wind.
Eine übermütige Gruppe von Teenies kommt in die Passage, sie tragen unter den Jacken angebrochene Flaschen mit billigem Apfelwein und erzählen einander, wie sie die Sparbüchsen in Jasna Góra geplündert haben. Einer von ihnen, als Zwerg verkleidet, lehnt sich über das Geländer am oberen Ende der Treppe. Die weiße Troddel hängt wie ein Schneeball über dem Abgrund.
«Ich springe, Scheiße, ich springe, niemand kann mich aufhalten! Daria, Daria!», brüllt er durch den ganzen Bahnhof, aber als hinter der Trennwand ein Polizist hervorschaut, verstummt er und verhüllt das Gesicht mit der Mütze.
«Gehen wir lieber», flüstert die Frau.
«Ich weiß leider nicht, wo ich hinsoll. Ich muss bis zum Morgen auf den Zug warten.»
«Ich kann dir ein Zimmer im Dachgeschoss unseres Hauses vermieten.»
Ich blicke sie interessiert an, antworte aber nicht, weil ich weiß, dass ich nur Kleingeld bei mir habe.
«Hör mal, Kind, du kannst hier nicht die ganze Nacht sitzen. Das ist gefährlich. Ich bin Mutter Stanislawa, eine Schwester der Ordensgemeinschaft vom Herzen Jesu.»
«Schwester?»
«Ja, eine Schwester ohne Habit», fügt sie in vertraulichem Ton hinzu. «Und stell dir vor, ich suche seit einiger Zeit eine Studentin, die mir - im Austausch gegen ein Zimmer - bei kleineren Aufräumarbeiten helfen kann.» Sie greift in die Manteltasche und gibt mir einen mit Oblatenresten beklebten Apfel. Ohne auf eine Antwort zu warten, nimmt sie meinen Koffer und zieht ihn über den Bürgersteig auf den Taxistand zu, wo wegen Silvester kein einziger Wagen steht.
Die Neujahrsnacht ist erstaunlich warm und windig-regnerisch. Die Lampen schimmern durch die Dunkelheit wie Birnen auf einem Baum durch das Dickicht der Blätter. In den mit Gardinen verhängten Fenstern flimmern die Fernsehbildschirme. Das Straßenpflaster glänzt im Nieselregen wie die Haut einer Ringelnatter. Betrunkene, mit Brokat gesprenkelte Mädchen hämmern mit ihren Stöckelschuhen auf den Bürgersteig und erinnern, ohne sich dessen bewusst zu sein, an die Geräusche der früheren Stadt, als die Straßen vom Rhythmus der Trolleybusse und der...
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