Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Der Morgenhimmel war von dem üblichen pastelligen Blau der Trockenzeit, als Sybil am Küchenfenster stehen blieb und hinausschaute. Bevor sie ins Northern Territory gezogen war, hatte sie sich die Gegend als farbenprächtige Landschaft vorgestellt: blutrote Erde, strahlend blauer Himmel, smaragdgrüne Bäume und eine schwer über dem Land hängende, gleißende Sonne. Das alles hatte sie auch vorgefunden, aber eben nicht zur selben Zeit.
Die Farbpalette des Northern Territory veränderte sich mit den Jahreszeiten. Während der Trockenzeit war das Licht in der Morgen- und Abenddämmerung blass, wohingegen der Himmel in der Regenzeit oft so schwer von Wolken war, dass man kaum sagen konnte, was für ein Blau er hatte. Wenn es regnete ? und regnete und regnete ?, glänzten die Bäume, und die Erde und selbst die Felsen strotzten vor Lebendigkeit und Wachstum, sodass man sich wie in einem Gewächshaus fühlte. Während der Trockenzeit wurden die Farben der Bäume jedoch so stumpf, als würde sich das verbliebene Blattwerk nicht mehr berechtigt fühlen zu leuchten. Die Regenzeit war mächtig: Sie besaß die Kraft, den Katherine River zu einem reißenden Strom anschwellen zu lassen; in Wasserfällen rauschte er dann die Schluchten hinab, erfüllte die Luft mit bleierner Feuchtigkeit und verwandelte die Agilität der Menschen in Trägheit. Und brachte den Tod mit sich.
Jeder hier kannte jemanden, der gestorben war, als er in Zeiten gewaltiger Niederschläge einen Fluss zu überqueren versucht hatte. Oder ein Kind, das zu einem Wasserloch oder einem Bach gegangen war, die es gut zu kennen glaubte, nur um dann feststellen zu müssen, dass das freundliche Gewässer nun ein reißender Strom war und für kleine Füße etliche Fallen bereithielt: verkantete Äste, verwesendes Vieh, starke Strömungen. Wasser konnte einem sorglosen Kind schnell zum Verhängnis werden ? und einem Erwachsenen ebenso. Das hatte Sybil nach ihrer Ankunft hier am meisten schockiert. Sie war in Sydney aufgewachsen, mit all seinem Verkehr, dem Geschiebe und Gedränge, aber dass jemand dem Wetter zum Opfer fallen könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Schon in ihrem ersten Jahr auf Fairvale waren es zwei Menschen gewesen. Die unangenehme Lektion lautete: Das Northern Territory würde immer die Oberhand behalten. Die Menschen mochten alles dafür tun, das Land und die Jahreszeiten ihrem Willen zu unterwerfen, aber sie würden scheitern. Immer scheitern. Ihnen blieb nichts übrig, als sich zu ergeben und das Beste daraus zu machen. Und das Beste gab es im Überfluss.
Es war unmöglich, sich nicht in diese Landschaft zu verlieben. So viele Farben, so viele Widersprüche; so viele Geheimnisse und Überraschungen. Sybil war nun schon sechsundzwanzig Jahre hier, seit ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, und hatte begriffen, dass sie das Territory nie ganz verstehen würde. Dafür fühlte sie, dass das Land sie verstand. Es kannte ihre Schwächen, natürlich, aber es kehrte auch ihre Stärken hervor. Von sämtlichen Beziehungen ihres Lebens hielt diese die meisten Herausforderungen und Belohnungen bereit. Nicht dass sie dies ihrem Ehemann je gesagt hätte.
Wie aufs Stichwort erschien Joe. Sie lächelte, als sie sah, wie er seinen zerbeulten Akubra-Hut hob und sich am Kopf kratzte. Das tat er oft, vor allem, wenn er nachdachte, wie er mit einem seiner Arbeiter ein ernstes Wörtchen reden sollte, ohne dabei allzu ernst zu klingen. Er war ein freundlicher Mensch, in vielerlei Hinsicht. Sie war froh, mit ihm verheiratet zu sein, froh, dass er sie aus ihrem schwermütigen Dasein gerissen hatte. Damals hatte sie ihn nicht geliebt, aber heute tat sie es. Und nun war es an der Zeit, ihn zum Frühstück hereinzurufen.
Sie winkte überschwänglich durchs Fenster, um seine Aufmerksamkeit zu erregen; sein erhobener Finger deutete darauf hin, dass es ihr gelungen war. Joe drehte sich zu dem Vieh hinter den Weidezäunen und legte die Hände an den Mund; zweifellos rief er nach ihrem Sohn Ben, der den Tag ebenfalls früh begonnen hatte. Die Menschen auf Fairvale standen mit der Sonne auf, wenn nicht gar noch früher, und arbeiteten noch, wenn der Mond schon am Himmel stand. Manchmal fragte sich Sybil, ob sie sich für dieses Leben entschieden hätte, wäre ihr bewusst gewesen, wie unerbittlich es war: sieben Tage die Woche, jeden Tag so viele Stunden. Es blieb wenig Muße, um auch nur ein Buch zu lesen, weil man abends einfach nur erschöpft ins Bett fiel. Für die wesentlichen Dinge war jedoch immer Zeit. Sollte Sybil ein wenig Freizeit gelegentlich vermissen, war ihr doch klar, dass es im Leben nicht darum ging, untätig herumzusitzen. Der menschliche Körper war zum Arbeiten geschaffen, und die ewige Mühsal des Alltags ließ die wenigen entspannten Stunden umso kostbarer erscheinen.
Sybil beobachtete, wie ihr Mann und ihr Sohn das Tor öffneten und den Garten betraten. Obwohl das viele hunderttausend Hektar große Land der Fairvale Station kaum Zäune brauchte, weil es selbst seine natürlichen Hindernisse errichtet hatte, verhinderte dieses Tor, dass Arbeitshunde und verirrtes Vieh durch ihren Garten trampelten, ihre gegen den Willen der Natur und den gesunden Menschenverstand geschaffene Schöpfung. Der Garten mit seinem grünen Rasen zeugte immer noch von der Fruchtbarkeit der soeben zu Ende gegangenen Regenzeit. Doch es würde nicht mehr lange dauern, bis die Trockenheit wieder ihren Tribut forderte und Sybil auf das Brunnenwasser zurückgreifen musste, um ihn in all seiner Pracht zu erhalten.
Bei der Anlage des Gartens war sie so vorgegangen ? so albern das klingen mochte ?, als gehörte er zu einem urigen englischen Cottage und nicht zu einem schmucklosen Haus im Outback. Das große Haus von Fairvale war auf drei Seiten von einer Veranda umgeben, aber das war auch das einzig Besondere an ihm. Der Garten war Sybils Versuch, ein bisschen Kultur in ihre Umgebung zu bringen. Lang gestreckte Beete begrenzten die Rasenfläche. Mitten auf dem Gras stand eine Vogeltränke, in die aber nicht Schwalben ihre Schnäbel tauchten; stattdessen benutzten sie Kakadus als Planschbecken, in das sie sich wieder und wieder mit lautem Krächzen stürzten. Oft schien es, als würden sie Sybil auslachen ? wegen ihrer Illusion, Ordnung und Schönheit erschaffen zu können ?, und vielleicht taten sie es auch. Als junge Ehefrau hatte sie begonnen, den Garten anzulegen, um irgendetwas aus ihrem alten Leben in das neue hinüberzuretten. Hätte sie fünf Jahre gewartet, wäre es ihr nicht mehr so wichtig gewesen. Zu dem Zeitpunkt hatte sie längst begriffen, dass sie nicht in der Lage war, noch über etwas anderes außer sich selbst die Kontrolle zu haben.
Als die Beete fertig waren, hatte sie zu enormen Kosten Schösslinge von Pfauensträuchern und einen Palisanderbaum besorgt. Afrikanische Bäume hätten vielleicht eine Überlebenschance, hatte sie gedacht. Auch Kamelien hatte sie in der Hoffnung gepflanzt, dass sie, fern von ihrem natürlichen Habitat, einigermaßen gedeihen würden. Sie hatten tatsächlich überlebt, auch wenn das nicht immer abzusehen gewesen war.
Den Boden bedeckte Frauenhaarfarn. Sie hatte ihn gewählt, damit er die Beete auffüllte, sie feucht hielt und so vielleicht die anderen Pflanzen zum Wachstum animierte. Der Farn liebte die Regen- und hasste die Trockenzeit. In manchen Jahren hatte sie befürchtet, er würde eingehen, aber er hatte es immer geschafft. Vermutlich hielt eine Pflanze, die schon seit vielen Millionen Jahren auf der Erde wuchs, das bisschen Trockenheit auch noch aus.
Der Rasen war die größte Herausforderung; stets bestand das Risiko, dass er sich in der Regenzeit in Matsch verwandelte. Eines Tages war Joe nach Darwin gefahren und mit genug Rasen zurückgekehrt, um die kahlen Stellen zu bedecken, die nach Anlage der Beete entstanden waren. Manchmal lachte er über Sybil und schüttelte langsam den Kopf, wenn sie über das Wetter fluchte oder gar ein Stoßgebet gen Himmel schickte, ihr Rasen möge vom Regen verschont bleiben.
»Warum lachst du?«, hatte sie ihn mal gefragt, irritiert darüber, dass es ihn amüsierte, wenn sie so wütend war.
»Weil dieser Rasen das Einzige ist, das den Glauben an Gott in dir wachhält.« Dann hatte er noch lauter gelacht, und sie wäre am liebsten davonmarschiert ? weil er wie immer recht hatte. Stattdessen hatte sie die Lippen aufeinandergepresst und sich abgewandt, um eine Kamelie zurückzuschneiden.
Der Garten war über die Jahre hinweg vieles für sie gewesen: eine Quelle des Stolzes und der bitteren Enttäuschung; eine Zuflucht, wenn sie ein paar Minuten für sich brauchte; eine Gelegenheit, Kindern den behutsamen Umgang mit der Natur nahezubringen; ein Ort, an dem sie in der Trockenzeit mit Joe sitzen, den Sonnenuntergang beobachten und den Kakadus lauschen konnte, die unverändert über sie lachten.
Vor allem aber war der Garten ihr Kunstwerk ? das einzige, das sie besaß. In der Einsamkeit von Fairvale, zwei Stunden von der nächsten Stadt entfernt und noch weiter von der Kultur und der gebildeten Lebensart ihrer Kindheit, brauchte sie etwas für die Sinne. Irgendetwas anderes als trampelndes Vieh und räudige Hunde, Kohlenfeuer oder ein Bachbett voller Tierskelette.
Als sich die beiden Männer jetzt der Tür mit dem Fliegengitter näherten, konnte sie hören, dass sie sich über einen der Arbeiter unterhielten. Das hatte sie schon befürchtet: Joe musste ihn unbedingt zur Räson bringen, brachte es aber nicht übers Herz.
»Wenn du es nicht tust, mach ich es«, sagte Ben gerade. »Und ich werde nicht halb so freundlich sein wie du.«
»Nun komm schon«, vernahm sie Joes tiefe, beherrschte Stimme. Er klang so wie früher, wenn Ben sich danebenbenommen hatte und er ihn zurechtweisen wollte. Nun...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.