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Gregory und Stokes
Der schottische Erfinder und Chemiker James Watt arbeitete um 1800 an einem neuen Projekt.
Er hatte es schon durch seine patentierte Verbesserung der Dampfmaschine zu Ruhm und Erfolg gebracht, die der industriellen Revolution auf die Sprünge half und damit die Menschheitsgeschichte in neue Bahnen lenkte. Die Dampfmaschine war die Mutter aller Errungenschaften, von der Dampflok über die Luftfahrt bis zu den AirPods, und blies außerdem über eine Billion Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre, womit sie das Klima unseres Planeten veränderte. Durch Watts Innovation war die Dampfmaschine so viel leistungsstärker, dass wir die Maßeinheit der Leistung nach ihm benannt haben. Watt steuerte zum Werkzeug- und Wissensschatz der Menschheit auch andere wichtige Erfindungen bei, zum Beispiel eine Maschine, die Skulpturen kopieren konnte, und neue Verfahren der Chlorherstellung, um Textilien zu bleichen.
Aber Watt hoffte, sein neuestes Projekt würde alle anderen in den Schatten stellen. Um die Wende zum 19. Jahrhundert setzte er alles daran, eine chemische Verbindung zu finden, um die Lungenkrankheit zu heilen, die die Ärzte Phthisis nannten.
1794 war Watts 15-jährige Tochter Jessy an Phthisis gestorben. Nun war auch sein Sohn Gregory krank und litt an den klassischen Symptomen: hartnäckiger Husten, Nachtschweiß, Fieber und der körperliche Abbau, dem die Krankheit ihren umgangssprachlichen Namen verdankte - Schwindsucht. Gregory war Anfang zwanzig, ein hervorragender Redner und offenbar phänomenal attraktiv - ein Freund beschrieb ihn als »fürwahr den schönsten Jüngling, den ich je gesehen habe«.
Im verzweifelten Versuch, Gregorys Leben zu retten, erfand James Watt ein Gerät, das Lachgas in die Lungen leitete, in der Hoffnung, dass die Veränderung der verfügbaren Sauerstoffmenge den Körper bei der Heilung unterstützen würde. Aber die Behandlung erwies sich als erfolglos. 1804 erlag Gregory der Schwindsucht nach langem Leiden im Alter von 27 Jahren.
Im Jahr 1900 hatte sich für die Phthisis ein neuer Name etabliert: Tuberkulose. In diesem Jahr kam mein Großonkel Stokes Goodrich in einer Kleinstadt im ländlichen Tennessee zur Welt. Das Holzhaus, in dem er aufwuchs, hatte mein Urgroßvater Charles erbaut, der als Landarzt Tag und Nacht durch Franklin County ritt, um Geburtshilfe zu leisten und Kranken Medizin zu geben.
Mein Großonkel Stokes war ein kränkliches Kind. Früher - und ich schätze, bis heute - führte man Krankheiten gerne auf irgendeinen Fehler, eine Schwäche oder ein Laster zurück, die man zum Sündenbock machte. Ein deutscher Arzt aus Eisenach erklärte im 18. Jahrhundert zum Beispiel, die lebensgefährliche Krankheit einer Frau sei »vom lauten Gebell eines Hundes« ausgelöst worden. Im Fall meines Großonkels Stokes gab man einem Freund der Familie die Schuld, der Stokes, als er klein war, mit Kaffee und Süßigkeiten gefüttert hatte. Wenig später erlitt Stokes »den schlimmsten Fall von Typhus, den ich je einen Menschen überleben sah«, wie mein Urgroßvater später in unserer kurzen Familienchronik festhielt.
1918 entging der 16-jährige Stokes ein weiteres Mal nur knapp dem Tod, als er sich bei der Arbeit in einer Munitionsfabrik mit der Spanischen Grippe ansteckte. Er überlebte und trat 1920 eine Stelle als Leitungsmonteur für die Alabama Power & Light Company an. Im gleichen Jahr erkrankte Stokes an mehreren Infekten, die er optimistisch für Bronchitis hielt, aber der hartnäckige Husten ging nicht weg, und als er schließlich Blut zu husten begann, ging er zum Arzt.
So beschrieb mein Urgroßvater, was dann passierte: »Stokes besuchte einen ausgezeichneten Arzt in Gadsden, Alabama, der seine Brust röntgte und Tuberkulose an der rechten Lungenspitze entdeckte. Der Röntgenassistent, der das Bild entwickelte, sagte zu mir: >Dr. Goodrich, Ihr Sohn hat Miliartuberkulose, und ich habe noch keinen Fall gesehen, der länger als zwei Monate zu leben hat.<«
Stokes kam sofort in ein Sanatorium in Asheville, North Carolina, eine von vielen Kurstädten in den USA, die sich zu Tuberkulosekolonien entwickelten. »Trotz der besten Pflege, die Stokes im Sanatorium erhielt, ging es mit ihm bergab, bis er am 18. Mai 1930 über den Fluss zu seinem Herrn ging.«
Mein Großonkel Stokes starb mit 29 Jahren. Ich frage mich oft, wie es für meinen Urgroßvater gewesen sein muss, der Medizin studiert hatte, Arzt war und seinen kranken Sohn trotzdem nicht retten konnte.
Die Menschen haben so viel Macht, dass wir die Nacht erleuchten können, dass wir Lebensmittel kühlen können, dass wir die Atmosphäre verlassen und die Erde im All umkreisen können. Und doch können wir die, die wir lieben, nicht vor Leid bewahren. Das ist die Geschichte der Menschheit, wie ich sie verstehe - die Geschichte eines Lebewesens, das so viel kann, nur das nicht, was es am meisten will.
Seit dem Tod von Jessy und Gregory Watts sind über 200 Jahre vergangen, und fast ein Jahrhundert seit dem Tod meines Großonkels Stokes. Trotzdem sind im Jahr 2023 über eine Million Menschen an Tuberkulose (Tb) gestorben. Tatsächlich starben 2023 mehr Menschen an Tuberkulose als an Malaria, Typhus und Krieg zusammen.
Allein in den letzten 200 Jahren hat Tuberkulose über eine Milliarde Menschenleben gefordert. In seinem Buch Tuberculosis: The Greatest Story Never Told (»Tuberkulose - die größte Geschichte, die nie erzählt wurde«) schätzt der englische Autor Frank Ryan, dass rund ein Siebtel aller Menschen, die je gelebt haben, an Tb gestorben ist. Von 2020 bis 2022 löste Covid-19 Tb als tödlichste Infektionskrankheit der Welt ab, doch 2023 hat Tb sich den Titel zurückgeholt, den sie, soweit wir wissen, seit Anfang der Menschheit gehalten hat: Mit 1.250.000 Toten pro Jahr ist Tb heute wieder unsere tödlichste Infektionskrankheit. Der entscheidende Unterschied zwischen 1804 oder 1904 und jetzt ist nur, dass Tuberkulose heute heilbar ist, und zwar schon seit Mitte der 1950er-Jahre. Wir wissen, wie wir in einer Welt ohne Tuberkulose leben könnten. Es ist unsere Entscheidung, dass wir es nicht tun.
Im Jahr 2000 hielt der ugandische Arzt, Wissenschaftler und Autor Peter Mugyenyi eine Rede, in der er die Weigerung der reichen Welt kritisierte, den Zugang zu HIV/AIDS-Medikamenten auszuweiten. Millionen von Menschen starben jedes Jahr an AIDS, obwohl die sichere und wirksame antiretrovirale Therapie ART die meisten von ihnen hätte retten können. »Wo sind die Medikamente?«, fragte Dr. Mugyenyi. »Die Medikamente sind da, wo die Krankheit nicht ist. Und wo ist die Krankheit? Die Krankheit ist da, wo die Medikamente nicht sind.«
Das Gleiche gilt für Tuberkulose. In diesem Jahr werden Tausende von Ärztinnen und Ärzten Millionen von Tb-Kranken versorgen, und wie mein Urgroßvater seinen Sohn nicht retten konnte, werden viele Patienten nicht gerettet werden können, weil das Heilmittel da ist, wo die Krankheit nicht ist, und die Krankheit da ist, wo das Heilmittel nicht ist.
In diesem Buch geht es um das Heilmittel - warum wir es erst in den 1950er-Jahren gefunden haben und warum wir zugelassen haben, dass seit seiner Entdeckung trotzdem 150 Millionen Menschen an Tuberkulose gestorben sind. Ich fing an, über Tb zu schreiben, weil ich wissen wollte, wie eine einzelne Krankheit still und leise so viel Einfluss auf die Menschheitsgeschichte haben konnte. Aber im Zuge meiner Recherchen wurde mir klar, dass Tuberkulose sowohl eine Form als auch ein Ausdruck der Ungerechtigkeit auf der Welt ist. Und mir wurde klar, dass die Art und Weise, wie wir eine Krankheit betrachten, unsere Gesellschaft und unseren Umgang mit ihr gestaltet. James Watt sah die Schwindsucht als mechanisches Versagen der Lunge, das richtige Verhältnis von Gasen aufzunehmen. Mein Urgroßvater verstand die Kränklichkeit seines Sohnes als Folge von Kaffee und Süßigkeiten in seiner Kindheit. Andere interpretierten Tb als Erbkrankheit, die nur bestimmte Persönlichkeitstypen trifft. Wieder andere dachten, die Krankheit werde von Dämonen, vergifteter Luft, einem Gottesurteil oder Whiskey...
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