1. KAPITEL
Nichts. Kein Laut. Kein Knacken. Kein Klirren von berstendem Glas. Nichts als Stille war zu hören, als Ava Harringtons Herz brach. Abgesehen von dem lustvollen Stöhnen ihres Verlobten.
Mit Tränen in den Augen betrachtete sie die Silhouette der beiden Menschen, die sich innig umschlungen in der versteckten Fensternische küssten. Eigentlich wirkte die Szenerie recht malerisch. Wäre da nicht der Umstand, dass der Mann, dessen kehlige Laute durch den Gang hallten, ab dem morgigen Tag Avas Ehemann hätte sein sollen. Der Mensch, den sie bis zum Ende ihres Lebens lieben und ehren sollte. Zumindest was den Part mit dem Ende des Lebens anbelangte, war sich Ava nicht mehr ganz so sicher. Ein nicht allzu kleiner Teil ihres zerbrochenen Herzens wünschte sich jedenfalls gerade ziemlich heftig, dass der Tod sie schied.
Normalerweise war Ava ein sehr friedliebender Mensch. Doch heute am Vorabend ihrer Hochzeit war es wohl in Ordnung, wenn sie eine kleine Ausnahme machte.
Andrerseits war sie auch recht pragmatisch veranlagt und Vince' Tod würde ihr genauso wenig bringen wie das, was er da gerade mit ihrer Schwester Adriana trieb. In jedem Fall würde sie morgen wohl nicht in weiße Spitze gehüllt zum Traualtar schreiten.
Wie gut, dass sie beim Probe-Dinner bislang keinen Bissen hinuntergebracht hatte. Sich jetzt auch noch übergeben zu müssen, wäre der ganzen Situation bestimmt nicht zuträglich gewesen. Zumindest nicht, was ihre Würde betraf.
Und wenn sie so tat, als wäre nichts geschehen?
Noch während der Gedanke durch ihr Gehirn huschte, wusste sie bereits, dass sie dazu niemals in der Lage sein würde. Der Schmerz in ihrem Innern war viel zu groß, um irgendetwas hiervon zu ignorieren. Wie eine lodernde Flamme brannte er ein immer größer werdendes Loch in ihr Herz, bis nichts weiter übrig bleiben würde als ein Häufchen Asche.
Unaufhörlich rannen ihr Tränen über die Wangen, während sie dastand und Vince dabei beobachtete, wie er eine Hand noch tiefer in Adrianas rote Locken schob. Insgeheim hatte sie schon immer das Gefühl gehabt, dass ihr Verlobter ihre ältere Schwester viel interessanter fand als sie. Aber wer tat das nicht?
Von klein an war Ava bewusst gewesen, dass sie nur ein lächerlicher Abklatsch der strahlend schönen, unglaublich intelligenten und unfassbar faszinierenden Adriana Harrington war. Mit gerade mal dreißig Jahren war ihre Schwester bereits eine berühmte Journalistin, während Ava noch davon träumte, vom Schreiben leben zu können, und in einem Café kellnerte.
Dabei hatte sie genau wie ihre Schwester Journalismus studiert, doch als es darum ging, sich zu bewerben, hatten die ersten Absagen sie so verunsichert, dass sie viel zu schnell das Handtuch geworfen hatte. Zumindest der Meinung ihrer Eltern nach. Doch diese wussten ja nicht, wie schwer es war, wenn man andauernd im direkten Vergleich versagte.
Bereits ihr ganzes Leben lang war es Ava so vorgekommen, als wäre im Schatten ihrer strahlenden Schwester einfach kein Platz für sie. Noch vor ein paar Jahren hatte Ava davon geträumt, als Autorin zu arbeiten und Menschen mit ihren Geschichten zu verzaubern. Da sie aber nie in eine Literaturagentur aufgenommen worden war, war dieser Wunsch irgendwann zu einer schmerzhaften Erinnerung verblasst.
Als Studentin hatte sie noch von einer tollen Karriere geträumt. Doch Vince hatte ihr deutlich gemacht, dass sie mehr der Typ für ein eigenes kleines Zuhause samt Familie war. Während ihre Schwester in der Welt herumgondelte, hatte sie bis zum heutigen Abend vorgehabt, sich ganz darauf zu konzentrieren, ihrem Mann eine liebende Ehefrau und gute Mutter seiner zukünftigen Kinder zu sein. Also das komplette Gegenteil ihrer Schwester, die ein unstetes Leben führte und immer unterwegs war. Von Job zu Job und von Mann zu Mann. Was immer sie haben wollte, Adriana Harrington nahm es sich, ohne um Erlaubnis zu fragen. Und heute war das Ziel ihrer Begierde ganz offensichtlich der Verlobte ihrer kleinen Schwester gewesen.
Unglücklich schaute sie an ihrem langen grünen Tüllkleid hinunter, das sie sich eigens für diesen Abend gekauft hatte. Natürlich war es nicht so sexy wie Adrianas atemberaubender Dress. Sie war einfach nicht der Typ für Anzüglichkeiten. Und eigentlich hatte sie bislang geglaubt, Vince würde das gefallen. Er mochte es, wenn sie sich konservativ kleidete. Er hatte ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie die Verlobte eines Anwalts auszusehen hatte. Bei einem One-Night-Stand schien er allerdings wohl eine Ausnahme zu machen, denn das tief ausgeschnittene Kleid Adrianas konnte man getrost als das genaue Gegenteil von ihrem Outfit bezeichnen. Jetzt raunte Vince voller Verlangen den Namen ihrer Schwester, oder war das hier vielleicht gar keine einmalige Sache?
Ava schluckte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Bestimmt sah sie, im Gegensatz zu der wie immer makellos perfekten Adriana, einfach schrecklich aus. Rote, verweinte Augen und ohne das von den Tränen verwischte Make-up leuchteten ihre Sommersprossen mit Sicherheit wie Warnbojen. Sie hatte keine Ahnung, warum Gene so grausam sein mussten. Während auf der Nase ihrer Schwester nur einige akkurat platzierte Pünktchen verteilt waren, zierte ihr Gesicht eine ganze Armada an Sommersprossen.
In der Fensternische vor ihr ging es mittlerweile richtig zur Sache. Ihr Verlobter hob Adriana hoch und drückte sie gegen die Wand. Etwas, das Ava nur aus Liebesfilmen und Büchern kannte. Warum hatte Vince sich ihr gegenüber niemals so leidenschaftlich verhalten? Adrianas ekstatisches Stöhnen jagte ihr ein Schauder über den Rücken. So zügellos hätte sie sich nie gegeben. Lag es etwa an ihr? War sie zu langweilig?
Schon wieder stieg ein tiefes Schluchzen in ihr auf. Erschrocken schlug sie sich eine Hand vor den Mund. Doch zu spät. Die beiden hatten sie bemerkt. Schlagartig hörte Vince damit auf, das Dekolleté ihrer Schwester einer intensiven Inspektion zu unterziehen, und sah sich um.
Er schaute ihr direkt in die Augen, und in seinem Blick war keinerlei Reue zu erkennen. Nicht einmal Scham, was in Anbetracht der Situation durchaus angemessen gewesen wäre. Vielmehr lag auf seinem glattrasierten Gesicht ein Ausdruck tiefsten Mitleids. Adriana besaß immerhin den Anstand, eine zerknirschte Miene aufzusetzen. Wobei das auch nicht unbedingt dazu beitrug, die Sachlage für Ava erträglicher zu gestalten.
Ohne ein Wort von sich zu geben, ergriff sie die Flucht. Die Hände hielt sie sich fest auf die Ohren gepresst. Sie wollte nichts hören. Das Einzige, das sie sich wünschte, war, so weit wie möglich weg zu sein. Am liebsten hätte sie sich selbst auf den Mond katapultiert, doch sogar der schien ihr noch viel zu nah. Was sollte sie nur tun? Zurück in ihre gemeinsame Wohnung konnte sie jetzt auf keinen Fall!
"Hey Lucy! Wo bist du?" Entspannt lehnte sich Ethan Bennett auf einem der silbernen Metallstühle des Cafés Santa Lucia im Hafen von Savona zurück, das Handy am Ohr.
"Ja, ich bin schon vor Ort", antwortete er auf die Frage seines Gesprächspartners. Hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille ließ er den Blick über die nur wenige Meter entfernten Segelboote schweifen. Die großen Ozeanriesen ankerten viel weiter hinten im Hafen. Natürlich hatte er aber schon einen Rundgang gemacht und "seinem" Schiff einen Besuch abgestattet.
"Was, soll das heißen, du kommst nicht?" Mit einem Ruck setzte Ethan sich auf und lauschte angespannt der Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. "Was machst du in London?" Mit einer Hand rieb er sich übers Kinn. "Ich brauche dich hier in Savona!" Wieder ließ er den Blick schweifen hinauf zu den Möwen, die hungrig ihre Kreise über dem geschäftigen Treiben zogen. Wieder auf die Felicity 1 zu gehen, war etwas, das ganz bestimmt nicht auf seiner To-do-Liste gestanden hatte und schon gar nicht inkognito. Dennoch war er jetzt hier und trank mit seinem alten Freund Maximilian, dem Kapitän des Kreuzfahrtschiffes, Kaffee.
"Du kannst mich doch nicht einfach so im Stich lassen!" Sein Protest klang halbherzig, denn ihm war bereits klar, dass er würde improvisieren müssen. Mit verschlossener Miene hörte Ethan der Höflichkeit halber weiter zu. Er kannte die Leier schon in- und auswendig. Immerhin war Lucy nicht die erste Frau, die mehr von ihm wollte, als er zu geben bereit war. Leider hatte sie dies nur zum völlig falschen Zeitpunkt erkannt. Vor wenigen Tagen war es noch absolut in Ordnung für Lucy gewesen, ihn zu begleiten und sich für die Dauer der Kreuzfahrt über als seine Freundin auszugeben. Doch wie es aussah, schien es ihr nicht länger auszureichen, dass sie nur so taten, als wären sie zusammen. Lucy wollte eine Beziehung mit ihm, obwohl er ihr schon zu Beginn ihrer Affäre erklärt hatte, dass mehr als etwas vollkommen Unverbindliches mit ihm nicht möglich sein würde.
Mit wenigen Sätzen beendete er das Gespräch. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber zu streiten, warum sie beide niemals ein Paar sein konnten. Auch wenn er in entspannter Freizeitkleidung in einem Café saß, so war das hier trotzdem ein Arbeitstreffen.
"Hat deine Begleitung dich versetzt?", dröhnte Maximilian in seinem altbekannten Bass, dem Ethan so gern zuhörte.
"Sieht wohl so aus." Er zuckte mit den Schultern. Doch so entspannt wie Ethan sich gab, war er nicht. Er hasste es, wenn es nicht nach Plan lief. Und schon gar nicht, wenn es um so eine wichtige Sache ging.
Für einen Moment...