Schweitzer Fachinformationen
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Der Mann an der Rezeption vertieft sich in meinen Führerschein und betrachtet skeptisch das Bild einer fast zehn Jahre jüngeren Version meiner selbst. Dann nickt er und reicht mir das rosa Plastikteil zusammen mit einem Besucherausweis, den ich gut sichtbar an meiner Kleidung befestigen soll, zurück.
»Sie wollen also zur TP, der Täterprofilgruppe? Ich ruf mal eben bei Vijay Kumar an, der kann Sie dann abholen.«
Ich nicke ebenfalls und kehre dem Glaskasten den Rücken zu. Vor den großen Türen brennt die Sonne, und obwohl es erst neun Uhr morgens ist, vermute ich, dass die Temperatur schon auf fünfundzwanzig Grad zugeht. Der Sommer in diesem Jahr ist großzügig, Ströme von Licht, Wärme und Pflanzengrün. Es ist zwar erst Anfang Juli, aber die Bucht vor unserem kleinen Haus ist bereits aufgewärmt, und Erik und ich üben fast jeden Abend am Strand Schwimmen, während Markus in den Wellen hin- und herkrault.
»Siri!«
Warme Arme schließen sich um mich, und ich lache, drehe mich um und lächele.
»Willkommen zu deinem ersten Tag hier im Haus. Ich besorg dir dann später eine feste Zugangskarte.« Vijay nickt vage zu meinem Besucherausweis hinüber. Er sieht großartig aus. Seine üppige grau melierte Mähne ist zu einer Art wilden Schmalztolle gekämmt, und seine Haut ist von einem hellen Zimtbraun. Er duftet ein wenig nach Tabak und Rasierwasser.
»Rauchst du wieder?« Ich hebe in übertriebenem Staunen die Augenbrauen.
»Verdammt. Ich hätte nicht gedacht, dass du das merkst.« Er lacht, lässt mich durch die Tür gehen und lotst mich weiter zu einer Treppe. »Bist du nervös? Erster Tag und überhaupt?«
Ich denke über seine Frage nach. Bin ich nervös? Ja und nein. Einerseits überlege ich, worauf ich mich da eingelassen habe. Ich habe mich noch nie mit dem Erstellen von Täterprofilen beschäftigt. Ich bin klinische Psychologin und arbeite seit mehr als zehn Jahren als Psychotherapeutin. Jetzt habe ich das Gefühl, einen großen Schritt ins Unbekannte zu machen. Bei der Polizei zu arbeiten, ist so weit entfernt von meiner alten Wirklichkeit wie überhaupt nur möglich. Zugleich hat sich in meiner Wirklichkeit so viel verändert, so vieles ist auf den Kopf gestellt worden, dass ich das Gefühl habe, dass mich nichts mehr erschüttern kann. Die Dinge in meinem Leben, die ich für konstant gehalten hatte, haben sich in Luft aufgelöst, und die Arbeit zu wechseln, kommt mir im Vergleich dazu fast belanglos vor. Auf eine paradoxe Weise finde ich es fast beruhigend, mich in eine Situation zu begeben, in der ich überhaupt keine Kontrolle über das habe, was passieren kann. Hier rechne ich jedenfalls damit, überrascht und verblüfft zu werden.
Zugleich habe ich Angst. Angst vor dem, was ich hier sehen und hören werde. Ich werde zusammen mit einer Gruppe von Psychologen, Polizisten, Rechtsmedizinern und Kriminaltechnikern bei schweren Gewaltverbrechen Täterprofile erarbeiten. Und ich werde Dinge sehen, die ich vielleicht nicht sehen, mit denen ich nichts zu tun haben will. Ich weiß, dass Vijay ein Risiko eingegangen ist, als er mich als neue Mitarbeiterin für das Team ausgesucht hat. Ich bin ein unbeschriebenes Blatt, habe keine Forschungserfahrung und kenne mich mit der Materie nicht sonderlich gut aus, aber Vijay hat mich und die Gruppe davon überzeugt, dass meine Qualifikationen ausreichen. Er hat mit mir über Intuition und Menschenkenntnis gesprochen, über Kreativität und die Fähigkeit zu unkonventionellen Gedankengängen.
Trotzdem weiß ich nicht so recht, ob er mir die Stelle wirklich wegen meiner Kompetenzen angeboten hat, oder ob es eine Art Rettungsaktion seinerseits ist. Eine Möglichkeit, ein waches Auge auf mich zu haben, dafür zu sorgen, dass ich nicht in einem Nebel aus Alkohol und Depression versinke. Ich bringe es nicht über mich, ihm zu erklären, dass er sich um mich keine Sorgen zu machen braucht, dass in mir eine fundamentale Veränderung stattgefunden hat und dass ich nicht mehr dieselbe Siri bin. Obwohl sich mein ganzes Leben verändert hat, bin ich in einem Punkt sicher: dass ich nie wieder dort enden werde. Ein kleiner Teil von mir scheint stumm geworden zu sein, ohne Resonanz. Dort gibt es keine Gefühle mehr, keine Trauer und keinen Schmerz. Nur Gleichgültigkeit.
»Doch, ich bin nervös.« Ich lächele kurz und nicke. Ich will nicht, dass Vijay auch nur ahnt, was in mir vorgeht.
»Gut, richtig so, finde ich.« Er grinst, und eine Menge weißer Zähne leuchtet in seinem Gesicht auf.
Ich ertappe mich bei der Überlegung, ob er sich die Zähne wohl bleichen lässt. Vijay ist eine seltsame Mischung aus Bohemien und Modegeck. Er spielt gern den zerstreuten Professor, der sich nicht weiter um Äußerlichkeiten kümmert, aber wenn man genauer hinschaut, stellt man meistens fest, dass die abgenutzten Jeans von einer teuren Designermarke sind und dass er über die neuesten Modetrends genauestens informiert ist.
»Komm jetzt, die anderen warten schon.« Er zeigt auf eine angelehnte Tür, und wir betreten einen kleinen Besprechungsraum mit großen Fenstern, die das Sonnenlicht hereinlassen, und mit typischen Büromöbeln aus hellem Holz.
Carin Stolpe steht vor dem Tisch. Hinter ihr an der Wand hängt eine große weiße Tafel voller chaotischer Aufzeichnungen. Blonde Haare rahmen Carins sonnengebräuntes Gesicht ein. Sie sieht auf und erwidert meinen Blick. Ihr Lächeln ist warm, und ich staune darüber, wie jung sie aussieht. Ich weiß, dass Carin um die fünfzig ist, aber sie wirkt mindestens zehn Jahre jünger. Ich frage mich, wie man so gelassen aussehen kann, wenn man dauernd mit Gewalt und Tragik zu tun hat.
»Willkommen bei der Täterprofilgruppe - oder der TP, wie alle hier im Haus sagen. Schön, dass du da bist. Jetzt kannst du endlich auch die anderen aus der Gruppe kennenlernen.« Sie nickt zu den drei anderen hinüber, die am Tisch sitzen.
Ein älterer Mann erhebt sich und nimmt meine Hand. »Hallo, Siri. Willkommen. Örjan Bruse, Polizist und Kriminaltechniker.«
Sein Händedruck ist fest, aber sein Blick landet irgendwo im leeren Raum, als ob er eigentlich nicht mich ansieht, sondern etwas, das sich hinter mir abspielt. Ich mustere ihn. Er ist sicher an die sechzig, groß und schlank. Er trägt ein kariertes Hemd und Jeans, die tatsächlich aussehen, als seien sie gebügelt worden - sie haben vorn eine Bügelfalte. Ich frage mich, ob er vielleicht zu Hause eine übereifrige Frau hat, die sich um die Wäsche kümmert, oder ob er seine Hosen in die chemische Reinigung gibt. Er hat schüttere Haare, und seine goldgerahmte Brille ist hoch auf die Nase geschoben. Ich begrüße ihn, lächele und wende mich dem Nächsten aus der Gruppe zu. Es ist ein Mann in meinem Alter, der so auffällig aussieht, dass ich glauben könnte, er hätte sich in der Tür geirrt, wenn Vijay mich nicht vorgewarnt hätte.
»Hallo. Jimmy Stålfors, Polizist hier in der Gruppe.«
Er trägt ein weißes T-Shirt. Muster von etwas, bei dem es sich um eine riesige Tätowierung handeln muss, lugen aus dem Halsausschnitt hervor und ziehen sich über die Arme wie die Ranken einer Schlingpflanze. Sein glatt rasierter Kopf glänzt im Sonnenlicht, das durch das Fenster strömt. Ich ertappe mich dabei, wie ich seinen Bizeps anstarre, der von einem Totenkopf geschmückt wird. Aus Augenhöhlen und Mund windet sich eine giftgrüne Schlange. Jimmy sieht meinen Blick und lächelt. Er sieht beinahe stolz aus. Wie ein Kind, das durch einen Streich die Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte. Ich nehme an, er ist es gewohnt, dass Menschen ihn anstarren, und genießt es.
»Hallo, Mann!« Jimmy entdeckt Vijay, springt auf, und sie führen eine Art kompliziertes Begrüßungsritual durch, bei dem sich Fingerknöchel und Handflächen berühren. Die Art von Gruß, die ich eigentlich nur von halbwüchsigen Jungs in der U-Bahn kenne. Ich verkneife mir ein Lächeln. Vijay Kumar und Jimmy Stålfors, eine Allianz, die Lust auf mehr macht.
»Willkommen, Siri.« Ein älterer Mann, der eigentlich schon das Pensionsalter erreicht haben müsste, erhebt sich mit einer Geschmeidigkeit, die meinen Neid erregt. Er hat eine schneeweiße Mähne und einen spitzen Bart. Etwas an ihm erinnert mich an eine Figur aus einer Tintin-Geschichte. Er wirkt wie jemand aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Er trägt, trotz der Hochsommerhitze, Hemd und ein elegantes Leinensakko. Seine langen, schmalen Finger enden in sorgfältig polierten Nägeln. Er hebt meine Hand, fasst sie mit seinen beiden, verbeugt sich ein wenig und stellt sich als Juan Martina, Rechtsmediziner, vor. Fast erwarte ich, dass er meinen Handrücken küsst.
»Ich glaube, wir machen am besten da weiter, wo wir eben stehen geblieben sind.« Carin lächelt wieder.
Ich setze mich neben Vijay und ziehe Block und Stift hervor, um Notizen machen zu können. Ich komme mir ein bisschen vor wie am ersten Schultag, umgeben von neuen Mitschülern und Lehrern, und ich will unbedingt einen guten Eindruck machen. Ich schaue zur Tafel hinüber. Dort steht in blauer Schrift ein Name: Jussi Ståhl. Ich weiß, wer Jussi Ståhl ist. Wer Zeitung liest oder Fernsehnachrichten sieht, kann den Mord an Jussi Ståhl einfach nicht übersehen haben.
Carin zeigt auf den Namen und tippt danach mit dem Stift auf die Tafel, wie um der Geste besonderen Nachdruck zu verleihen. »Jussi Ståhl, neunundvierzig. Antiquitätenhändler mit eigenem Laden auf Östermalm. Eine Art Promi, der gern Premieren und Empfänge besucht hat. Lebensgefährte von Miguel Alemany, spanischer Künstler, der seit drei Jahren in Schweden lebt.« Carin legt eine Pause ein,...
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