Schweitzer Fachinformationen
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Er setzt sich im Bett auf. Lauscht unruhig auf Geräusche, hat Angst, seine Eltern könnten das Klingeln hören. Er hat mit dem Wecker im Bett geschlafen. Wie eine harte Kugel lag der unter dem weichen Kissen. Wie ein Geheimnis, von dem nur er wusste.
Das einzige Licht im Zimmer stammt von einem orangefarbenen Weihnachtsstern aus Pappe, der sein Licht im Kinderzimmer verbreitet. Das schmale Bett, das Bücherregal aus Fichtenholz und die bunten, bis an den Rand mit Spielzeug gefüllten Plastikkisten werden davon brandgelb gefärbt. Auf dem kleinen Schreibtisch neben der Tür steht ein Flamingo aus rosa Glas, den seine kleine Schwester ihm zu Weihnachten geschenkt hat. Daneben sitzt Onkel Dagobert mit düsterer Miene auf der Spardose, die wie eine Truhe aussieht, und bewacht das Geld. Der Junge weiß genau, wie viel er in der Spardose hat. Neunzehn Kronen und fünfzig Öre. Der Junge denkt, dass er ein so guter Slalomläufer werden will wie Ingemar. Auch er wird die steilsten Hänge hinuntersausen und die größten Rennen gewinnen. Sein Papa hat ihm versprochen, dass er dieses Jahr in die Skischule darf. Er ist doch jetzt sieben, also groß genug. Nach Weihnachten wird die Familie nach Sälen fahren, und da kann er dann endlich seine neuen Skier ausprobieren.
Der Junge steht auf. Schleicht vorsichtig zum Fenster. Stellt sich dicht vor die Scheibe. Legt die Hand an das kalte, glatte Glas. Draußen ist der Himmel schwarz, und er kann Tausende funkelnder Sterne sehen. Sie kommen ihm vor wie spitze Glasscherben, die jemand über ein schwarzes Tuch verstreut hat.
Den Jungen schaudert es. Er mag es nicht, wenn der Nachthimmel das Haus in Finsternis hüllt. Er hat Angst vor Dunkelheit und Leere, vor allem vor dem, was sich dort draußen versteckt und nicht zu sehen ist. Er richtet lieber den Blick nach unten auf das Grundstück. Der Schnee liegt unberührt da und die Straßenlaterne wirft ihr kaltes Licht auf den weißen daunenweichen Teppich.
Überall Schnee. Der breitet sich wie eine dicke Decke über den Garten. Der Junge ahnt die Umrisse von Büschen und Beeten und von Papas altem Fahrrad vor der Garage. Mama hat in einen der knorrigen Apfelbäume Laternen gehängt. Es sieht so schön aus, wenn die Laternen durch den Schnee leuchten. Wirklich wie Weihnachten.
Es ist halb fünf Uhr morgens. Bald wird Mama aufstehen. Sie muss immer früh raus, um rechtzeitig bei ihrer Arbeit im Krankenhaus zu sein.
Mama arbeitet bei kranken Kindern, und ab und zu weint sie, wenn sie nach Hause kommt. Dann ist tagsüber etwas passiert. Der Junge hat heimlich zugehört, als Mama und Papa geredet haben, und er weiß, dass bei Mamas Arbeit schlimme Dinge geschehen. Es kommt vor, dass Kinder sterben. Dass sie so krank sind, dass sie nicht mehr leben können. Er bekommt Angst, wenn er Mamas Geschichten hört. Auch er ist schließlich schon krank gewesen. Was, wenn es auch bei ihm so schlimm wird, dass er stirbt? Oder vielleicht Mama oder Papa oder Elsemarie? Wenn der Junge über solche Dinge nachdenkt, bekommt er Bauchschmerzen und muss an etwas anderes denken. Wie Autos. Oder Tablettenschachteln.
Er flüstert alle Namen von Tablettenschachteln, die er kennt, wieder und wieder.
Nach einer Weile geht es ihm besser.
Vorsichtig drückt er auf die Klinke und schleicht hinaus auf den schmalen Gang. Elsemaries Zimmertür steht offen, und er kann ihr erleuchtetes Aquarium sehen, das einen eigenen Tisch hat. Die weiße Tür der Eltern ist geschlossen, und er weiß, dass die beiden dahinter tief schlafen. Der Junge spürt den Teppichboden an seinen nackten Fußsohlen kitzeln. Es fühlt sich schön an, wie Samt. Wenn man den Fuß darüberzieht, bleibt eine Spur in dem dicken Teppich. Das sieht witzig aus. Der ganze Teppich sieht witzig aus.
So ein Teppichboden ist auch auf der Treppe verlegt. Papa sagt, das sei gut, dann ist die Treppe nicht so glatt und man braucht keine Angst zu haben, dass man ausrutscht und sich wehtut. Papa findet solche Dinge wichtig. Dass die Treppe nicht glatt ist. Dass auf dem Weg von der Straße zum Haus ordentlich gestreut ist. Dass alle gefährlichen Flaschen mit Reinigungsmitteln in der Garage weggesperrt sind. Der Junge findet, dass der Vater übertreibt. Er ist doch jetzt sieben. Geht zur Schule. Ist alt genug, um zu wissen, dass man nichts trinken darf, was man nicht kennt. Aber er sagt nichts, denn er weiß ja, dass Papa es beruhigend findet, wenn alles seine Ordnung hat.
In der Küche brennt der elektrische Leuchter. Es riecht nach Tee und Apfelsinen und etwas anderem, das er nicht kennt, das ihm aber vertraut vorkommt. Es riecht nach zu Hause. Der Junge geht in die Hocke, öffnet einen Schrank und zieht ein großes rotes, mit Weihnachtswichteln dekoriertes Blechtablett heraus. Er stößt dabei gegen einen Plastikbehälter, und in der Küche ist ein dumpfer Laut zu hören. Dann wird es wieder still. Er wartet. Wartet auf die Stimme seiner Mutter und ihre Frage, was denn los sei, aber alles bleibt still.
Der Junge stellt das Tablett auf den Tisch und nimmt sich einen Teller. Es ist ein brauner Steingutteller, und er findet, der sehe aus wie ein echter Wichtelteller. Dann hockt er sich vor den Küchenschrank. Im Schrank haben die Eltern ihre großen Kessel und Kochtöpfe stehen, die Papa benutzt, wenn er Saft kocht. Der Junge hebt den Deckel von dem größten Kessel und greift hinein. Tastet mit eifrigen Händen, bis er die Papiertüte streift. Triumphierend zieht er sie heraus und fängt an, die schön verzierten Pfefferkuchenherzen auszupacken. Grüner und rosa Zuckerguss. »Schönen Luziatag«, steht in feiner Schnörkelschrift darauf. Es sind insgesamt vier. Eins für jedes Familienmitglied. Mama, Papa, Elsemarie und ihn selbst. Er legt die Herzen auf den grünen Steingutteller. Versucht, sie besonders schön aussehen zu lassen, indem er sie anordnet wie ein vierblättriges Kleeblatt.
Der Junge hat Geld aus seiner Spardose genommen und die Herzen in der kleinen Konditorei in der Innenstadt gekauft, an der er jeden Tag auf dem Schulweg vorbeigeht. Er hat lange gebraucht, um sich zwischen den unterschiedlichen Pfefferkuchen hinter dem Tresen zu entscheiden, er wollte ja alles ganz richtig machen. Als er sich am Ende entschieden hatte, gab er das Geld der grauhaarigen Tante, die immer hinter dem Tresen in der Konditorei steht. Sie heißt Hilma, und ihr Mann, der Konditor, heißt Erik, und er bäckt alle Kuchen und Brötchen, die es in der Konditorei gibt. Hilma lachte über den Jungen, als sie seine Ein-Kronen-Stücke sah, aber es war ein liebes Lachen.
»Willst du deine Eltern überraschen?«
Sie lachte noch immer, und dabei war ihre Zahnlücke im Oberkiefer zu sehen. Er nickte eifrig.
»Ja, zu Luzia. Mama und Papa und Elsemarie.«
»Was du nicht sagst. Das wird ja ein schönes Fest werden!«
Hilma griff zu einer silbernen Zange, nahm vorsichtig einen Pfefferkuchen nach dem anderen und legte sie in die Tüte.
»Aber dann brauchst du doch auch eine Überraschung.«
Sie bückte sich unter den Tresen und zog eine Tüte mit Lutschern heraus. Der Junge nahm sich einen orange gestreiften und bedankte sich artig, dann legte er die Tüte vorsichtig in seine Schultasche und machte sich auf den Heimweg, während er an seinem Lutscher leckte.
Er arbeitet weiter an dem Tablett. Mama und Papa trinken morgens Kaffee, aber er weiß nicht, wie man Kaffee kocht. Stattdessen nimmt er zwei Flaschen Weihnachtsmalzbier aus der Speisekammer. Die fühlen sich kühl an. Mama hat erklärt, dass es in der Speisekammer eine Luke gibt, die kalte Luft hereinlässt. Je kälter es draußen wird, umso kälter ist es auch in der Speisekammer. Und jetzt ist es draußen schweinekalt. So kalt, dass schon jede Menge Schnee gefallen ist.
Er hat sich so nach Schnee gesehnt.
Danach gesehnt, mit dem Schlitten den steilen Hang im Wald hinunterzusausen, im Garten liegend Schnee-Engel zu machen und Elsemarie mit Schneebällen zu bewerfen. An das Letzte denkt er fast zaghaft, wie aus Angst, dass jemand seine Gedanken hören könnte. Er will Elsemarie nicht wehtun, aber manchmal macht es Spaß, sie aufzuziehen. Er liebt seine kleine Schwester, und wenn irgendwer gemein zu ihr wäre, würde derjenige es mit ihm zu tun bekommen. So ist das.
Er stellt vier kleine Gläser auf das Tablett und betrachtet dann sein Werk. Ein Teller mit vier Pfefferkuchen. Zwei Flaschen Malzbier. Vier kleine Gläser. Es sieht schön aus, aber doch noch nicht so schön, wie wenn seine Eltern für ein Festmahl decken. Er überlegt, was fehlt, und dann geht er zu einer Schublade, sucht darin und findet schließlich eine Packung Servietten. Die sind nicht sonderlich weihnachtlich, mit ihren Bildern von Walderdbeeren, aber er findet sie trotzdem schön. Er faltet sie zusammen, wie Mama das macht, und legt sie dann auf das Tablett.
Jetzt sieht es noch schöner aus, aber noch immer fehlt etwas.
Er schaut sich in der Küche um und entdeckt dann den Adventsleuchter, der auf dem Tisch aus Kiefernholz steht. Zwei Kerzen sind unberührt, die darf man noch nicht anzünden. Man muss bis zum dritten und vierten Advent warten. Der Junge stellt den Adventsleuchter auf das Tablett. Drückt ihn zwischen Servietten und Teller, wo er gerade genug Platz hat. Kuchen, Getränke, Servietten, Kerzen. Das sieht wirklich schön aus, und so lecker, dass er gern einen Pfefferkuchen probieren würde, wie ein richtiges Baby.
Aber das wird er natürlich nie im Leben tun.
Jetzt muss er noch Streichhölzer holen. Er weiß genau, wo Papa die aufbewahrt, aber er kommt nur mit Mühe an das oberste Schrankfach. Er klettert auf die Küchenbank und versucht, sich zum obersten Fach in dem kleinen Seitenschrank zu recken. Es riecht nach Stearin und Gewürzen und ein bisschen muffig, und eigentlich würde er sich gern die Nase zuhalten, da der...
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