Schweitzer Fachinformationen
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Ein scharrendes Geräusch riss Moritz Huang aus dem Schlaf. Er war Lärm nicht gewöhnt. Abgesehen jedenfalls vom vertrauten Brummen der Reinigungsmaschinen. Wegen des Gesundheitsnotstands und der Ausgangsbeschränkungen war es nachts immer sehr ruhig in der Stadt. Eigentlich auch am Tag.
Dunkelheit umgab ihn. Huang tippte das Bracelet an seinem Handgelenk an. Der kleine Bildschirm erstrahlte fahl. Es war kurz vor fünf. Wieder durchbrachen gedämpfte Laute die Stille. Sie kamen von draußen.
Huang stieg aus dem Bett. Auf dem Weg zum Fenster griff er nach dem Bademantel und schlüpfte hinein: eine reine Vorsichtsmaßnahme, um einer möglichen Verkühlung vorzubeugen. Jede Schwächung des Immunsystems konnte unter den gegebenen Umständen fatale Folgen haben.
Er lugte durch die Lamellen des Vorhangs hinunter auf die Straße. Sie holten jemanden ab. Von seinem Aussichtspunkt im zweiten Stock sah er das Ambulanzfahrzeug vor dem Eingang des Wohnhauses schräg gegenüber stehen. Es parkte direkt vor dem Eingang, mit geöffneter Schiebetür. Vermutlich war Letztere die Verursacherin des Geräusches, das ihn geweckt hatte. Es nieselte leicht und der nasse Asphalt glänzte im Licht der eingeschalteten Scheinwerfer.
Vier Personen mit zwei Tragbahren verschwanden im Gebäude. Sie trugen hellgrüne Schutzanzüge, die den ganzen Körper von Kopf bis Fuß einhüllten. »Antivirus« stand in großen Lettern auf dem Rücken. Der gleiche Schriftzug prangte auf den Seiten und auf dem Dach des Fahrzeugs.
Es war Spätherbst. Zu dieser Jahreszeit brach der Tag erst später an. Trotzdem beschloss Huang, sich nicht mehr hinzulegen. Er scrollte sich am Bracelet zur Fernbedienung des Großbildschirms. Im nächsten Augenblick leuchtete die Stirnwand der Loft-Wohnung fast vollflächig auf. Gleichzeitig ging das Licht an und eine leise Melodie erfüllte den Raum, überlagert von Vogelgezwitscher. Sekunden später meldete sich Mireille, seine persönliche Assistentin mit französischem Akzent. »Guten Morgen, Moritz, Bonjour. In drei Minuten und 41 Sekunden wird das Morgenbulletin des Gesundheitsministers übertragen. Willst du es sehen, mon Chéri?«
»Selbstverständlich.« Aus den Augenwinkeln nahm Huang wahr, dass im Haus schräg gegenüber Licht hinter zwei Fenstern im dritten Stock anging.
Auf dem Großbildschirm plätscherte jetzt ein klarer Bach über eine herbstliche Wiese. Ein Rudel Wölfe mit putzigen Welpen erschien. Die Tiere näherten sich dem Wasserlauf und tranken, begleitet von einer weiblichen Stimme: ». keine Seltenheit mehr, nicht einmal hier am Stadtrand. In den zwei Jahrzehnten seit der Ausrufung des Gesundheitsnotstands ist die Natur wieder zum Leben erwacht. Tiere und Pflanzen erobern neue Lebensräume .«
Unten auf der Straße rührte sich etwas. Huang wandte seine Aufmerksamkeit vom Bildschirm ab und dem realen Geschehen zu. Die vier in Schutzanzügen waren aus dem Haustor getreten. Auf jede der beiden Bahren hatten sie jemanden festgeschnallt. Der Größe nach handelte es sich um Erwachsene. Mehr konnte Huang nicht erkennen, weil die Erkrankten in Foliendecken eingewickelt waren und Atemmasken trugen. Wie es aussah, versuchte sich einer der beiden freizustrampeln.
Unglaublich, wie unvernünftig manche Leute waren, dachte Huang. In den Quarantänesanatorien wurden die Patienten erstklassig medizinisch betreut und versorgt. Es ist doch nur zu ihrem Besten. Und zum Schutz der Allgemeinheit vor Ansteckung.
Die Leute von der Antivirusstaffel schoben die Bahren in ihr Fahrzeug und kletterten hinterher. Die Schiebetür scharrte und fiel ins Schloss. Dann rollte das Elektrogefährt geräuschlos davon. Drei Häuserblocks weiter verschwand es um die Ecke.
Auf der Straße herrschte wieder Frieden, als wäre nichts gewesen. Auch hinter den Fenstern im dritten Stock des Hauses gegenüber war es wieder dunkel. Nur der Regen nieselte weiter im fahlen Schein der Straßenlaternen.
Huang warf einen Blick auf das Bracelet. Kaum drei Minuten waren vergangen, seit das Ambulanzfahrzeug ihn aufgeweckt hatte. »Ganz schön flott, die Burschen«, sagte er in Richtung Bildschirm.
»Ja, die verstehen ihr Handwerk«, antwortete Mireille. »Erstklassig ausgebildet.«
»Wir können stolz auf unsere Antivirusstaffel sein«. Huang trat vom Fenster weg und setzte sich auf das Sofa neben seinem Arbeitsplatz. Am Bildschirm wuchs eine kugelige Gestalt aus dem Hintergrund heraus und schwoll bedrohlich an, bis sie graugrün schimmernd die ganze Wand beherrschte. Der wabernde Ball war über und über mit winzigen, braunroten Tentakeln besetzt, die sich gierig nach dem Betrachter ausstreckten. Zu dramatischer Musik baute sich in riesigen Lettern eine Schlagzeile auf: »Schütze dich vor dem Virus.«
Eine weibliche Stimme durchbrach die Tonkulisse: »Seien Sie vernünftig. Befolgen Sie die Richtlinien der Regierung. Sie dienen Ihrem Schutz und der Sicherheit Ihrer Lieben. Wir danken Ihnen für Ihre Hilfe im Krieg gegen die Viren. Halten wir zusammen!«
Ein neuer Schriftzug baute sich am Bildschirm auf:
»Die Vernunft ist unsere Waffe.
Die Einsicht ist unser Schutz.
Die Einheit macht uns stark.«
Das Morgenbulletin des Gesundheitsministers brachte die aktuellen Zahlen zur Ausbreitung der Infektionen. Eine Weltkarte zeigte die Zahl der Erkrankten in den einzelnen Ländern. Verschiedene Farbtöne spiegelten die Infektionsdichte wider.
Einige geografische Gebiete, insgesamt etwa ein Drittel der Gesamtfläche der Erde, waren in Weiß gehalten und wiesen keinerlei Angaben auf. Diese Regionen gehörten nicht dem Shenzhener Abkommen an. Die Konvention trug den Namen der chinesischen Stadt, wo am Höhepunkt der G4-Schweinegrippepandemie, welche den mehrfachen Wellen von Covid-19 folgte, die große internationale Konferenz stattfand. Sie regelte die gemeinschaftlichen, weltumfassenden Notstandsrichtlinien zur Pandemiebekämpfung. Bei den Nichtunterzeichnern handelte es sich meist um Landstriche, die von Bürgerkriegen und anderen bewaffneten Konflikten heimgesucht waren. Einige Staaten weigerten sich aber auch einfach nur stur, sich der globalen Allianz der Vernunft anzuschließen.
Huang ging nicht in den Kopf, wie sich manche Regierungen wissentlich auf diese Art von gesundheitspolitischem Abenteuertum einlassen konnten. Und warum ließ sich das die Bevölkerung gefallen? Warum stiegen die Leute nicht auf die Barrikaden? Die Grenzen zu diesen Pariastaaten waren militärisch für jede Form von Personen- und Warenverkehr abgeriegelt. Auch Kommunikation auf elektronischem Weg fand so gut wie nicht statt. Niemand wusste, was dort vorging und welche Seuchen dort wüteten.
Verlässliche Daten gab es nur für den Shenzhen-Raum. Drei verschiedene Viren trieben derzeit ihr Unwesen. Die beiden länger bekannten, Bigon-37 und Lecran-38, befanden sich laut Morgenbulletin im Rückzug. Neuinfektionen in nennenswertem Ausmaß gab es nur noch in einigen Staaten Afrikas und Südamerikas.
Anders sah es mit dem neuesten Virus aus. Rabion-40 breitete sich rapide aus. In einigen schwer betroffenen Gebieten Europas, Asiens und Nordamerikas gingen die Opfer in die Tausende. Videobeiträge zeigten hektischen Betrieb vermummter Ärzte und Pfleger in Quarantänesanatorien. Trotz aller Anstrengungen käme man mit dem Abtransport der Toten nicht nach.
Huang legte den Morgenmantel ab und schlüpfte in Trainingshose und Sweater. Im rückwärtigen Teil der Loftwohnung standen einige Fitnessgeräte. Gleich daneben befand sich die Glastür zum kleinen Balkon. Er öffnete diese einen Spaltbreit und spürte, wie die kühle Luft hereinströmte. Sie roch nach Desinfektionsmittel. Nur nicht verkühlen.
Rasch begab er sich zum Laufband. »Langsam anfahren, Cherie, acht Stundenkilometer zum Aufwärmen.«
»Très bien«, flötete Mireille, »alles klar.«
Während Huang gemächlich dahin trabte, verfolgte er weiter das Bulletin am Bildschirm. Ein animierter Beitrag illustrierte, wie sich Rabion-40 im menschlichen Körper ausbreitete.
Die Grafik zeigte den Schattenriss eines Menschen. An der Spitze des rechten Mittelfingers begann ein grün fluoreszierendes Pünktchen zu blinken. Nach und nach nahm die Zahl der leuchtenden Pünktchen in der Fingerkuppe zu, erst langsam, dann immer schneller. Sie kletterten auf verzweigten Pfaden den Arm entlang zur Wirbelsäule und diese entlang zum Kopf.
Eine männliche Offstimme erläuterte: »Das Rabion-40-Virus kann Menschen und Tiere befallen. Ein mikroskopisches Tröpfchen Speichel, Schweiß oder Tränenflüssigkeit, das auf die nackte Haut gelangt, reicht zur Übertragung aus. Nach jüngsten Erkenntnissen können auch Insekten das Virus mit ihren Körperflüssigkeiten...
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