Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Es war nicht einmal meine Idee gewesen. Das war es nie, wenn meine Cousine Camden in der Nähe war.
»Komm schon«, flüsterte sie mir ungeduldig von der Kellertür des Versammlungssaals in St. Anselm in New Haven zu und rollte mit ihren stark geschminkten Augen. Ich saß unter dem surrenden Neonlicht auf einem harten Metallklappstuhl an einem langen Tisch mit einem Dutzend anderer Mädchen im Teenageralter und strickte. Cam breitete die Hände aus, sah mich an und verzog das Gesicht, als wollte sie fragen: Und? Kommst du jetzt oder nicht?
Wir waren in jenem Sommer gerade fünfzehn geworden. Man hielt uns oft für Schwestern, weil wir beide schlank waren und ein schmales Gesicht, dunkles lockiges Haar, große braune Augen und reine helle Haut hatten. Unsere Mütter waren tatsächlich Schwestern, und auch sie hatten einander ähnlich gesehen, als sie jung waren, und sie waren ebenfalls wie wir dazu erzogen worden, keine zu weiten Ausschnitte und keine zu kurzen Röcke zu tragen und darauf zu achten, dass der Saum immer den Boden berührte, wenn sie sich hinknieten.
Nicht dass Cam besonders oft gekniet hätte. Darin unterschieden wir uns. Ich war das brave Mädchen, grübelte ständig über meine Sünden, starb fast vor Angst, wenn ich am Samstagmorgen vor dem düsteren Beichtstuhl wartete, und fühlte mich danach erleichtert, nur um kurz darauf wieder einer Versuchung zu erliegen, als hätte der Teufel es nur auf mein reines Gewissen abgesehen. Ich machte immer fleißig meine Hausaufgaben, übte gewissenhaft Klavier und hatte dabei stets das Bild unerreichter Perfektion vor Augen, das mir jegliche Freude nahm. Zum Zeitvertreib las ich gerne Heiligenlegenden.
Cam hingegen rauchte geklaute Zigaretten, trug jeden Tag, sobald sie das Haus verlassen hatte, Wimperntusche und Eyeliner auf und lief herum, als würde sie zu irgendeiner Musik tanzen, die ich nicht hören konnte. Sie machte sich so zurecht, dass sie älter aussah, schlich sich freitagabends mit mir in den angesagtesten Club der Stadt und flüsterte dem Türsteher, der unsere Ausweise kontrollierte, irgendwas Schmutziges zu. Wenn irgendwer meldete, dass wir minderjährig waren, packte sie mich und rannte mit mir im Schlepptau lachend zum Hintereingang hinaus.
Sie brachte uns ständig in solche Situationen, und obwohl ich sie sehr lieb hatte, hatte ich auch immer Angst davor, was sie als Nächstes tun würde oder was wir anstellen könnten. Cam war sehr geschickt darin, mich zu irgendwas zu überreden oder Dinge mit mir auszuprobieren, was ich alles allein nie gewagt hätte. Und die Nacht, in der ich sie verlor, bildete da keine Ausnahme.
»Ich gehe ohne dich«, warnte sie mich aus dem Gang des feucht riechenden Kellers, und ihre dunklen Augen funkelten verschmitzt. »Ich meine es ernst. Letzte Chance.«
Ich blickte mich nervös um und sah zu den anderen Mädchen, die wie ich alle mit kratziger, nicht zusammenpassender Wolle strickten, während wir uns die Hintern auf den metallenen Klappstühlen abfroren. Obwohl es Juli war, war es hier unten kalt, und an den alten Steinmauern der Kirche rieselten eisige Wassertropfen herab, die auf dem Betonboden Pfützen bildeten.
»Beeil dich«, drohte Cam mit zusammengekniffenen Augen und schmalen Lippen und streckte warnend ihr Kinn nach vorne, genau wie unsere Mütter das taten, wenn sie wütend auf uns waren.
Ich sah mich noch einmal um und zuckte mit den Achseln. »Ich kann nicht.« Wir strickten für kleine ungläubige Babys in Afrika warme Mützchen; unser Glaube sah vor, dass ungläubige Babys unabhängig vom Klima unbeholfen gestrickte Mützchen brauchten.
Cam seufzte theatralisch. »Na schön, wie du willst, ist mir doch egal«, antwortete sie eingeschnappt, bevor sie sich umdrehte und wieder im muffigen, dunklen Gang verschwand.
Vorsichtig legte ich meine Stricknadeln vor mir auf den Tisch und stand auf. Die meisten Mädchen waren mit ihren Mützchen fertig und arbeiteten bereits an den Quasten, ich hingegen hatte erst vier Reihen zustande gebracht, weil ich so viele Fehler gemacht und alles immer wieder hatte auftrennen müssen.
Ich war mit keinem der anderen Mädchen sonderlich befreundet und hatte auch nichts getan, um sie zu veranlassen, mich zu verraten. Also beachtete mich niemand, und unsere Gruppenleiterin Mrs. Hart saß mit dem Kinn auf der Brust zurückgelehnt auf einem Stuhl und schnarchte. Wahrscheinlich glaubten alle, ich sei nur kurz auf die Toilette gegangen, falls sie mein Austreten überhaupt bemerkt hatten.
Kaum war ich draußen, packte Cam mich. Sie roch nach Zigaretten. »Mann, worauf wartest du noch? Oder willst du, dass Creepers uns erwischt?«
So nannte sie Pfarrer Crepinski von St. Anselm. Sobald sie das sagte, hörten wir tatsächlich die alte Holztür über uns knarren und seinen schleppenden Gang auf dem gefliesten Boden, der die Treppe hinunter auf uns zukam - als kleiner Junge hatte er Kinderlähmung gehabt und ein lädiertes Bein zurückbehalten. Ka-bum. Pause. Ka-bum.
»Komm«, flüsterte Cam eindringlich und eilte zu der anderen Treppe. Wenn ich nicht mit ihr erwischt werden wollte, musste ich ihr folgen, denn sie war aufgrund ihres schlechten Einflusses von den Jugendaktivitäten der Gemeinde ausgeschlossen worden.
Fünf Minuten später gingen wir so schnell wir konnten die Whalley Avenue entlang. »Und wenn jemand bemerkt, dass ich weg bin?«, fragte ich besorgt.
»Also bitte«, antwortete Cam verächtlich. »Sie werden einfach denken, dass du zum Beten rauf in die Kapelle gegangen bist oder so.«
Bei den Worten zuckte ich innerlich zusammen. Es war einer jener milden, warmen Abende, an denen alles möglich schien. Typisch, dass du dir Sorgen machst, schien in ihrem Ton mitzuschwingen. Außerdem hatte sie, was mich und die Kapelle betraf, natürlich recht.
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und hielt fachmännisch die Hand vor die Flamme. »Mal ehrlich, glaubst du wirklich, dass dich irgendwer vermissen wird? Das ist das Tolle daran, wenn man ein Langweiler wie du ist, dann fällt keinem auf, ob man da ist oder nicht.« Sie stieß eine graue Rauchwolke durch ihre geschminkten Lippen aus. »Außerdem ist jetzt Creepers bei ihnen, wahrscheinlich hat er seine Gitarre dabei, und alle singen Volkslieder. Ich meine, falls er nicht zu senil ist und sie alle vergessen hat.«
Ich musste unwillkürlich lächeln und hatte plötzlich Mitleid mit dem alten Pfarrer Crepinski. Erst letzten Sonntag hatte er völlig verwirrt die Messe auf Latein statt auf Englisch angefangen, genau wie er es vor gefühlten hundert Jahren im Priesterseminar gelernt hatte. Kyrie eleison, Christe eleison . na ja, der Teil war auf Altgriechisch, fragen Sie mich nicht warum. Es bedeutet Herr, erbarme dich, das wusste ich, weil ich alte Sprachen viel lieber mochte. Für mich war ihr Klang irgendwie geheimnisvoll, so wie sich alles anhören sollte, was mit Religion zu tun hatte. Die englische Version empfand ich hingegen eher so, als würde sich jemand ungeschickt an einem stumpfen Stift festklammern und versuchen, ein Gedicht zu verfassen. Doch das sagte ich Cam nicht. So etwas interessierte sie nicht. Sie wollte immer nur über Klamotten, Musik, Ausgehen und natürlich Jungs reden.
Also fragte ich sie: »Wohin gehen wir offiziell noch mal?« Wenn wir uns davonstahlen, kümmerte Cam sich um die Alibis.
Sie lachte sorglos und beäugte einen süßen Jungen in einem Cabrio, der an uns vorbeifuhr. »Also erst mal habe ich Mom gesagt, ich würde bei dir übernachten, dann war ich bei deiner Mom und habe zu ihr gesagt, ich würde dich im Gemeindesaal abholen und du würdest bei mir übernachten.«
Was im Klartext hieß: Niemand wartete auf uns. Cam hatte richtig Übung darin, etwas so zu formulieren, dass man ihr glaubte.
Auf der Whalley Avenue brummte an diesem frühen Freitagabend wie üblich der Feierabendverkehr und erfüllte die nahende Nacht. In den Autos saßen vorwiegend junge Leute und nickten zu der Musik, die drinnen aus den Lautsprechern dröhnte, mit den Köpfen. Abgase und ölige Restaurantgerüche mischten sich mit dem Zigarettenrauch, den Cam ausstieß, während am dunkler werdenden Himmel nacheinander die ersten Sterne auftauchten.
Cam drehte sich glücklich zu mir. »Also sind wir frei, frei, frei«, sang sie, wobei ihre braunen Augen boshaft blitzten und sie mich mit dem Ellenbogen ein wenig zu heftig anstieß. »Jetzt komm, Janie, kannst du nicht wenigstens ein bisschen lächeln?«
Ich versuchte es, aber vermutlich nicht sehr überzeugend. Doch ich musste zugeben, dass es nachts alleine hier draußen herrlich war, wenn einem niemand sagte, was man zu tun und wie man es zu tun hatte. Wenn ich abends mit meiner Mutter ausging, hatte sie meistens schreckliche Angst, und jedes zweite Wort aus ihrem Mund klang wie eine Warnung - glaubte sie wirklich, dass ich in meinem Alter entführt oder von einem Auto angefahren werden könnte? - oder eine Versündigung, weil ich etwas tat, das mir Freude machte.
Aber in jenem Sommer wurde mir allmählich bewusst, dass man seine ganze Erziehung nicht einfach so abschütteln konnte. Um frei wie Cam zu sein, musste man etwas dafür tun und das auch wirklich wollen, und ich war mir nicht sicher, ob ich dem gewachsen war. Also lief ich schweigend neben ihr her, bis wir den Fußweg erreichten, der in den Edgewood Park führte.
Abseits der Straße duftete es nach frisch gemähtem Gras, feuchter Erde und Chlor aus dem öffentlichen Schwimmbad, das über Nacht geschlossen war. Am weißen Betonpfad entlang, der sich durch die Bäume schlängelte, standen alte Laternenmasten, die den Park in...
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