Schweitzer Fachinformationen
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Vorahnungen
Dein Wirken werde sichtbar an deinen Knechten und deine Pracht an ihren Kindern.
Psalm 90:16
Es waren Vorahnungen, so viel ist mir heute klar. Sie schwebten durch die materielle Welt und kamen flüsternd zu mir. Ich glaube, sie waren gottgesandt. Es waren Botschaften, die sich in meiner Seele und in meinem Geist niederließen, ebenso hartnäckig wie ein Verlust oder eine Erinnerung an etwas Schönes. Sie hatten das Potenzial, meine Zukunft zu formen.
Als Erstes war da meine Mutter. Mary Jane Seiler Grathwohl ging oft mit mir auf dem Arm in ihrem Garten umher. Sie hielt inne, um die hohen weißen Lilien zu bewundern, ließ mich an ihren weißen Gesichtern riechen und wischte mir den gelben Blütenstaub von der Nase.
Frisch verheiratet kauften Jane und Larry Grathwohl in Norwood, Ohio, ein Haus am Ende einer Sackgasse, der Laura Lane. Abends gingen sie häufig spazieren, um in der Nähe Parks ausfindig zu machen, in die sie ihre künftigen Kinder würden mitnehmen können. Zwanzig Fußminuten von zu Hause entfernt entdeckten sie einen heiligen Hügel. Zwei verschiedene indigene Völker, die von Archäologen als Adena-Kultur (von 800 v. u. Z. bis 100 n. u. Z.) und Hopewell-Kultur (von 100 bis 500 n. u. Z.) bezeichnet wurden, hatten im Ohio Country Hunderte von Grabhügeln und zeremoniellen Stätten gebaut. Wie sich diese Völker selbst nannten, ist nicht überliefert. Allerdings konnten Jane und Larry nicht wissen, wie dieser Hügel, der sogenannte »Mound«, meine Zukunft beeinflussen würde. Für mich war die Laura Lane jedenfalls keine Sackgasse.
Der Mound bildete die höchste Erhebung in unserer Nachbarschaft. Als kleiner Park eingezäunt, war er einer der wenigen unberührt gebliebenen heiligen Hügel. Dahinter hatte Norwood die beiden städtischen Wassertürme gebaut.
Wann immer ich entscheiden durfte, wohin einer unserer häufigen Familienspaziergänge führen sollte, schlug ich den Mound vor. Der kegelförmige Grashügel war fast so hoch wie ein einstöckiges Haus. Ahornbäume und Eichen hatten darauf Fuß gefasst.
Selbst in der feuchten Sommerzeit war es dort still und frisch. Wenn wir um den Mound herumliefen, ermahnte uns unsere Mutter, nicht hochzuklettern, weil er etwas ganz Besonderes sei. Meine beiden Schwestern Regina und Susan und ich standen dann dicht neben ihr und sprachen das katholische Totengebet: »Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen. Lass sie ruhen in Frieden. Amen.« Das Gebet konnten wir auswendig, weil wir es vor jeder Mahlzeit beteten, wenn Mom und Dad ihrer Eltern und ihrer sechs Brüder und Schwestern gedachten, die alle schon verstorben waren. Die Ehrerbietung, die wir unseren Familienmitgliedern entgegenbrachten, übertrugen wir auch auf diese unbekannten Toten.
Heute ist mir klar, dass meine Eltern dadurch, dass sie uns die Achtung vor dem Mound beibrachten, bei mir auch die Gabe des Staunens förderten. Ich lernte, dass ein Mysterium in Verbindung mit Stille und Schönheit ein Gefühl für das Heilige hervorrief. Dieser Ort war beim besten Willen keine »Kirche«, aber hier in der Natur und angesichts des antiken menschlichen Brauchs gab es eine Art heilige Präsenz und Kraft, die mich vielleicht noch mehr beeindruckte als die Kirche.
Der Mound entfachte meine Vorstellungskraft. Ich fühlte mich mit den Menschen verbunden, die ihn erbaut hatten und in unserer jetzigen Nachbarschaft gewohnt haben mussten. Wenn ich zurück in der Laura Lane war, zur Schule ging und an den Häusern meiner Freundinnen vorbeilief, sah ich die Kinder der Menschen vom Mound vor mir, wie sie in den Gärten unter den Bäumen spielten oder hinter den Hecken hervorlugten, die vor Straßeneinblicken schützten.
Außerdem rückten der Mound und seine Menschen meinen Geschichtssinn zurecht, denn hier wurde mir eine Geschichte von Menschen geschenkt, die älter war als unsere Familiengeschichten über die Großeltern, die aus Deutschland und dem Elsass ins Ohio-Tal übergesiedelt waren. Diese Geschichte war älter als Amerika, älter als Kolumbus und dichter an unserem Zuhause gelegen als die Erzählungen über das erste Thanksgiving und Pocahontas.
Es war nur das begrenzte Bewusstsein eines Kindes, doch es schenkte mir Achtung und Ehrfurcht gegenüber den Ureinwohnern dieses Kontinents. Es wies auf das Heilige in der Natur und sollte mir später im Leben bei meiner Arbeit mit den Crow und Northern Cheyenne in deren angestammtem Heimatland, das wir Montana nennen, von Nutzen sein.
Mein Großvater mütterlicherseits lebte ebenfalls bei uns im Haus an der Laura Lane. Er hatte bei einem Arbeitsunfall ein Bein verloren. Mit Stock und Beinprothese steuerte er vorsichtig durchs Haus und saß häufig draußen auf der Veranda. Er besaß endlose Erdnussvorräte für das Eichhörnchen, das auf der hohen Eiche nur ein paar Meter von den Verandastufen entfernt lebte. Meine Schwestern und ich saßen auf den Stufen und legten auf Anweisung unseres Grandpas eine Erdnuss an den Fuß des dicken Baumstamms. Sie verschwand im Nu.
Die nächste Erdnuss wurde einen Meter vom Stamm entfernt platziert. Auch sie verschwand schnell. Die nächste noch etwas näher an den Stufen. Weg war sie. Dann legte ich mir eine Erdnuss auf die Schuhspitze. Still saßen wir da, ohne uns zu rühren.
Plötzlich kam das Eichhörnchen vom Baum auf meinen Schuh gesprungen, schnappte sich die Erdnuss, sprang mir aufs Knie, dann auf die Schulter, lief über meine Schultern zum anderen Knie und dann zurück zum Baum. Mit weit aufgerissenen Augen wandte ich mich atemlos und aufgeregt meinem Grandpa zu.
»Das Eichhörnchen ist über mich rübergelaufen«, rief ich und rannte ins Haus, um es meiner Mom zu erzählen. Heute ist mir klar, dass das Eichhörnchen seinen Fußabdruck nicht nur auf meinen Schultern, sondern in meinem ganzen Sein hinterlassen hatte. Das Spüren von lebendiger Natur, von Eichhörnchen wurde ein Teil von mir. Und ich fühlte mich so beschenkt. Es war meine erste Lektion darüber, wie ich Eingang in die Welt von Wesen finden konnte, die sich unserer Kontrolle entziehen.
Jeden Sommer kratzten Mom und Dad Geld zusammen, um mit uns in den Cincinnati Zoo zu gehen. Mit den Jahren hatte sich der Zoo ein wenig gemausert: von stinkenden Gebäuden mit in Käfige eingesperrten Tieren zu großzügigeren Schauplätzen, manchmal auch unter freiem Himmel, die das natürliche Habitat der Tiere imitieren sollten. Die Affeninsel, die von einem tiefen Graben umgeben war, sah aus wie ein Spielplatz und war mit Hügeln, einem Labyrinth aus Tunneln, Bäumen und Schaukeln aus herabhängenden Lianen versehen. In großen, dicht bepflanzten Räumen flogen tropische Vögel umher. In einem miniaturartigen Sumpf lag faul ein Alligator herum.
Ein Steinbau passte nicht ins Schema. Er war klein, hatte ein orangefarbenes, pagodenähnliches Dach und eine schwere Holztür, die wir langsam aufstießen. Drinnen war es kühl und still. Licht drang durch kleine Fenster hinein. Es fühlte sich fast an wie in einer Kirche.
Vor uns sahen wir zwei Vogelausstellungen, und die ausgestellten Vögel waren allesamt tot - ausgestopft und aufgestellt wie in einem Naturkundemuseum, nicht wie in einem Zoo.
Dad und ich schauten uns gemeinsam drei große, wunderschöne Vögel an. In ihrem sanften Blau-Grau mit der rosigen Brust, den langen, spitz zulaufenden Flügeln und dem anmutigen Schwanz sahen sie aus wie Carolinatauben. Dad erklärte mir, es seien keine normalen Tauben, sondern Wandertauben, von denen das letzte Exemplar namens Martha eben hier in diesem Zoo am 1. September 1914 gestorben sei. Er zeigte auf ein Gemälde.
»Das ist Martha«, sagte er.
Er erklärte mir, einst habe es mehr Wandertauben gegeben als sonst irgendeine Landvogelart auf der ganzen Welt. Es waren Milliarden von Vögeln gewesen. Sie hatten in den Wäldern im Osten Nordamerikas gelebt und waren in so großen Schwärmen durchs Land gezogen, dass sie wie bei einer Sonnenfinsternis die Sonne verdeckten.
Unter Milliarden konnte ich mir nichts vorstellen, wohl aber unter riesigen Wolken von Vögeln, die die Sonne verdunkelten. Ich sah sie vor mir, auch wenn es nur eine Vorstellung war. Und ich begriff, dass es sie nicht mehr gab. Nicht einen einzigen von ihnen.
Ich bestaunte noch mehr tote, ausgestopfte Vögel. Unter ihnen befand sich Incas, der letzte Karolinasittich, der am 21. Februar 1918 in demselben Käfig starb, in dem auch Martha verstorben war. Auch von diesen leuchtend grün-gelb-orangenfarbenen Vögeln hatte es einst Millionen gegeben. Ich versuchte zu begreifen, was der Verlust zweier ganzer Arten bedeutete. Vor allem der der Wandertauben. Nirgendwo mehr Wandertauben. Wie hatte das passieren können, wenn es doch so viele gewesen waren?
Der Vater der amerikanischen Ornithologie Alexander Wilson besuchte 1806 ein Brutgebiet der Wandertauben in der Nähe von Shelbyville, Kentucky. Er dokumentierte, dass es einige Meilen breit sei und sich über 40 Meilen durch ein Waldgebiet erstreckte. Allein in einem Baum zählte er mehr als einhundert Nester. Laut Bericht der Bewohner der Region klang ihr Lied, das durch die Bäume drang, wie Hunderte von Schlittenschellen. 1813 dokumentierte James Audubon einen den Himmel ausfüllenden Wanderschwarm, der so groß war, dass er drei volle Tage ohne Unterlass über seinen Kopf dahinflog.
Die indigenen Völker Kanadas weigerten sich, nistende Wandertauben zu jagen, solange ihre Jungen noch nicht fliegen konnten. Sie versuchten, die europäischen Siedler davon abzuhalten, die Schwärme zu stören, denen man sich in der Brutzeit...
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