Schweitzer Fachinformationen
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Es ist grau und kalt, als wir uns im November 2021 ins Gebirge aufmachen. Der Himmel hängt traurig über dem Land. In den Tagen zuvor hat es ausgiebig geregnet. Es sind keine guten Bedingungen zum Klettern, aber wir fahren an diesem Tag trotzdem in die Eifel, um dort zu trainieren. Unser Team besteht aus sechs Leuten. Paul, der Helfer. Tobi, der Regisseur. Simon, der Kameramann. Janek, der Physiotherapeut. Mirjam, die Bergführerin. Und ich, der Extremsportler mit Handicap. Ich habe lange auf diesen Tag warten müssen. Bisher bin ich immer nur in der Halle geklettert und das ist nicht vergleichbar mit einer Klettertour im Freien, an einem richtigen Felsen, unter realen Bedingungen. Dazu noch bei miesem Wetter.
Nun sitze ich also mit den anderen in einem umgebauten Kleintransporter, der vollgestopft ist mit Ausrüstung, aus dem Radio nudelt ein Gute-Laune-Lied, es wird wenig geredet, die Stimmung ist gedämpft. Paul macht eine lustige Bemerkung, um irgendein Gespräch in Gang zu bringen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Herbstlandschaft vorbeiziehen. Bäume und Sträucher stehen kahl in der Gegend herum. Ich frage mich, ob ich es wirklich packen kann. Oder ob das Projekt, das ich mir vorgenommen habe, nicht eine Nummer zu groß für mich ist. Die Besteigung des Zuckerhuts in Rio de Janeiro.
Viel zu viele Gedanken schießen mir auf einmal durch den Kopf. Mein Gesicht spiegelt sich im verregneten Wagenfenster, aber nur die eine Hälfte, die andere liegt im Schatten. Ich hole tief Luft und denke daran, was ich schon alles geschafft habe, wo ich hergekommen bin und wie viele Widerstände ich schon überwunden habe. Mein ganzes Leben lang. Ich entspanne mich. Ich bin dankbar, dass mein Team dabei ist, dass sie sich mit mir auf dieses Abenteuer einlassen. »Leute«, sage ich plötzlich, »ich freue mich tierisch auf den Felsen.« Die anderen drehen sich zu mir herum. Paul grinst: »Johnny, das wird richtig geil.«
Am Felsen läuft es zunächst nicht nach Plan. Nach der Ankunft am Parkplatz haben wir Mühe, den Felsen überhaupt zu erreichen, müssen unsere Ausrüstung auf tiefem Boden bergauf schleppen und werfen dabei immer wieder einen Blick auf die Uhr. Wir sind spät dran. Es ist schon kurz nach zwei am Nachmittag, nicht gerade die beste Kletterzeit. Bald wird es dunkel und wir haben noch einen richtigen Brocken vor uns. Besser gesagt, ich habe noch einen Brocken vor mir. Für andere Kletterer wäre der Felsen eine gute Aufwärmübung. Für mich ist er eine enorme Herausforderung.
Der Felsen, den ich hochklettern will, ist ungefähr 20 Meter hoch, seine Wände sind dunkelbraun, steil, zerfurcht und feucht. Angesichts der widrigen Bedingungen wirkt es nicht so, als habe er auf jemanden gewartet. Für Bergführerin Mirjam kein Problem, sie braucht nicht mal zehn Minuten, um oben anzukommen. Schnell baut sie einen Standplatz auf, hängt zwei Sicherungsseile ein - ein blaues, an dem ich hänge, und das gelbe, an dem Paul hängt. Bevor Paul und ich uns unten an den Felsen heranwagen, gibt Mirjam von oben noch ein paar Instruktionen und Kommandos. Dann gibt sie das Zeichen, dass es losgehen kann. Wir steigen vorsichtig in die Wand ein.
Die erste halbe Stunde ist ernüchternd. Immer wieder rutsche ich ab, und Paul muss mich jedes Mal an den Felsen drücken, um mich in Position zu halten. Meine Kleidung macht jede Bewegung zur Qual. Ich trage an diesem Tag mehrere Schichten: einen Neoprenanzug, darüber Sportkleidung, Gelenkschoner, die Klettergurte und natürlich einen Helm. So muss sich ein Astronaut in seinem Raumanzug fühlen. Nach 30 Minuten sind wir nicht mal ein paar Meter weit gekommen - im Grunde treten wir auf der Stelle. Frust steigt in mir hoch. Es fällt mir schwer, mich zu motivieren. Ich weiß genau, dass alle Augen auf mich gerichtet sind. Darum geht es, darum sind wir hier: wegen mir. Wir wollen sehen, ob ich es überhaupt annähernd schaffen kann. Wir machen hier gerade den Realitätscheck.
Genau vor dieser Situation hatte ich Angst. Ich darf die anderen aus meinem Team nicht enttäuschen, darf sie nicht entmutigen, schließlich will ich beweisen, dass das Projekt kein Hirngespinst ist. Vor allem Mirjam will ich nicht enttäuschen. Sie ist vielleicht die wichtigste Person im Team und sie hat mich bisher nur in der Halle klettern sehen. Dort bin ich zwar gut vorwärtsgekommen, aber die Halle ist anders, nicht zu vergleichen mit dem Klettern am Naturfelsen, wo die Anforderungen höher sind, die Schwierigkeiten vielfältiger. In der Halle war es bestenfalls ein niedriger Grad 6, den ich geklettert bin. Jetzt, nach Monaten des Indoor-Trainings, bin ich immer noch weit entfernt von meiner Kletterform von vor zehn Jahren, als ich das erste Mal richtig austrainiert war.
Erfahrene Kletterer sagen, Klettern sei wie Gehen: Man klettert aus den Beinen, nicht aus dem Oberkörper heraus. Meine Beine sind aber verkrüppelt, um es deutlich zu sagen. Und nicht nur meine Beine, meine Arme und Hände sind es auch. Durch die Spastik haben meine Gliedmaßen eine viel zu hohe Muskelspannung, sie krümmen sich zum Körper hin. Man kann sich das so vorstellen, dass meine Arme, Beine und Hände nicht frei herabhängen oder locker irgendwo aufliegen, sondern sich permanent zum Körper hin verkrampfen. Dadurch klettere ich nicht wie andere Menschen. Ich kann nicht einfach irgendwohin greifen, mich festhalten, stehen, so wie andere Menschen. Oft brauche ich Hilfe, um einen bestimmten Punkt zu erreichen. Kraft und Beweglichkeit sind eingeschränkt. Mein Leistungsvermögen ist sehr stark von meiner Tagesform und äußeren Einflüssen abhängig, wie beispielsweise der Temperatur. Durch meine besonderen körperlichen Voraussetzungen ist mein Energiebedarf zudem zwei- bis dreimal so hoch wie der von nicht-behinderten Sportlern.
Eine gute mentale und physische Form ist auch für mich der Schlüssel, wie bei jedem ambitionierten Sportler. Wenn ich gut drauf bin, gelingen mir die Kletterbewegungen eigenständig, wenn ich nicht in Form oder frei im Kopf bin, gelingt mir das nicht. Dann muss Paul, mein Helfer, der immer neben mir klettert, bei der Koordination meiner Glieder helfen, meinen Arm oder mein Bein richtig setzen. An diesem Tag in Gerolstein muss er mir sehr oft dabei helfen. Die Situation ist für das Team noch neu. Wir suchen den ganzen Nachmittag nach Lösungen, probieren viel aus, scheitern, müssen wieder neu ansetzen. Es ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Aber ich kämpfe. Ich darf jetzt nicht nachlassen.
In den letzten zehn Minuten meines Kletterversuchs klappt es plötzlich besser. Ich klettere nun flüssiger, selbstständiger. Paul und ich grooven uns ein, wir haben irgendwann das Gefühl, dass wir mit dem Felsen zurechtkommen. Doch dann müssen wir schon wieder abbrechen. Es ist zu dunkel geworden.
Auf der Rückfahrt beschleichen mich gemischte Gefühle. Einerseits war der Tag die meiste Zeit enttäuschend, es ging kaum etwas voran und ich musste feststellen, dass ich in Sachen Koordination und Kraft in den Beinen noch weit entfernt davon bin, einen solchen Felsen zu klettern. Dabei ist er vom Schwierigkeitsgrad her weit unter den Anforderungen, die bei unserem Rio-Projekt auf mich zukommen werden. Andererseits, und das ist das Gute, kann ich auf den letzten zehn Minuten aufbauen: Sie haben mir gezeigt, dass ich prinzipiell in der Lage bin, auch steile Wände zu klettern. Das ist das Entscheidende. An diesen zehn Minuten werde ich mich orientieren, auf diese positive Erfahrung werde ich in den nächsten Tagen und Wochen aufbauen. Daraus werde ich meine Kraft schöpfen und die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Wäre jetzt eine gute Fee in der Nähe, bei der ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich sagen: In den kommenden Monaten ordne ich alles dem Kletterprojekt unter. Wir ziehen mit dem ganzen Team in wärmere Gefilde, in die Nähe eines Felsens, um dort so oft wie möglich zu trainieren, am besten mehrmals in der Woche. Ich würde mir wärmeres Wetter wünschen, eine bessere Fitness und leichtere Ausrüstung. Dummerweise ist gerade keine gute Fee zur Hand. Es sind noch neun Monate, in denen ich alles dafür tun kann, dass ich es schaffe. Noch auf der Rückfahrt vom Felsen plane ich ein Krisenmeeting mit meinem Team. Ich will die Möglichkeiten ausloten, die uns die kommenden Monate bieten. Ich muss die Ressourcen, die mir bleiben, optimieren.
Mich selbst muss ich auch optimieren. In der Woche nach dem Kletterausflug in die Eifel stelle ich gemeinsam mit meinen Trainerinnen und Physiotherapeuten den Trainingsplan um. Vor allem die Kraft in den Beinen muss ich schnell aufbauen. Gemeinsam tüfteln wir ein bisschen herum und finden heraus, wie ich einbeinige Kniebeugen machen kann: im Liegen, statt im Stehen. Die Übung, die wir uns dafür ausdenken, sieht ein bisschen schräg aus, es braucht zwei Trainer, um die nötigen Widerstände zu erzeugen, aber nur so kann ich auch dieses für das Klettern so wichtige Muskeltraining absolvieren. Ich haue bei meinem täglichen Workout richtig rein und schon wenige Tage später bemerke ich beim nächsten Kletterversuch in der...
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