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Agatha Christie ist bereits 1926 eine schillernde, weltbekannte Autorin. Mit ihrem Mann und der kleinen Tochter lebt sie in London, genießt ihren aufkommenden Ruhm, feiert Partys und verbringt die Wochenenden auf exklusiven Landgütern. Als Agatha aus dem Nichts für elf Tage verschwindet, entspannt sich eine Geschichte voller Irrungen, Wirrungen, Täuschungen und Überraschungen, die einzig die geheimnisvolle Nan O'Dea auflösen kann.
Die junge Nan kommt aus einer anderen Welt: Nach einer schmerzvollen Kindheit und Jugend im erzkatholischen Irland während des Ersten Weltkriegs lässt sie ihre Vergangenheit hinter sich und beginnt ein neues Leben in England - und sucht die Nähe zur Familie Christie. Denn Agatha hat etwas, das Nan zutiefst begehrt .
Ein Tag zuvor Donnerstag, 2. Dezember 1926
Ich sagte Archie (ohne es ernst zu meinen), dies sei der falsche Moment, seine Frau zu verlassen. Für meinen Geschmack zog sich alles schon viel zu lange hin. Es war Zeit, meinen Trumpf auszuspielen. Da Archie jedoch gern für sich in Anspruch nahm, selbst auf Ideen zu kommen, widersprach ich.
»Sie ist zu labil«, erklärte ich. Agatha war nach wie vor damit beschäftigt, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten.
»Clarissas Tod ist Monate her«, meinte Archie. »Und egal, wann ich es ihr sage: Es wird immer ein Schock sein.« Labil wäre das letzte Wort gewesen, das einem zu Archie einfiel. Er saß an dem riesigen Mahagonischreibtisch in seinem Londoner Büro, ganz Macht und Protz. »Man kann's nicht allen recht machen«, bemerkte er. »Irgendjemand ist immer unglücklich, und ich mag nicht länger dieser Jemand sein.«
Ich sah ihn von dem Ledersessel aus an, der sonst Finanziers und Geschäftsleuten vorbehalten war.
»Darling.« Den vornehmen Tonfall Agathas würde ich nie treffen, aber mittlerweile war es mir zumindest gelungen, meinen East-End-Einschlag loszuwerden. »Sie benötigt mehr Zeit, sich zu erholen.«
»Sie ist eine erwachsene Frau.«
»Menschen hören nie auf, ihre Mutter zu brauchen.«
»Du bist zu nachsichtig, Nan. Einfach zu nett.«
Ich lächelte, als entspräche das der Wahrheit. Krankheit, Schwäche, Traurigkeit - diese Dinge hasste Archie am meisten. Er hatte keine Geduld mit Menschen, die sich erholen mussten. Als seine Geliebte gab ich mich stets fröhlich. Leicht und nonchalant. Das genaue Gegenteil seiner gramgebeugten, nicht gänzlich ahnungslosen Gattin.
Seine Gesichtszüge wurden weicher, ein Lächeln spielte um seine Lippen. Wie die Franzosen so schön sagen: »Glückliche Menschen haben keine Vergangenheit.« Archie erkundigte sich nie nach der meinen, wollte mich ausschließlich im Jetzt, immer strahlend und allzeit bereit. Er strich sich mit der Hand durch die Haare, ordnete, was nicht unordentlich war. Ich bemerkte einige graue Strähnen an seinen Schläfen, die ihn distinguiert erscheinen ließen. Möglicherweise spielten Geldgier und Eigennutz in meiner Beziehung mit Archie eine Rolle, doch das bedeutete nicht, dass ich seine Gesellschaft nicht genießen konnte, denn er war groß gewachsen, attraktiv und verliebt in mich.
Er erhob sich von seinem Schreibtisch, ging zu mir und kniete vor meinem Sessel nieder.
»Archie«, sagte ich in gespielt tadelndem Tonfall. »Was, wenn jemand hereinkommt?«
»Es kommt niemand herein.« Er legte die Arme um meine Taille und den Kopf in meinen Schoß. Ich trug einen Faltenrock, eine Hemdbluse, eine locker sitzende Strickjacke und Strümpfe. Dazu eine Kunstperlenkette und einen schicken neuen Hut. Zuerst streichelte ich Archies Kopf, doch als er das Gesicht gegen meinen Körper presste, schob ich ihn sanft weg.
»Nicht hier«, ermahnte ich ihn, ohne allzu großen Nachdruck. Stets fröhlich, fröhlich, fröhlich. Eine junge Frau, die in ihrem Leben noch keinen einzigen Tag krank oder traurig gewesen ist.
Archie küsste mich. Er schmeckte nach Pfeifentabak. Ich schloss die Finger um das Revers seines Jacketts und wehrte mich nicht, als er seine Hand auf meine Brust legte. Am Abend würde er zu seiner Frau nach Hause gehen. Und wenn die Angelegenheit sich so weiterentwickelte, wie ich sie sorgfältig geplant hatte, war es das Beste, wenn er mit der Erinnerung an mich zu ihr zurückkehrte. Ein mit Spermiziden getränkter Schwamm in meinem Bauch - den meine verheiratete jüngere Schwester mir beschafft hatte - schützte mich vor einer Schwangerschaft. Ich traf mich nie mit Archie, ohne dergestalt gewappnet zu sein, doch für den Augenblick erwies sich meine Vorsicht als unnötig. Er strich meinen Rock züchtig glatt, ordnete die Falten, erhob sich und trat wieder hinter seinen Schreibtisch.
In dem Moment, in dem er seinen Sessel erreichte, kam Agatha herein. Sie hatte leise an der Tür geklopft und sie gleichzeitig aufgedrückt. Ihre bequemen Schuhe verursachten so gut wie kein Geräusch auf dem Teppich. Im Alter von sechsunddreißig Jahren begannen Agathas Haare den rötlichen Ton zu verlieren; sie wirkten jetzt eher braun. Sie war einige Zentimeter größer als ich und fast zehn Jahre älter.
»Agatha«, herrschte Archie sie an. »Du hättest lauter klopfen können.«
»Ach, Archie, dein Büro ist doch keine Umkleide.« Sie wandte sich mir zu. »Miss O'Dea. Sie hatte ich hier nicht erwartet.«
Archies Strategie war es von Anfang an gewesen, mich in aller Öffentlichkeit zu verbergen. Ich wurde regelmäßig zu Festen und sogar Wochenenden bei den Christies eingeladen. Noch sechs Monate zuvor hätte er sich immerhin eine Erklärung für meine Anwesenheit in seinem Büro einfallen lassen. Ich habe mir Nan von Stan zum Stenografieren ausgeliehen, hätte er zum Beispiel gesagt. Stan war mein Chef bei der Imperial British Rubber Company, ein Freund Archies, und lieh niemals jemandem etwas.
Diesmal bot Archie keinerlei Erklärung dafür, warum ich saß, wo ich nichts verloren hatte. Agatha hob die Augenbrauen, als ihr klar wurde, dass ihr Ehemann sich nicht mehr die Mühe für die üblichen Ausflüchte machte. Sie versuchte sich zu fassen, indem sie das Wort an mich richtete.
»Sieh mal einer an.« Sie deutete auf ihre Kleidung, dann auf die meine. »Wir könnten Zwillinge sein.«
Es kostete mich Beherrschung, mein Gesicht nicht zu berühren, denn ich wurde tiefrot. Was, wenn sie zwei Minuten früher eingetreten wäre? Hätte sie trotz der delikaten Situation genauso beharrlich unbeteiligt getan wie jetzt?
»Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Das stimmt.«
In jener Saison sahen praktisch sämtliche Londoner Frauen gleich aus; fast alle trugen ähnliche Kleidung und die Haare schulterlang. Doch Agathas Kostüm war von Chanel, und ihre Kette bestand nicht aus Kunstperlen. Sie registrierte diese Unterschiede nicht mit Verachtung, falls überhaupt. Das entsprach nicht ihrem Wesen, eine Tugend, die ihr im Hinblick auf mich schadete. Kein einziges Mal äußerte Agatha Kritik daran, dass die Tochter eines kleinen Angestellten, eine einfache Sekretärin, sich in ihren Kreisen bewegte. »Sie ist mit Stans Tochter befreundet«, hatte Archie ihr mitgeteilt. »Spielt ausgezeichnet Golf.« Eine weitergehende Erklärung hatte sie nie verlangt.
Auf Fotos aus dieser Zeit wirkt Agatha viel dunkler und weniger hübsch, als sie tatsächlich war. Ihre blauen Augen strahlten. Auf ihrer Nase prangten wie bei einem kleinen Mädchen Sommersprossen, und ihr Gesichtsausdruck konnte in Sekundenschnelle wechseln. Endlich erhob sich Archie, um sie zu begrüßen. Er streckte ihr die Hand hin, als wäre sie eine Geschäftspartnerin. Ich kam zu dem Schluss - wie Menschen, die etwas Grausames tun, es gern machen -, dass alles auch sein Gutes hatte: Diese hübsche, ehrgeizige Frau hatte etwas Besseres verdient als Archie. Jemanden, der sie mit unverhohlener Bewunderung in die Arme schloss und ihr treu war. Als Schuldgefühle drohten, mir den Mut zu rauben, rief ich mir ins Gedächtnis, dass Agatha mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen war und immer wieder auf die Füße fallen würde.
Vermutlich bereits zum zweiten oder dritten Mal teilte sie Archie mit, sie habe sich mit ihrem neuen Literaturagenten Donald Fraser getroffen. »Da ich schon mal in der Stadt bin, dachte ich mir, wir könnten zusammen zu Mittag essen. Bevor du am Wochenende wegfährst.«
»Heute geht's nicht.« Archie deutete wenig überzeugend auf seinen leeren Schreibtisch. »Ich habe jede Menge Arbeit.«
»Ach. Bist du sicher? Ich habe bei Simpson's reserviert.«
»Ja, ich bin sicher«, antwortete er. »Ich fürchte, du bist völlig umsonst hergekommen.«
»Möchten Sie mich begleiten, Miss O'Dea? Ein Lunch unter Frauen?«
Eine zweite Abfuhr wollte ich ihr...
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