Schweitzer Fachinformationen
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Dies ist die Geschichte Mariastella Fortunas, der Zweiten, ehedem aus Ievoli, einem Bergdorf in Kalabrien. Später zog sie nach Wethersfield, Connecticut, in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr Leben währt bereits mehr als ein Jahrhundert, und in dieser Zeit hatte sie viel Unglück und Elend zu ertragen. Diese Geschichte erzählt davon, wie sie dennoch so alt wurde.
Während ihrer hundert Lebensjahre hatte die zweite Stella Fortuna (von der ersten erzähle ich in einer kleinen Weile) acht Nahtod-Erlebnisse oder sieben, je nachdem, wie man zählt. Sie wurde niedergestreckt, ausgeblutet und lobotomisiert, erstickte fast, ein Teil von ihr wurde mit kochendem Öl übergossen, und zwei Mal wurde sie bis ins Gedärm aufgeschlitzt, dann wieder wurde ihr Leben allein durch einen Tippfehler gerettet. Und ein Mal hätte sie beinahe zufällig Selbstmord begangen.
War es unglaubliches Pech, dass die zweite Stella das alles erleiden musste, oder unglaubliches Glück, dass sie immer wieder überlebte? Ich kann es nicht sagen. In jedem Fall sind es reichlich heikle Situationen für ein einziges Leben, aber wir Kalabrier sind zähe Leute. Wir sind bekannt dafür, über jede Vernunft hinaus stur zu sein, ohne jede Sorge um uns und unser Wohlergehen. So viele Jahrhunderte unserer Geschichte hatten wir so wenig, für das sich zu kämpfen lohnte, dass dieser eine Instinkt unbezähmbar ist: Wenn wir uns etwas in den Kopf gesetzt haben, ist die Kraft unseres Willens größer als jeder drohende Schaden, als Schande oder Tod. Wofür Stella Fortuna so stur kämpfte, das war ihr Leben, sieben (oder acht) verschiedene Male. Ich wünschte, ich könnte sagen, niemand hätte ihr das je angekreidet.
Fast alles, was ich über Stellas außergewöhnliche Lebensgeschichte weiß, habe ich von ihrer kleinen Schwester Concettina, die ebenfalls noch lebt. Sie ist Ende neunzig und wird Tina Caramanico genannt, »Tina«, weil »Concettina« zu altmodisch für Amerika war, und »Caramanico«, weil eine Frau hier in den Vereinigten Staaten, so wurde ihr gesagt, den Namen ihres Mannes annimmt und nicht den ihres Vaters behält.
Großtante Tina lebt in Connecticut, in den sumpfigen Tiefen Dorchesters, in einem Haus, das ihr Mann ihr im Jahr 1954 gebaut hat. Ihr Mann ist tot, womit ich, wenn ich zu ihr komme, die einzige Person bin, für die sie kochen muss. Wahrscheinlich besuche ich sie nicht so oft, wie ich sollte, und wenn ich komme, beleidige ich sie immer wieder damit, wie wenig ich esse. Das Ganze wirkt wie ein italienischer Großmutter-Witz, aber ich bin sicher, dass Tina die Sache ziemlich ernst nimmt. Es gibt zwei Möglichkeiten, mit der Überfütterungssituation umzugehen: Man kann schimpfen, sie soll nicht so viel auf den Teller schaufeln, und sich anschließend schuldig fühlen, weil man eine alte Frau nicht auf diese Art angehen sollte. Oder man vermeidet den Konflikt, isst in Ruhe und fühlt sich hinterher körperlich schlecht. Als ich meinen Mann das erste Mal zum Kennenlernen mitbrachte, sagte Tante Tina voller Bewunderung: »Er ist so ein guter Esser.« Italienische Großmütter lieben Männer, die sich nicht wegen der Größe der Portionen beschweren.
Man kann leicht vergessen, dass Tante Tina bereits Ende neunzig ist. Sie wirkt so rosig, verschwitzt und energisch, als wäre sie fünfundsechzig. Ihre braunen Augen sind etwas milchig, aber hell, ihre Handknöchel treten kraftvoll hervor, und die Sehnen ihrer Hände wachsen ungehalten die Arme hinauf, als wollten sie etwas zu fassen bekommen, einen hölzernen Löffel, ein Fleischmesser, die Wange eines Urenkels. Ihre Stirn glänzt ständig leicht verschwitzt, so aktiv ist sie, und auf der Oberlippe sammelt sich der Schweiß gar in Perlen. Sie ist mit dem Alter kleiner geworden und misst nur mehr einen Meter achtundfünfzig, obwohl sie doch mal einssiebzig war, eine große Frau, nur ihre Arme sind immer noch dick und muskulös. Berühmt ist die Geschichte, wie sie »geholfen« hat, das Haus meiner schwangeren Cousine Lyndsay zu putzen, und den geflochtenen Küchenteppich so heftig mit dem Teppichklopfer bearbeitete, dass er sich auflöste und über die Veranda davonwehte. Zumindest war er jetzt richtig sauber.
Familiengeschichten sind eine knifflige Sache. Einige erzählen wir uns, bis wir sie leid sind, andere werden unerklärlicherweise gleich wieder vergessen. Oder vielleicht auch nicht unerklärlicherweise, vielleicht stören sie das Bild der Familie. Eine Generation will nichts von ihnen wissen, und schon hat die nächste nie von ihnen gehört. Damit sind sie verschwunden, von sanfteren Tönen überschrieben.
Ich denke, ich war bereits erwachsen, als ich zum ersten Mal von Stella Fortunas sieben (oder acht) Beinahe-Toden erfuhr. Es war ein ganz normaler Nachmittag, und ich saß an Tante Tinas Tisch und aß Zucchini-Brot, als sie mir davon erzählte.
»Alle wissen von dem Unfall«, sagte sie, wie ich mich erinnere, »aber weißt du auch von der Aubergine?«
»Was für einer Aubergine?«, fragte ich.
»Als Stella beinahe von einer Aubergine getötet wurde?«
»Von einer Aubergine?« Ich sah aus dem Fenster zu den meterlangen Zucchini am Spalier in Tante Tinas Garten hinaus. Ich hatte noch nie gehört, dass jemand von einem Stück Gemüse umgebracht worden war, doch es schien durchaus im Bereich des Möglichen.
»Woher, denkst du, hat sie die Narben auf ihren Armen?«
Und dann es gab noch sechs weitere Male, bei denen sie fast ums Leben gekommen wäre, sechs, aber vielleicht auch nur fünf. Tante Tina zählte sie an ihren knotigen, beigefarbenen Fingern auf - die Sache mit den Schweinen, der Schule, dem Schiff (wozu es gegensätzliche Meinungen gab), dem Vergewaltiger, dem dummen Doktor und dem Ersticken.
Während Tina sich in ihrer Litanei der Traumata verlor, stieg eine warme Übelkeit in mir auf. Wie oft Stella dem Tod entkommen war und welche schon unwirkliche Gewalt ihr Körper ausgehalten hatte! Dass sie all das hatte überleben können, schien so unwahrscheinlich. Während ich Tinas Erzählung lauschte, wurde mein Mund ganz trocken, und ich vermochte das sowieso schon schwere Zucchini-Brot kaum noch zu schlucken. Mich überkam das gleiche hilflose Gefühl, das man hat, wenn man im Bus neben einer übel hustenden Person sitzt und weiß, genau weiß, dass man sich das, was immer ihn oder sie plagt, längst selbst eingefangen hat. Tinas Geschichte hatte mich infiziert, die Geschichte vom Leben Stella Fortunas am Rande des Todes.
»Tante Tina«, sagte ich, als sie zum Ende kam, »geht das noch mal von vorn? Damit ich es aufschreiben kann?« Ich suchte bereits in ihrer Kramschublade herum und zog eine alte Telefonrechnung mit freier Rückseite hervor.
Sie zögerte und sah auf meinen schreibbereiten Stift. Später, als sie mir tatsächlich alles erzählt hatte, fragte ich mich, was in jenem Moment durch ihren Kopf gegangen sein mochte. Dann hatte das Zögern ein Ende gehabt, und sie sagte entschieden: »Also gut, ich erzähle es dir noch einmal ausführlich, und du schreibst es auf.«
»Ja, bitte«, sagte ich und sah in ihre wässrigen, rosa geränderten Augen, ohne erkennen zu können, ob ihr Blick erregt oder bitter war. »Erzähl mir, an was du dich erinnerst.«
»Einige Teile der Geschichte sind nicht so schön«, warnte sie mich fairerweise.
Aber wer versteht oder glaubt schon so eine Warnung?
Unter meinen Quellen ist Tina Caramanico die wichtigste. Ich denke, nach all den Jahren wollte sie endlich Klarheit schaffen. Sie kannte und kennt die Einzelheiten besser als jeder andere, lebend oder tot, da sie immer an Stellas Seite war. Und für sie stand bei der Sache am meisten auf dem Spiel, was der triftigste Grund war, mir die ganze Wahrheit zu erzählen - vielleicht aber auch das eine oder andere zu verbergen.
Tante Tina ist immer noch an Stellas Seite, obwohl die beiden Schwestern seit dreißig Jahre nicht mehr miteinander reden.
Stella sitzt auf der anderen Seite der Straße, gegenüber von Tinas kleinem weißen Ranchhaus, in einem Sessel am Fenster ihres eigenen kleinen weißen Ranchhauses. Die Situation ist ideal, um sich gegenseitig auszuspionieren. Die beiden entfremdeten Schwestern halten die Zufahrt der jeweils anderen im Blick, um zu sehen, wer von der Familie zu Besuch kommt. Stella sitzt fast den ganzen Tag dort vorn, häkelt und trennt die Anfänge von Decken wieder auf, die sie nie beenden wird. Wie der Rest der Familie ist sie in ihren Gedanken gefangen, wobei nur sie selbst weiß, wie es in ihrem Gedankengefängnis aussieht.
Gegen elf Uhr vormittags verschwindet sie von ihrem Fenster, um sich ein Weilchen hinzulegen. Dann nimmt Tina, was immer sie für Stella vorbereitet hat, eine Gemüsesuppe oder ein Schweinekotelett, eilt über die Straße, stiehlt sich durch die Hintertür in Stellas Haus, stellt das Essen auf den Herd und läuft so schnell wie möglich wieder zurück, und das mit fast hundert Jahren. Stella isst das, was ihre Schwester kocht, nur dann, wenn sie so tun kann, als wüsste sie nicht, woher es stammt. Später kommt Tinas Neffe Tommy, spült das Geschirr und bringt Topf oder Teller zurück über die Straße.
Zu Stella Fortunas achtem Beinahe-Tod, von dem allgemein als dem »Unfall« gesprochen wird, kam es im Dezember 1988. Er führte zu einer Gehirnblutung. Stellas Leben wurde mit einer Art Lobotomie gerettet. Dieser spezielle Eingriff war zu der Zeit eher noch ein Versuch, und der Chirurg, der ihn vornahm, sagte, die Chance sei nicht sehr groß, dass Stella ihn überlebe, und wenn, werde sie wohl den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen und künstlich ernährt werden müssen. Der Mann wurde, wie wir wissen, widerlegt. Stella, die...
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