Schweitzer Fachinformationen
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Statistisches Denken wird eines Tages für mündige Staatsbürger ebenso wichtig sein wie die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben.
SAMUEL S. WILKS, H. G. WELLS PARAPHRASIEREND, 1951
'Cause he's fitba' crazy, He's fitba' mad. The fitba it has ta'en away the wee bit sense he had.1
JAMES CURRAN, 1885
Gib niemals auf
Der Liverpool Football Club stand kurz davor, zum zehnten Mal in seiner Geschichte in einem Pflichtspiel gegen den FC Barcelona anzutreten.2 Ich arbeitete für den LFC, und zwei Karten für das Spiel waren für mich reserviert. Aber ich hatte mich entschieden, nicht hinzugehen. Es war Mai 2019, und wir hatten das Halbfinale der Champions League erreicht, des prestigeträchtigsten Klubwettbewerbs im Fußball.
Doch ehrlich gesagt hatte ich genug. Seit ich 2012 zu Liverpool gekommen war, hatten wir 2014 auf tragische Weise den Gewinn der Premier League verpasst, 2016 verloren wir trotz Halbzeitführung das Finale der Europa League, 2018 unterlagen wir im Champions-League-Finale gegen Real Madrid - und jetzt, 2019, hatten wir gerade das Halbfinal-Hinspiel in Barcelona mit 0:3 vergeigt. Es war ziemlich unwahrscheinlich, diesen Rückstand noch aufzuholen. Ich fühlte mich ausgelaugt und glaubte nicht, einen weiteren Misserfolg ertragen zu können. Dann meldete sich mein Freund Jin. Er wisse, dass es vermutlich aussichtslos sei, aber er würde es ewig bereuen, nicht wenigstens gefragt zu haben: Hätte ich vielleicht ein Ticket für das Spiel übrig? Ich sagte ihm, dass ich eins hätte und nicht hingehen würde. Er fragte mich, vollkommen zu Recht, ob ich verrückt sei. Es war das Champions-League-Halbfinale! Gegen Barcelona! Mit Lionel Messi! Mir wurde klar, dass er recht hatte - ich hatte Messi noch nie live spielen sehen. Es würde sich lohnen, ins Stadion zu gehen, und sei es nur, um den besten Spieler der Welt zu erleben.
Mein Job war der Grund, warum ich nicht dabei sein wollte. Als Director of Research bei Liverpool war ich dafür zuständig, Daten über Fußballspiele zu sammeln, zu analysieren und zu interpretieren. Eine der Anwendungen der Datenanalyse im Fußball ist die Vorhersage von Resultaten. Beim LFC hatten meine Kollegen und ich eine Reihe statistischer Modelle entwickelt, die aus reinen Leistungsdaten - Informationen über Schüsse, Paraden und Tore - Schätzungen über die Teamstärke ableiteten. Die Offensiv- und Defensivfähigkeiten eines jeden Teams - ihre Fähigkeit, Tore zu erzielen und Gegentore zu verhindern - wurden dann zur Erstellung von Prognosen für Spiele und Wettbewerbe verwendet.
Angesichts der 0:3-Niederlage im Hinspiel schätzten unsere Algorithmen unsere Chance, ins Finale einzuziehen, auf 3,5 %. Unser statistisches Modell der Teamstärke bewertete Barcelona als satte 20 % stärker im Vergleich zu Liverpool. Der Heimvorteil des LFC im Rückspiel würde die Partie zwar zu einem Duell auf Augenhöhe machen, aber wir mussten mit mindestens vier Toren Unterschied gewinnen bzw. das Hinspielergebnis egalisieren, um zumindest die Verlängerung zu erreichen.
Meine Herangehensweise an den Fußball ist das genaue Gegenteil der romantischen Art, wie Fans das Spiel sehen: Ich betrachte alles durch die Linse der Wahrscheinlichkeit, die anhand objektiver Evidenz eingeschätzt wird. Und für dieses Spiel deutete die Evidenz darauf hin, dass unsere Erfolgswahrscheinlichkeit extrem gering war.
Auf dem Trainingsgelände wusste man nur zu gut, dass meine Abteilung solche Prognosen erstellte. Als sich das Kantinenpersonal nach unseren Chancen erkundigte und ich ihm die düsteren Zahlen nannte, war die Reaktion: "Das ist ja besser, als ich dachte!" Mein Pessimismus war für meine Kollegen irgendwie ein Anlass zu Optimismus.
Selbst für Anfield-Verhältnisse war die Stimmung an diesem Abend elektrisierend. Luis Suárez - von 2011 bis 2014 Liverpools bester Spieler, inzwischen aber bei Barcelona unter Vertrag - hatte im Hinspiel ein Tor geschossen und dies, sehr zum Unmut der LFC-Fans, ausgiebig gefeiert. Zum Rückspiel wurde der Stürmer von 50.000 Zuschauern mit "Fuck off, Suárez!"-Sprechchören begrüßt. In meinem Job werde ich dafür bezahlt, Fußball nüchtern und sachlich zu betrachten, aber ich war als Fan in Anfield und grölte daher begeistert mit.
Die Partie war sehr offen und extrem unterhaltsam. Seltsamerweise hatte ich aufgrund unserer geringen Erfolgsaussichten viel mehr Freude am Spiel als sonst. Da wir sowieso ausscheiden würden, konnte ich das Spektakel einfach genießen, ohne mir Gedanken über das Ergebnis zu machen. Doch in der 7. Minute patzte Barcelonas Jordi Alba bei einem Klärungsversuch und köpfte den Ball direkt zu Sadio Mané. Sadio spielte zu Jordan Henderson, dessen Schuss noch vom Torhüter abgewehrt wurde, aber Divock Origi stand goldrichtig und staubte ab. Wir lagen 1:0 vorn.
Barcelona hatte mehrere gefährliche Chancen, doch zur Halbzeit führte der LFC weiter mit 1:0. In der 54. Minute legte Trent Alexander-Arnold für Gini Wijnaldum auf, der einen miserablen Schuss abgab und trotzdem irgendwie den Torwart überwand: 2:0. Barcelona stieß an, verlor sofort den Ball und kaum eine halbe Minute später erhöhte Gini mit einem brillanten Kopfball auf 3:0. Die Stimmung in Anfield ging durchs Dach. Jede Ballberührung von Suárez wurde von unseren Fans mit Häme und Spott quittiert. Bis zum dritten Tor hatte ich schon so viel geschrien, dass meine Stimme weg war. Ich musste Jin bitten, Suárez in meinem Namen anzuschnauzen, und verbrachte den Rest der zweiten Halbzeit damit, meinen Kumpel in die Rippen zu stoßen, um ihm zu signalisieren, den Abtrünnigen zu beschimpfen.
Je höher unsere Siegchancen wurden, desto blanker lagen meine Nerven. In der 79. Minute dann führte Trent eine Ecke schnell aus, als er merkte, dass die Abwehr von Barcelona sich im Tiefschlaf befand, und Divock versenkte einen unhaltbaren Schuss zur 4:0-Führung. Barcelonas Angewohnheit, bei der Verteidigung von Ecken die Konzentration zu verlieren und sich bei den Schiedsrichtern zu beschweren, war von meinen Kollegen in der Videoanalyseabteilung herausgestellt worden. Daher waren unsere Spieler und Balljungen darauf vorbereitet, das Spiel nach Eckbällen schnell wieder aufzunehmen. Die Videoanalysten hatten wirklich ganze Arbeit geleistet.
Wir hatten unter den dramatischsten und unwahrscheinlichsten Umständen das Champions-League-Finale erreicht. Vielleicht würden wir nach sieben Jahren meiner Arbeit für den LFC endlich einen Titel gewinnen. Wie jeder andere Liverpool-Fan war ich selig, als ich an diesem Abend Anfield verließ. Aber zugleich war der Datenanalyst in mir begierig darauf, das Spiel auszuwerten.
Der Blick von außen
Während ich nach Hause fuhr, wurden unzählige Daten auf unsere Server in der Cloud übertragen. Videoanalysten, die in den Sammelzentren unserer Zulieferer arbeiteten, hatten die Details jeder Ballaktion - Pässe, Schüsse, Tacklings, Fouls - transkribiert und hochgeladen. Gleichzeitig hatten Kameras in Anfield die Bewegungen aller Spieler und des Balls aufgezeichnet. Das entsprechende Video wurde dann mithilfe von "Computer Vision"-Algorithmen (siehe Kapitel 9) in eine Spur der Laufwege jedes Spielers umgewandelt. Diese Spielerpositionen - 25-mal pro Sekunde aufgezeichnet - standen nun ebenfalls für die Analyse zur Verfügung.
Als am nächsten Morgen gegen fünf Uhr alle Daten eingetroffen waren, wurden mehrere automatische Prozesse ausgelöst. Zunächst die Validierung: Ein Algorithmus prüfte, ob die Daten von ausreichender Qualität waren, damit unsere Modelle sinnvolle Ergebnisse liefern konnten. Als Nächstes die Zusammensetzung: Die Ereignisse auf dem Spielfeld wurden mit den Spielerpositionen synchronisiert, um einen einheitlichen Spielverlauf zu erhalten. Schließlich die Analyse: Die synchronisierten Daten wurden durch unsere statistischen Modelle gejagt. Diese Modelle erstellten eine statistische Interpretation des Spiels und bewerteten den Beitrag jedes Spielers zum Ergebnis. Basierend auf den Leistungen jedes Spielers aktualisierten weitere Algorithmen unsere Bewertungen der Teamstärken und Spielerfähigkeiten.
Auf der Tribüne hatte ich das Spiel als begeisterter Fan verfolgt. Am nächsten Morgen, nachdem die Daten verarbeitet waren und ich die Ergebnisse unserer Algorithmen vor mir hatte, betrachtete ich das Geschehen rational. Und das Spiel, an das ich mich vom Vorabend erinnerte, war nicht ganz dasselbe wie jenes, das ich am nächsten Tag analysierte.
Wir hatten 4:0 gewonnen, aber das Ergebnis hätte auch ganz anders ausfallen können. Im Nachhinein erschien es zwar fast zwangsläufig, dass wir das gewünschte Ergebnis eingefahren hatten - Mohamed Salah, der verletzungsbedingt ausfiel, hatte von der Tribüne aus zugesehen und ein T-Shirt mit der Aufschrift "Never give up" (Gib niemals auf) getragen. Doch jedes Spiel unterliegt der Willkür des Zufalls. Wir alle können uns an Partien erinnern, bei denen das Ergebnis anders hätte ausfallen können, wenn nicht eine Flanke danebengegangen oder der Ball glücklich abgefälscht worden wäre. Angesichts der Torchancen, die sich im Spiel ergaben, war unser 4:0-Sieg jedenfalls alles andere als garantiert gewesen.
Die Verwendung von Daten zur Analyse dessen, was hätte passieren können, führt zu einer weniger sicheren, eher probabilistischen, auf Wahrscheinlichkeiten ausgerichteten Sichtweise. Ihr Wert liegt darin,...
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