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Verity saß auf dem niedrigen Fenstersims ihres Zimmers und sah zu, wie die Stallknechte des Hotels vierzig oder fünfzig Pferde von den Weideplätzen außerhalb der Stadt zurücktrieben. Jeden Abend drängten sie sich um diese Zeit mit klappernden Hufen und schnaubenden Nüstern durch die gefährlich enge Straße. Und jeden Morgen wurden sie wieder zur Wiese getrieben.
Seit ihrer Ankunft in Bodmin hatte sie schon viel Zeit an diesem Fenster verbracht und die Passanten begutachtet, so wie in Falmouth, wo sie während Andrews Abwesenheit am Fenster über der Veranda zu sitzen, an einer Stickerei zu arbeiten und über den Hafen zu blicken pflegte.
Inzwischen musste Andrew schon in Lissabon sein. Und morgen, wenn Ross vor Gericht stand, würde er die Segel in Richtung Heimat setzen. James, sein Sohn, war in Gibraltar, also äußerlich nicht weit von ihm entfernt, doch die innerliche Distanz hätte nicht größer sein können.
Manchmal zweifelte Verity daran, dass sie seine beiden Kinder je kennenlernen würde. Ganz tief innen begann sie - im Gegensatz zu dem, was sie Demelza gesagt hatte - ein solches Treffen sogar eher zu fürchten, als zu ersehnen. James und Esther waren lebendige Zeugen von Andrews erster tragischer Ehe. Vielleicht empfanden sie das selbst so und wollten deshalb nicht kommen. Vielleicht fühlten sie sich aber auch nur von der neuen Ehefrau verdrängt. In jedem Fall aber war Andrew Blameys zweite Ehe bisher ausgesprochen glücklich, und die Furcht, seine Kinder könnten dieses Glück in Gefahr bringen, quälte Verity unsäglich.
Es klopfte an der Tür, und Joanna, das ungepflegte Hausmädchen, stand auf der Schwelle. Die Morgenhaube saß ihr schief auf dem Kopf, und ihre Wange zierte ein Schmutzstreifen.
»'zeihung, Madam, da ist 'n Herr für Sie. Heißt Mr Francis Poldark.«
Veritys Herz setzte sekundenlang aus. »Mr - Francis Poldark?«
»Ja, so ähnlich, glaub ich. Er hat gesagt, er kennt Sie. Vielleicht meint er die andere Dame -«
»Ich meine diese Dame«, sagte Francis und trat ein. »Ich bin ihr Bruder, Mädchen, also halt dein Klatschmaul im Zaum, wenn du nach unten gehst. Putz dir deine Rotznase und lass uns jetzt allein.«
Mit offenem Mund machte Joanna kehrt und ging. Vierzehn Monate hatten Bruder und Schwester einander nicht mehr gesehen - seit dem Tag, als Verity, von Demelza ermutigt und trotz des hartnäckigen Widerstandes ihres Bruders, fortgelaufen war und Andrew Blamey geheiratet hatte.
Sie erkannte sofort, dass Francis betrunken war, und ihr Mut sank. Und sie wusste, was das bedeutete. Noch vor sechs oder sieben Jahren hatte ihr Vater darüber geklagt, dass Francis beim Zechen nicht mithalten und man ihn mit einer einzigen Flasche wie einen schwächlichen Bücherwurm unter den Tisch trinken konnte. Doch Zeit und Übung hatten Francis geholfen, diesen Vorwurf auszubügeln. Heute war mehr dazu nötig.
»Bist du allein?«, fragte er.
»Ja . ich . wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist, Francis.«
»Alle sind in der Stadt. Ärzte, Ackerknechte, arme Leute, Diebe . ich dachte, du wohnst mit Demelza zusammen.«
»Sie ist heute Abend ausgegangen. Wir waren den ganzen Tag zusammen.«
Er blickte sie stirnrunzelnd an, als versuche er, sie mit den vorurteilslosen Augen eines Fremden zu betrachten. Sein Hemd war am Hals zerrissen und sein Mantel schmutzverkrustet. Nur sie wusste, mit welch leidenschaftlicher Ablehnung er auf ihre Heirat reagiert hatte. Von Kindheit an war seine Liebe zu ihr selbstsüchtig und besitzergreifend gewesen - etwas mehr als nur brüderliche Liebe. Andrews schlechter Ruf bildete den Brennpunkt seines Misstrauens gegen ihn, und Francis konzentrierte auch noch all seine anderen Ressentiments darauf.
»Mrs Blamey«, sagte er verächtlich. »Wie fühlt man sich, wenn man Mrs Blamey genannt wird?«
»Als du kamst, da hoffte ich .«
»Was? Dass ich gekommen bin, um mich mit dir zu versöhnen?« Er blickte sich nach einer Sitzgelegenheit um, ging quer durchs Zimmer auf einen Stuhl zu, setzte sich sorgfältig darauf, legte seinen Hut auf den Fußboden und streckte sein eines Bein mit dem schmutzigen Reitstiefel lang aus. Seine Bewegungen waren eine Spur zu sicher. »Wer weiß? Aber nicht mit Mrs Blamey. Mit meiner Schwester - ja, das ist etwas anderes. Ein treuloses Luder.« Doch er sprach dieses harte Wort ohne innere Überzeugung und ohne Bosheit.
Sie antwortete: »Ich habe mich so danach gesehnt, zurückzukommen und euch alle wiederzusehen - ich habe Demelza ausgefragt. Über eure Krankheit zu Weihnachten . und Demelzas Verlust. Wir hatten in Falmouth auch unser Teil zu tragen, aber . wie geht es Elizabeth? Sie hat dich wohl nicht begleitet?«
»Und wie geht es Blamey?«, sagte Francis. »Er hat dich wohl auch nicht begleitet? Sag mal, Verity, hältst du die Ehe nicht auch für einen Fallstrick? Wir rutschen hinein, wir armen Teufel, weil wir einer Täuschung unterlegen sind, weil wir davon überzeugt sind, dass uns sonst etwas entgeht und dass wir es uns nicht entgehen lassen dürfen. Aber es ist eine Falle, eine Falle mit eisernen Fangzähnen, und wenn sie uns erst mal erwischt . Wie geht's Blamey - der peitscht wohl grade seine Matrosen, in der Biscaya oder der Ostsee? Du bist dicker geworden, du warst immer so ein mageres kleines Huhn. Hast du Cognac oder Rum da?«
»Nein . nur Portwein.«
»Natürlich. Demelza trinkt das ja. Sie liebt Portwein. Sie soll sich bloß in Acht nehmen, sonst wird sie noch eine Trinkerin. Ich habe Ross vor zwei Wochen in Truro getroffen; kam mir aber so vor, als regten ihn all dies Prozessgetue und diese erbärmlichen Verleumdungen nicht sonderlich auf. Das sieht Ross ähnlich. Er ist ein harter Brocken, und nur mit einer Gerichtsverhandlung bringen sie den nicht zur Strecke, und wenn sie sich noch so viel davon versprechen.« Er blickte sie mit ärgerlichem Stirnrunzeln an, schien sie aber weniger an -, als durch sie hindurchzusehen. »Ich wünschte, ich wäre Ross und müsste morgen vor meinen Richtern stehen - denen würde ich ein paar Sachen erzählen -, schockieren würde ich sie. Francis Poldark von Trenwith.«
Verity gab sich nochmals einen Ruck. »Ich freue mich, dass du gekommen bist, Francis. Ich wäre so glücklich, wenn all der Groll nun begraben wäre. Seit meinem Weggang von zu Hause hat mich das unsagbar bedrückt.«
Er riss ein Stückchen zerfetzter Spitze von seinem Ärmelaufschlag, rollte es zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her und schnipste das kleine Knäuel dann fort zum Kamin. »Glück - Unglück: lose Bänder, die sich ums Gemüt winden! Hübscher Tand, der nicht mehr bedeutet als die albernen Wimpel, die bei dieser verdammten Wahl geschwenkt wurden. Heute Morgen hatte ich eine heftige Auseinandersetzung mit George Warleggan.«
Verity stand auf. »Ich werde dir eine Erfrischung kommen lassen.« Sie zog die Klingelschnur und fuhr fort: »Wir hoffen alle, dass es morgen einen Freispruch gibt. Es scheint jedenfalls nicht aussichtslos zu sein. Demelza hatte die ganze Woche irgendwelche Dinge zu erledigen; ich weiß nicht, was, aber es hat mit der Verhandlung zu tun. Sie ist ruhelos.«
»Ein Freispruch! An ihrer Stelle wäre ich auch ruhelos. Heute Vormittag bin ich zu dem Anwalt gegangen, der Ross vertritt, und habe zu ihm gesagt: >Sagen Sie mir die Wahrheit, ich will keine Schönrednerei, ich will die Wahrheit hören: Wie stehen seine Chancen für morgen?< Und er sagte: >In Bezug auf den ersten Belastungspunkt stehen seine Chancen ziemlich gut, aber ich sehe nicht, wie er die beiden andern von sich abwälzen kann - nach seinem eigenen Eingeständnis und seiner augenblicklichen eigensinnigen Haltung. Er hat immer noch Zeit, seine Aussage zu ändern und zu kämpfen, aber dazu ist er nicht bereit, und daher ist der Fall von vornherein verloren.<«
Das Hausmädchen war auf Veritys Klingeln hin erschienen, doch die beiden waren zu sehr in ihre Unterhaltung vertieft, um auf sie zu achten. Schließlich trug Francis ihr auf, Gin zu bringen.
»Kurz danach«, fuhr er fort, »habe ich George im Garland Ox getroffen. Er sah derart ekelhaft wohlhabend und selbstzufrieden aus, dass mir von seinem bloßen Anblick übel wurde.«
Lange Zeit schwiegen sie. Sie hatte ihn noch nie so erlebt. Sie wusste nicht, ob diese Veränderung im Lauf des letzten Jahres oder über Nacht mit ihm vor sich gegangen war. Zwei Empfindungen stritten in ihr um den Vorrang: ihre Sorge um ihn und die Sorge über das, was er von Ross erzählt hatte.
»War es denn klug, mit George zu streiten?«
»Ich begrüßte ihn mit den Worten: >Wie, versammeln sich die Aasgeier schon, bevor der Bock verendet ist?< Und als ich ihm anmerkte, dass er dieses äußerlich schluckte, innerlich aber übelnahm, hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, ihm klipp und klar die Meinung zu sagen. Seine widerliche Höflichkeit nützte ihm da gar nichts. Denn mit der gleichen Höflichkeit ließ ich mich über sein Aussehen, seine Kleidung, seine Moral, seine Familie und seine Abstammung aus. Wir stritten uns mit schicklicher Heftigkeit. Unsere Beziehung bedurfte endlich einmal wieder einer eingehenden Klärung.«
»Eine Klärung?«, sagte Verity unruhig. »Eine ausgezeichnete Klärung wird das sein, wenn er plötzlich seine Ansprüche geltend macht. Ich weiß, er ist ein alter Freund, aber ich traue ihm durchaus zu, dass er alle Mittel nutzt, die ihm zur Verfügung stehen, um dir eine Beleidigung heimzuzahlen.«
Joanna kam mit dem Gin. Francis gab ihr ein Trinkgeld und blickte ihr...