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Mitte Februar 1794 gebar Elizabeth Warleggan in Trenwith ihr zweites Kind, das erste aus ihrer Ehe mit George Warleggan.
Das Haus war in Aufruhr. Zwar hatten Elizabeth und George ursprünglich beschlossen, dass die Niederkunft in ihrem Stadthaus stattfinden sollte, wo Elizabeth die besten Ärzte zur Verfügung standen, doch in Truro hatten monatelang Epidemien gewütet, zuerst die Cholera, die bis Weihnachten dauerte, dann die Grippe und die Masern. Und Dr Behenna, der jede Woche zu ihnen herauskam, um nach seiner Patientin zu sehen, versicherte ihnen, es bestehe kein Grund zur Eile.
Doch am dreizehnten, einem Donnerstag, glitt Elizabeth, als sie zu ihrem Zimmer gehen wollte, aus und stürzte. Die Treppe, die von der großen Halle nach oben führte, mündete auf einen dunklen Korridor, von dem aus man über weitere fünf Treppenstufen zu den beiden großen Schlafzimmern des Hauses gelangte. Elizabeth blieb mit dem Fuß an dem ausgezackten Rand der oberen Stufe hängen und fiel.
Sofort war das ganze Haus in Aufruhr. George wurde gerufen und trug seine bewusstlose Frau zu ihrem Bett. Da Dr Dwight Enys noch immer auf See war, blieb nichts anderes übrig, als den alten Dr Choake zu rufen; außerdem ritt ein Diener nach Truro, um Dr Behenna zu holen.
Elizabeth hatte, von einem zerschrammten Ellbogen und einem leicht verstauchten Fuß abgesehen, offenbar keinen Schaden erlitten, und nachdem Dr Choake sie zur Ader gelassen und ihr ein Herzstärkungsmittel verabreicht hatte, schlief sie ein. George mochte Choake nicht; alles an ihm war ihm unsympathisch - seine eitle Selbstgefälligkeit, seine grobe Art, Patienten gleich unters Messer zu nehmen, seine einfältige Frau, seine Zugehörigkeit zur Whig-Partei -, doch er nahm sich zusammen, lud den alten Mann zum Abendessen ein und schlug ihm vor, über Nacht in Trenwith zu bleiben. Choake, der seit Francis Poldarks Tod das Haus nicht mehr betreten hatte, lehnte steif ab.
Es war ein trübsinniges Mahl. Mrs Chynoweth, Elizabeths Mutter, wollte nicht essen und bestand trotz ihrer schlechten körperlichen Verfassung - sie konnte seit ihrem Schlaganfall nur stotternd sprechen, ein Bein war gelähmt und ein Auge blind - darauf, sich im Zimmer ihrer Tochter aufzuhalten, falls diese erwachte. So leistete nur der alte Jonathan Chynoweth den beiden andern Männern am Tisch Gesellschaft. Sie sprachen über den Krieg mit Frankreich, die Getreideknappheit, die steigenden Preise von Zinn und Kupfer. George, dem die andern beiden zuwider waren, hörte meist schweigend zu. Er hatte sich wieder beruhigt, sann aber darüber nach, dass Elizabeth sich in Zukunft mehr in Acht nehmen müsse. Sie war oft viel zu leichtsinnig gewesen, hatte zu wenig an die Sicherheit des Kindes gedacht. George hätte es verstehen können, wenn sie hin und wieder niedergeschlagen, unausgeglichen, weinerlich gewesen wäre. Aber dass sie sich auf ein Pferd setzte, das lange im Stall gestanden hatte und ohnehin als unberechenbar galt, dass sie schwere Bücher aus einem Regal nahm, darauf war George nicht gefasst gewesen.
Überhaupt erschien Elizabeth ihm nun in einem andern Licht. Er entdeckte immer wieder neue Seiten an ihr - manches, was ihn faszinierte, manches, was ihn beunruhigte. Jahrelang war sein größter Wunsch gewesen, sie zu besitzen, doch er hatte sie besitzen wollen wie ein Sammler und Kenner, der einen schönen und begehrenswerten Gegenstand erblickt. Seit seiner Heirat war dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, aber das hatte an seinem Besitzerstolz nichts geändert. Im Gegenteil, er hatte Elizabeth nun erst richtig kennengelernt. Und wenn George überhaupt lieben konnte, so liebte er seine Frau.
Als George so seinen Gedanken nachhing und das Geschwätz der beiden alten Männer an sich vorbeirauschen ließ, trat ein Diener ein und meldete, Mrs Poldark sei aufgewacht und habe Schmerzen.
Dr Behenna traf gegen Mitternacht ein. Er war in den Dreißigern, ein kräftiger, untersetzter und selbstbewusster Mann, der sich erst vor einigen Jahren in Truro niedergelassen hatte. Mit seinen neuen Methoden hatte er einige aufsehenerregende Erfolge gehabt, vor allem aber hatte er in London bei berühmten Ärzten Geburtshilfe studiert.
Nachdem er die Patientin untersucht hatte, teilte er George mit, die Schmerzen seiner Frau seien eindeutig Geburtswehen. Das Kind sei am Leben, werde aber vorzeitig zur Welt kommen. Trotzdem bestehe kein Grund zu übermäßiger Sorge.
Am nächsten Tag gegen Mittag trafen Georges Eltern ein. Sie hatten in Truro von Elizabeths Unfall gehört. Und Nicholas Warleggan hielt es für seine Pflicht, seinem Sohn in diesen kritischen Stunden beizustehen. George war mittlerweile schier außer sich vor Angst und Unruhe.
Elizabeth lag nach wie vor in den Wehen. Als Dr Behenna um fünf Uhr mit der Familie den Tee einnahm, sagte er, das dritte Stadium sei nun erreicht, und er habe sich entschlossen, wenn das Kind nicht bald komme, die Zange anzusetzen, da der bloße Reiz des Metalls die Wehen beschleunigen und möglicherweise doch noch zu einer natürlichen Geburt verhelfen werde.
Doch die Vorsehung war auf Seiten der Mutter. Um sechs kamen die Wehen häufiger, ohne Stimulanz. Um Viertel nach acht gebar Elizabeth einen gesunden Knaben. Zum selben Zeitpunkt trat eine totale Mondfinsternis ein.
Später wurde George ein Besuch bei Frau und Sohn gestattet. Elizabeth lag erschöpft im Bett, ihr Gesicht war blass, doch sie lächelte - zum ersten Mal seit Wochen. George beugte sich über sie und küsste ihre feuchte Stirn. Dann ging er zur Wiege hinüber und betrachtete das kleine, rotgesichtige Häufchen Menschlichkeit, das, wie eine Mumie verpackt, darin lag. Sein Sohn. Vor fünfunddreißig Jahren hatte Nicholas Warleggan mit einer Zinnschmelzhütte begonnen und nach und nach ein Vermögen angehäuft. Heute erstreckten sich die Minen- und Bankinteressen der Warleggans bis nach Plymouth. Zu dieser Expansion hatte George in den letzten zehn Jahren weitgehend beigetragen. All das sollte dieser Knabe, wenn er die Fährnisse der Kindheit überstand, eines Tages erben.
George war sich klar darüber, dass seine Ehe mit Elizabeth Poldark für seine Eltern eine herbe Enttäuschung bedeutet hatte. Nicholas hatte Mary Lashbrook, eine ungebildete Müllerstochter, geheiratet, und das hatte sich auf seinen sozialen Aufstieg hemmend ausgewirkt. Für seinen Sohn hatte er andere Ambitionen. George hatte eine sorgfältige Erziehung genossen, er war vermögend, war in der Lage, sich in Kreisen zu bewegen, die Nicholas in seiner Jugend verschlossen gewesen waren und ihm auch heute noch nicht völlig offenstanden. Sie hatten Töchter aus wohlhabenden Häusern auf ihren Landsitz in Cardew eingeladen, hatten Gesellschaften für adlige und einflussreiche Leute in ihrem Haus in Truro veranstaltet und dabei peinliche Absagen riskiert. Sie hatten so sehr auf Georges Sinn für sozialen Aufstieg gebaut, hatten so sehr gehofft, er werde sich für eine Frau mit Titel und Einfluss entscheiden. Stattdessen war er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr unverheiratet geblieben und hatte sich trotz seines sozialen Ehrgeizes für die zarte, verarmte Witwe von Francis Poldark entschieden.
Zwar war Elizabeths Familie alt und in der Grafschaft sehr angesehen. Aber sie war auch degeneriert - man brauchte nur Elizabeths Vater anzusehen, um das zu erkennen. Seit langem hatten die Chynoweths nicht mehr zustande gebracht, als nur weiterzuleben. Nicht einmal eine vorteilhafte Heirat war ihnen geglückt.
Doch Elizabeth war schön - und sie war jetzt schöner denn je. Ihr Äußeres war makellos und frisch, und sie wirkte mit ihren dreißig Jahren wie eine Zwanzigjährige, die ihr erstes Kind zur Welt gebracht hat.
Zu den Ersten, die Elizabeth im Wochenbett besuchten, zählte natürlich ihr Schwiegervater. Nachdem er sie geküsst und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, bewunderte er seinen Enkel. Als er schließlich das Schlafzimmer verließ, den knarrenden Flur zur Treppe entlangging und die Stufen zur großen Halle hinabstieg, dachte er: Ich sollte zufrieden sein. Das Fortbestehen der Familie war gesichert. Seine Schwiegertochter hatte seinen Erwartungen entsprochen. Mehr konnte er von ihr nicht verlangen. Vielleicht hatten die Warleggans, vor allem in der Zukunft, auch keine einflussreichen familiären Beziehungen mehr nötig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die großen Familien in Cornwall sie akzeptieren würden. Und Elizabeth gehörte zu ihnen. Einen Titel konnte man auch auf andere Weise bekommen - vielleicht durch einen Sitz im Parlament oder durch größere Stiftungen . Der Krieg musste sich günstig auswirken. Die Kaufleute und Händler würden an ihm verdienen, die Banken florieren. In der vergangenen Woche war der Zinnpreis um fünf Pfund gestiegen.
Abgesehen von ihrer vornehmen Abstammung hatte Elizabeth auch noch dieses Haus in die Ehe gebracht, das 1509 gebaut und erst 1531 vollendet worden war. Im letzten Sommer hatte George es gründlich restaurieren lassen. Zum ersten Mal war Nicholas vor elf Jahren hier gewesen, bei dem Empfang und dem Bankett anlässlich der Heirat von Elizabeth Chynoweth mit dem Sohn des Hauses, Francis. Damals war der alte Charles William noch am Leben gewesen, Herr des Hauses, des Bezirks, des Familienclans; sein Erbe war Francis, ein lebhafter Zweiundzwanzigjähriger. Dann war da noch die Tochter Verity, die später einen unbedeutenden Seemann geheiratet hatte und nun in Falmouth lebte. Außerdem gab es die Vettern - William Alfred, einen frömmelnden Pfarrer, der mit seiner Familie in Devon lebte. Und Ross Poldark, der bedauerlicherweise in der Nachbarschaft wohnte und wider Erwarten zu Wohlstand...