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Zum Weihnachtsfest 1965 schenkten meine Eltern mir Ralf Dahrendorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Begeistert las ich erstmals ein soziologisches Buch. Allerdings war ich bald überrascht: In den klugen Analysen des langen deutschen Wegs in die Moderne kamen so wichtige gesellschaftliche Akteure wie die beiden großen Volkskirchen nur am Rande vor. Zwar rechnete Dahrendorf die «Herren der Kirche» den Mächtigen im Lande zu, und in den zumeist aus der Unterschicht rekrutierten katholischen Bischöfen sah er eine «höchst exzentrische deutsche Elite». Auch deutete er den Abbau der Sozialkontrolle der Kirchen «über das außerreligiöse Verhalten ihrer Mitglieder» an. Doch ansonsten fiel dem brillanten Analytiker der deutschen Verhältnisse zu den Kirchen nicht viel ein.
Damit kann Dahrendorf als repräsentativ für die deutschen Sozialwissenschaften gelten. Für jene Disziplinen also, mit deren Hilfe sich moderne Gesellschaften selbst zu beobachten versuchen. Doch im Fall der Kirchen wurde der methodisch kontrollierte Blick von außen weithin unterlassen. An die kurze Blüte der Kirchensoziologie im Westdeutschland der fünfziger bis siebziger Jahre - genannt seien für den Katholizismus nur Franz-Xaver Kaufmann und für den Protestantismus Trutz Rendtorff und Karl-Wilhelm Dahm - haben in den letzten dreißig Jahren bloß einige wenige soziologisch arbeitende Theologen wie Karl Gabriel, Michael N. Ebertz, Karl-Fritz Daiber und Detlef Pollack produktiv erinnern können. Die deutschsprachige akademische Soziologie selbst zeigt an Kirchensoziologie keinerlei Interesse, so dass sie Macht und mentale Prägekraft der Kirchen notorisch unterschätzt.
Auch im medialen Diskurs lässt sich viel Kirchenignoranz beobachten. So wissen die Deutschen über ihre Kirchen nur wenig. Desto überraschter waren sie im Frühjahr 2010 über die skandalösen Zustände in vielen kirchlichen, keineswegs nur katholischen Schulen, Internaten und Ordensgemeinschaften. Offenkundig geht es in den Kirchen nicht anders zu als in sonstigen zivilgesellschaftlichen Organisationen des Landes. Doch weshalb sollten die Kirchen besser als der Rest der Gesellschaft sein?
Die Antwort lautet: Beide großen Kirchen treten seit den Anfängen der Bundesrepublik gern mit einem starken moralischen Mandat auf. Sie haben ein «prophetisches Wächteramt» gegenüber Staat und Gesellschaft reklamiert, sich selbst die Rolle eines Hüters der öffentlichen Sozialmoral zugeschrieben und bei allen möglichen Konflikten suggeriert, über hilfreiches Orientierungswissen und konstruktive Problemlösungskompetenz zu verfügen. In politisierender Funktionsökumene haben sich die Kirchen fortwährend ins politische Geschäft «eingemischt», ohne dass ihnen der demokratische Souverän oder die Kirchenmitglieder ein allgemeinpolitisches Mandat erteilt hätten.
Ihre Rhetorik von Werten, sittlichen Prinzipien, göttlichen Geboten und christlichem Menschenbild verstärkt nun gerade jene tiefe Vertrauenskrise, die weithin die Beziehungen zwischen den Kirchen und der Öffentlichkeit überschattet. Nur 17 oder 20 Prozent - je nach Umfrage - der Katholiken halten ihre Kirche noch für eine vertrauenswürdige Institution. Bei den Protestanten sieht es nicht viel anders aus. Hier wie dort wirft man leitenden Kirchenvertretern Heimlichtuerei, Misswirtschaft und Verlogenheit vor. Mitleid haben sie deshalb nicht verdient. Denn die «Kirchenführer» tragen für die Kirchenkrise entscheidend Verantwortung, lassen kaum Bereitschaft zu einer realistischen Sicht der gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse erkennen und sind mit wenigen Ausnahmen zu gebotener Selbstkritik außerstande. Bestaunen konnte die deutsche Öffentlichkeit im Jahr 2010 auch einen erschreckenden Mangel an Professionalität im Krisenmanagement des kirchlichen Leitungspersonals.
Gut 60 Prozent der Deutschen gehören den beiden großen christlichen Volkskirchen an, mit deutlichen Unterschieden zwischen Ost und West. Im deutschen Sozialstaatskorporatismus sind die Kirchen sehr mächtige Organisationen. Schon einige wenige Daten zur «kirchlichen Statistik» lassen erkennen, wie stark Sozialstaat und Gesellschaft von funktionstüchtigen Kirchen abhängen. Die evangelischen Landeskirchen beschäftigten Ende 2007 216.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, darunter gut 22.000 Pfarrerinnen und Pfarrer; der Frauenanteil in der Pfarrerschaft lag 2009 bei 33 Prozent. Die protestantische Diakonie gibt knapp 224.000 Vollzeit- und 212.000 Teilzeitbeschäftigen Arbeit. Die römisch-katholische Kirche beschäftigte 2009 in den 27 deutschen Bistümern 13.158 inkardinierte, den jeweiligen Bistümern angehörende Weltpriester, unter ihnen 105 Bischöfe, 1492 Priester aus anderen, also ausländischen Bistümern, 2209 Ordenspriester sowie 2972 ständige Diakone, 4500 Gemeindeassistenten beziehungsweise Gemeindereferenten (davon sind 3513 Frauen) und 3081 Pastoralassistenten, also ein geistliches Personal von gut 27.200 Hauptamtlichen. Hinzu kommen 3192 Ordenspriester, die nicht in Bistümern, sondern in Ordensinstituten arbeiten. Über sonstige Mitarbeitende wie Sekretärinnen im Pfarrbüro, Kirchenmusiker, Küster oder Mesner liegen keine verlässlichen Angaben vor. Die katholischen sozialen Dienste der Caritas beschäftigten am 31. Dezember 2008 - neuere Zahlen liegen noch nicht vor - knapp 510.000 hauptamtliche Mitarbeiter, davon 215.583 in Vollzeit und 291.894 in Teilzeit. Eigene Beachtung verdient dabei der sehr hohe Frauenanteil: knapp 78 Prozent in der Gesundheitshilfe, fast 91 Prozent in der Kinder- und Jugendhilfe, 89,57 Prozent in der Familienhilfe, gut 88 Prozent in der Altenhilfe. Die Kirchen und ihre Sozialholdings geben also gut 1,3 Millionen Menschen Arbeit und sind damit nach «dem Staat», nach Bund, Ländern und Kommunen, der größte Arbeitgeber im Lande. Bei der Gestaltung des Arbeitsrechts berufen sich die Kirchen sowie Caritas und Diakonie auf die den Kirchen im Grundgesetz garantierte Autonomie. So lehnen sie es beispielsweise ab, auf ihre Krankenhäuser und Altenheime das Betriebsverfassungsgesetz und das Mitbestimmungsgesetz anzuwenden. Bei kirchlichen Einrichtungen Beschäftigte können keine Betriebsräte wählen. Vielmehr wählen sie sogenannte Mitarbeitervertretungen, deren Mitspracherechte gegenüber den Kompetenzen von Betriebsräten deutlich eingeschränkt sind. Die Kirchen begründen ihren «Dritten Weg» im Arbeitsrecht mit der Idee der «Dienstgemeinschaft» aller in der Kirche Arbeitenden, einschließlich der Kirchenleitungen und der Führungskräfte in Caritas und Diakonie, und sprechen deshalb von «Dienstnehmern» und «Dienstgebern», die gemeinsam den Auftrag von Kirche und Diakonie am Nächsten wahrnehmen wollen. Mit Ausnahme nur der evangelisch-lutherischen Kirche Nordelbiens - Hamburg und Schleswig-Holstein - und, mit Einschränkungen, der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz führen die Kirchen und ihre Sozialholdings deshalb auch keine Tarifverhandlungen mit irgendwelchen Gewerkschaften, obwohl die für den öffentlichen Dienst zuständige Gewerkschaft ver.di in den letzten Jahren verstärkt und mehrfach auch mit rechtswidrigen Instrumenten versucht hat, bei kirchlich Beschäftigten Resonanz zu finden. Zumeist wird das kirchliche Arbeitsrecht in sogenannten Arbeitsrechtlichen Kommissionen (ARK) der Kirchen festgelegt. Nach zweijährigen harten Konflikten in der Arbeitsrechtlichen Kommission des Diakonischen Werkes der EKD - die Dienstnehmer hatten im Juli 2008 die zweite Stufe eines Schlichtungsverfahrens boykottiert, und im Juli 2009 hatten mehrere Landeskirchen, Diakonische Werke und einzelne Einrichtungen ver. di wegen illegaler Streikaufrufe erfolgreich verklagt - hat ein neutraler Schlichter nun die Rechtsauffassung der Dienstgeber, speziell des Diakonischen Werks, bestätigt und damit die kirchliche Selbstbestimmung im Arbeitsrecht gestärkt. Aber man bedarf keiner prophetischen Kompetenz, um die Prognose zu wagen, dass ver.di - eine Gewerkschaft, die wie andere unter deutlichem Mitgliederschwund leidet - die gebotene «Weiterentwicklung des diakonischen Arbeitsrechts» (Markus Rückert) weiterhin zu verhindern versuchen wird. Auch sehen europäische Gerichte die in der deutschen Rechtsprechung bisher vertretene expansive Deutung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zunehmend kritisch. So sind weitere arbeitsrechtliche Konflikte zu erwarten.
Caritas und Diakonie haben seit den fünfziger Jahren dank hoher sozialstaatlicher Transferleistungen zahlreiche neue gesellschaftsdiakonische Aufgaben übernommen, etwa in der Altenpflege, der Schuldnerberatung oder der Integration von Menschen mit hohem Assistenzbedarf. Sie haben als sogenannte «Non-Profit-Unternehmen» bei gutem strategischen Management in den letzten Jahren viel Geld verdient, das sie dringend für die Investition in neue Angebote, den Erhalt und die Modernisierung der Bausubstanz sowie für Rücklagen benötigen. Mit großer Mehrheit wollen die Deutschen dies so. Caritas und Diakonie genießen in der Bevölkerung ein...
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