Schweitzer Fachinformationen
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Ein kleiner Junge steht am Fenster seines Zimmers und blickt in den Garten. Er kann sich kaum losreißen vom Anblick der rosa Blüten des Apfelbaums, vom Hellgrün der jungen Blätter und von den bunten Farbtupfen im Blumenbeet. Ein neuer Garten für ihn und seine kleine Schwester! Um besser übers Fensterbrett schauen zu können, schleppt er einen Stuhl zum Fenster und klettert hinauf.
»My garden!«
»Nein, mein Garten«, korrigiert er sich gleich. So haben es ihm die Eltern erklärt. Aufgrund der häufigen Reisen nach England und der englischen Kinderbücher, die sie ihm abends vor dem Einschlafen immer vorgelesen haben, ist das Englisch des Kleinen mit dem Blondschopf und den hellen Augen besser als sein Deutsch. Er heißt Jan, hat sich diesen Namen selbst ausgesucht. Er gefällt ihm besser als Johannes Mario. Seinen Vater nennt er nur Tommy.
Jan und seine Familie, die vier Jahre jüngere Schwester Eva und die Eltern Lisa und Tommy, der eigentlich Walter heißt, wohnen erst seit kurzer Zeit in dem geräumigen Gebäude in Neustift am Walde, im Haus Nummer 24 der gleichnamigen Straße. Es ist ein idyllischer Flecken Erde, ideal, um Kinder großzuziehen. Ein gutbürgerliches, gepflegtes Quartier, und doch nicht allzu teuer. Gerade richtig für eine Familie, deren Vermögen nach dem Börsencrash im Vorjahr empfindlich geschrumpft ist.
Jan hat das Fenster geöffnet und steht nun mit einem Fuß auf dem Brett, um den Apfelbaum vor ihm besser sehen zu können.
»Butzl, no, no! Komm sofort herunter vom Stuhl! Was sagt sonst die Mama? Gleich ich kriege mein Aufstoßen.«
Jan erschrickt, er hat Mila nicht kommen hören, obwohl die rundliche ältere Frau nicht eben leichtfüßig unterwegs ist. Schwer atmend steht sie nun hinter ihm, legt die Arme um seinen schmächtigen Körper und drückt ihn an sich. Das hat Jan nicht gewollt; auf keinen Fall will er sie ängstigen, die Gutmütige, Lustige, Sanfte. Die immer da ist für Jan und die kleine Eva, stets fröhlich und zuversichtlich. Doch wenn sie sich aufregt wie jetzt, schluckt sie schwer, als ob sie einen dicken Kloß im Hals hätte.
Mila Blehova hätte sich in diesem Moment nicht vorstellen können, dass sie und ihr breiter tschechischer Akzent viele Jahre später einem Millionenpublikum bekannt sein würden. Dass der kleine Jan sie in seinen Büchern unsterblich machen und ihr das Buch Affäre Nina B. in memoriam widmen wird:
»Sie hieß Mila Blehova, und sie stammte aus Prag. Sie hatte eine breite Entennase und ein prächtiges, falsches Gebiss und das gütigste Gesicht, das ich in meinem Leben gesehen habe. Wenn man sie erblickte, wusste man: Diese Frau hatte noch niemals eine Lüge ausgesprochen, diese Frau war unfähig, eine Gemeinheit zu begehen. Klein und gebückt, das weiße Haar straff nach hinten gekämmt, stand sie beim offenen Fenster der großen Küche und arbeitete, während sie sprach. >So ein Unglück, so ein großes Unglück, Herr .< Ein paar Tränen rollten über die faltigen Wangen. Sie wischte sie mit dem Ellbogen des rechten Armes fort. >Müssen entschuldigen, dass ich mich so gehen lasse, aber sie ist wie mein Kind, wie mein eigenes Kind ist sie, die Nina.<«3
Mila liebt Jan, ihren Butzl, und die kleine Eva innig. Und auch der gnädigen Frau ist sie treu ergeben. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn sie damals, im Frühling 1930, gehört hätte, dass aus dem Knirps einmal einer der erfolgreichsten Autoren des deutschsprachigen Raums werden würde? Dass seine Bücher über 73 Millionen Mal verkauft und in 30 Sprachen gelesen werden würden? Dass man ihn in Südafrika, in einer Übersetzung in Afrikaans, genauso verschlingen würde wie in Portugal oder Japan? Vermutlich hätte sie gutmütig den Kopf geschüttelt und ungläubig gelacht. Denn seit sie vor drei Jahren den Dienst bei der Familie Simmel aufgenommen hat, ist das Geld knapp geworden. Bestsellerautor? Das muss ein Scherz sein.
Ja, früher, in Gaaden bei Mödling, dreißig Kilometer südwestlich von Wien, da war alles anders gewesen. Zwei »Madeln« hatten sich um die schwere Arbeit gekümmert, hatten Kohle geschleppt, die Wäsche gebügelt und die Böden gefegt. Nun übernehmen Mila und Lisa Simmel alles alleine. Sie kaufen ein, kochen für sich und die Pensionsgäste, erledigen den Haushalt, arbeiten im Garten, und Mila findet auch noch Zeit, um ihre berühmte Johannisbeermarmelade zuzubereiten. Seit Jahren plagen sie Schluckbeschwerden, die Folge einer Schilddrüsenüberfunktion, und wenn Mila schwer atmet, kriegt sie manchmal kaum Luft. Deshalb achtet die Familie darauf, sie nicht unnötig aufzuregen.
Ob sich der kleine Dialog am offenen Fenster so abgespielt hat, wissen wir nicht. Doch ist erwiesen, dass Butzl, der Junge am Fenster, sehr gerne hinausblickt und den Garten liebt. Er ist am 7. April 1924 als Johannes Mario Simmel im Rudolfinerhaus im 19. Wiener Gemeindebezirk Döbling zur Welt gekommen. Der Säugling wird hineingeboren in eine Zeit, in der sich Österreich unter Schwierigkeiten vom Ersten Weltkrieg erholt. Nur fünf Jahre zuvor ist die mächtige Donaumonarchie von den Siegermächten tief gedemütigt worden. Alles scheint verloren oder zumindest bedroht - der habsburgische Vielvölkerstaat, die Bedeutung Österreichs in Europa, das Staatsvermögen und der Frieden im Land. Der Börsencrash vom Oktober 1929 ist verheerend für die junge Demokratie. Auch Marios Eltern haben einen großen Teil ihres Vermögens eingebüßt und müssen nun den Gürtel viel enger schnallen. Deshalb haben sie dieses Haus in Neustift am Walde gemietet. Es bietet genügend Platz für die Familie und für zahlende Gäste.
Walter und Lisa, der Kaufmann und die Journalistin, sind ein modernes, liberales Paar. Sie reisen gerne, jedenfalls solange sie noch die Mittel dazu haben, leben in Österreich und in England, wo ihr Sohn Jan in London und Worcester in den West Midlands kurzzeitig die Grundschule besuchen wird. Wenn die Kinder sie nicht begleiten können, werden sie ohne viel Federlesen in einem Kinderheim untergebracht. Die Eltern sind in Konzerten, Kunstausstellungen, im Kino und Theater anzutreffen und lieben es, im eleganten Café »Imperial« des gleichnamigen Hotels zu verkehren. Die beiden jungen Menschen stammen aus Ostdeutschland: Walter Adolf wurde am 4. Januar 1890 in Schmiedeberg im schlesischen Riesengebirge geboren, das damals zu Preußen gehörte, heute in Polen liegt und Kowary heißt. Seine Eltern, der Rechtsanwalt Reinhold Simmel und seine Frau Rosa, sind konvertierte Juden. Auch ihr Sohn erhält mit zehn Jahren die evangelische Taufe. Johannes Mario Simmel vermutet später, dass die Konversion seines Großvaters vor allem berufliche Gründe hatte. Denn vor 1900 schränkte ein Numerus clausus die Zahl jüdischer Jurastudenten ein. Nach seinem Religionswechsel steht der Ausbildung zum Rechtsanwalt nichts mehr im Weg. Als Vertreter der deutschsprachigen Bevölkerung von Schmiedeberg, vielleicht mit hanseatischen Wurzeln, muss er ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft gewesen sein. Doch er will seine Söhne zusätzlich schützen vor der immer wieder aufflackernden Willkür gegenüber Juden. Es wird ihm nicht gelingen, doch noch weiß die Familie nichts von dem Schicksal, das sie erwartet.
Von 1910 bis 1911 arbeitet Walter, der Vater des späteren Autors, als deutschsprachiger Sekretär für einen gewissen E.S. Prather in der High Street 177a in Kensington, London. Das sehr wohlwollende Zeugnis des Arbeitgebers wünscht dem jungen Mann Erfolg bei seiner Rückkehr nach Deutschland. Während des Ersten Weltkriegs leistet Walter Kriegsdienst als einfacher Soldat. Und nach Kriegsende? Johannes Mario Simmel wird den Beruf seines Vaters stets mit Holzchemiker umschreiben. Wir finden aber keine Belege für ein Studium der Chemie. Auch passt ein Studium schlecht in den uns bekannten Lebenslauf: Als der junge Mann das erwähnte Londoner Jahr bei E. S. Prather absolviert, ist er zwanzig Jahre alt. Hätte er tatsächlich Chemie studiert, wäre es wenig wahrscheinlich, dass er 1910 als Sekretär tätig war. Für ein Studium nach seiner Rückkehr nach Deutschland gibt es ebenfalls keine Belege, im Matrikelportal der 1919 gegründeten Universität Hamburg ist Walter Simmel nicht zu finden.4 Auf amtlichen Dokumenten nennt er stets Kaufmann als Beruf, und auch seine Frau Lisa bezeichnet ihn so, als sie viel später, während des Krieges, vor Gericht über ihn aussagt. Er sei als Prokurist bei der Forstindustrie AG in der Brucknerstraße 4 in Wien tätig gewesen, bevor er sich 1924 als Holzhändler selbstständig gemacht habe. Nach erfolgreichen Jahren sei ihr Mann verarmt, sei sogar wegen Veruntreuung angeklagt worden. Er habe sich seiner Strafe zunächst durch Flucht in die Schweiz entzogen, diese aber schließlich 1929 in Wien verbüßt. Allerdings müssen ihre Worte mit Vorsicht genossen werden, denn als Lisa ihren Mann verklagt, hat sie traurige Gründe dafür.
Unbestritten ist, dass Walter regelmäßig nach England reist und ausgezeichnet Englisch spricht. Für eine Tätigkeit im Rahmen der deutschen V1- und V2-Waffen-Produktion, wie sie in gewissen Quellen aufgeführt ist, finden sich keine Belege. Es wäre auch sehr unwahrscheinlich, dass ein deutscher, emigrierter Jude nach 1939 von den Nazis als Zwangsarbeiter...
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