Schweitzer Fachinformationen
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EIN UMZUGSTAG
Es piept. Ich habe mich mitten im Wald auf diesem verflixten Waldweg festgefahren, der Hänger liegt praktisch auf, es geht nicht vor und nicht zurück. Und jetzt piept es auch noch aus dem bunt blinkenden Armaturenbrett. Herrgott, was denn noch! Ich höre Jasmins Stimme: »Nu ma domma den verdammten Wecker aus!« Im Bett in der anderen Ecke des Zimmers rührt sich etwas. Erleichtert werde ich wach. Kein festgefahrenes Gespann, kein piependes Armaturenbrett. Es ist nur mein Telefon. 4:00 Uhr zeigt das Display. Wir müssen raus.
Wer Ameisen umsiedelt, muss früh aufstehen. Am Morgen, wenn es noch kühl ist, sind die kleinen Krabbler noch nicht so aktiv. Von den bis zu einer Million Tieren, die ein Waldameisennest beherbergen kann, sind die meisten Außendienstlerinnen noch zu Hause und nicht im Wald unterwegs. Ist man zeitig am Nest und schnell genug, dann bekommt man den größten Teil der Tiere in die Tüten und die Nachsorge wird nicht so stressig. Wenn es gut läuft.
Gestern lief es definitiv nicht gut. Das eine Nest war riesig. Dreimal mussten wir fahren, bis wir alles Nestmaterial einigermaßen und im wahrsten Sinne des Wortes im Sack hatten. Und der Nestkern, der zwar alte, aber riesige Stubben einer Kiefer, hatte sich entschieden geweigert, an einen neuen Standort verfrachtet zu werden, so sehr wir ihm auch mit Spaten, Axt, Kettensäge und der Seilwinde zu Leibe gerückt waren. Wir hatten ihn am Ende zwar bezwungen, alles hatte aber so lange gedauert, dass wir erst um elf mit den Vorbereitungen für den nächsten Tag und einem erschöpft hinuntergeschlungenen Abendessen fertig geworden waren.
Jetzt steht Benjamin schon wieder in der Küche. Er hat Kaffee gemacht. »Mogään!«, strahlt er mich an. Fürchterlich gut gelaunt schon am Morgen, und auch ansonsten: unkaputtbar dieser Bursche. Was ich von mir gerade nicht sagen kann. Vor vierzehn Tagen haben wir mit der neuen Kampagne angefangen. Es ist Ende April. Wenn alles läuft wie geplant, sind wir hoffentlich Ende Mai fertig. Ungefähr 30 Nester haben wir bisher umgesiedelt und jetzt, noch steif von der Nacht, tut mir so ziemlich alles weh. Lena, Noah und Julian schlurfen in die Küche. Na, dann haben wir wieder alle beisammen. Kurz stimmen wir ab, wer heute mit wem zusammen arbeiten wird, packen etwas Proviant ein und um 20 vor fünf sitzen alle in einem der beiden Autos.
Leben in der Wüste
Mein Auto ist ein zweieinhalb Tonnen schwerer Geländewagen. Papiertüten, Spaten, Abdeckplanen, Axt, Motorsäge und allerlei Kisten und Kästen mit Kleinkram liegen auf dem vier Meter langen vollgepackten Tandemanhänger mit Plane. Mit diesem Gespann geht es zur Autobahnbaustelle an der A24 bei Berlin, oder besser: zu dem, was bald Baustelle werden soll.
Denn bevor hier die Bagger anrücken und die dritte Fahrspur gebaut werden kann, gilt es, den Gesetzen und den Regeln des Naturschutzes Genüge zu tun. Im letzten Herbst sind meine Mitarbeiter und ich darum durch den Wald am Rand der Autobahn gestolpert. Bewaffnet mit Klemmbrett, digitalem Kartenmaterial und Tablet haben wir alle Waldameisennester, die sich noch im sogenannten »Baufeld« befanden, also in dem Bereich, in dem gebaut werden soll, kartiert und mit Pfosten und Flatterband markiert. Zu dem Zeitpunkt hatten wir bereits mehr als 230 Nester auf eben dieser Baustelle an der A10 und der A24 umgesiedelt. Aber der Herbst rückte näher und an weitere Umsiedlungen war nicht mehr zu denken. Mehr als 60 Nester verblieben im Baufeld und mussten gesichert werden. Im Winter sind dann die Fälltrupps angerückt und haben den Wald gerodet, während die Ameisen tief im Nest in Winterruhe waren. Das Baufeld ist jetzt im Frühjahr eine wüste, baumlose Schneise entlang der Autobahn, auf der hier und da Flatterbandrechtecke zu sehen sind. Man könnte meinen, die Polizei habe hier Tatorte markiert .
Wir rumpeln auf einem provisorischen Weg durchs Gelände entlang der Autobahn. Der Lärm, der uns den Tag lang wieder begleiten wird, nimmt zu: LKWs und die ersten Pendler auf dem Weg in die Metropole. Was wohl die Fahrer denken, wenn wir später buddelnd und schleppend in der Sonne schuften? Den Blick abwechselnd aufs Tablet, die Piste und die Umgebung gerichtet, versuche ich die Nester in der Morgendämmerung ausfindig zu machen. Nur keines übersehen! Nicht immer haben unsere Markierungen die Fällarbeiten heil überlebt. Und die meisten Waldameisennester haben nur einen kleinen Hügel aus Kiefernnadeln, kleinen Stöckchen und anderem Nistmaterial. Denn die Gleichung: Großer Hügel = großes Nest stimmt so nicht. Zwar kann ein kleines Völkchen in der Regel keinen großen Hügel zusammenschleppen, aber ein kleiner Hügel bedeutet nicht, dass das Volk, das darunter wohnt, winzig wäre. Denn der Hügel ist gar nicht die eigentliche Wohnung der Ameisen. Er dient vor allem dazu, die Wärme im Nest zu halten, das darunter liegt. Waldameisen leben darum gerne am Rand von Wald oder Waldwegen und auf der Sonnenseite. Ist der Wohnort etwas beschatteter, dann wird in der Regel der Hügel auch etwas größer. Hier sind fast alle Hügel kaum mehr als flache Erhebungen in einer ohnehin sehr buckligen Landschaft.
Schließlich haben wir die ersten drei Nester, die heute umziehen sollen, gefunden. Wenn ich mich umschaue, wird mir mulmig. Hier war im Herbst noch ein breiter Gehölzstreifen, der den Ameisen genug Nahrung bot. Jetzt sehe ich weit und breit keinen Baum und keinen Strauch mehr, dafür aber in der Ferne die ersten Baumaschinen, die den Oberboden abtragen. Wenn wir heute auch nur drei Nester schaffen, wird es eng. Nicht weil dann irgendwann die Bagger kommen und die Nester einfach plattmachen. Das ist unzulässig und passiert auch nicht. Aber die Tiere haben hier nichts mehr zu fressen. Die Sonnungsphase (siehe auch Kapitel »Das Ameisenjahr«) ist fast abgeschlossen, in den letzten Tagen haben wir beim Umsiedeln schon Geschlechtstierpuppen gefunden. Die Völker stehen also schon in der Frühjahrsentwicklung und brauchen jetzt unbedingt viel kohlenhydratreiche Nahrung. Aber Futterbäume, auf denen die Läuse leben und denen die Ameisen süße Ausscheidungen abmelken können, gibt es hier nicht mehr. Ich mache mir Sorgen. Wir müssen uns beeilen und teilen uns auf: Je zwei kümmern sich um ein Nest.
Jetzt geht's los
Ich arbeite heute mit meiner ältesten Tochter Jasmin zusammen. Wir schauen uns kurz »unser« Nest an und stellen Mutmaßungen über dessen Größe an, während wir unser Werkzeug auspacken und griffbereit in Nestnähe legen. Ich schätze, dass wir ungefähr 30 Säcke brauchen werden, um alles einzupacken. Ein 08/15-Nest. Jasmin hält dagegen: »Der Sandauswurfring ist groß. Wirst schon sehen: Ein richtig tiefes und breites Monster.« Ich grinse und freue mich riesig darüber, wie sehr sie bei der Sache ist. Noch vor einem Jahr hätte ich meinen linken Fuß darauf verwettet, dass Jasmin niemals eine Ameisenumsiedlerin wird. Wir sind jetzt so weit, es kann losgehen. Zuvor prüfe ich aber noch einmal, ob es wirklich Kahlrückige Waldameisen sind, mit denen wir es hier zu tun haben. Ja, super, also können wir mit mehreren Königinnen rechnen (siehe dazu Kapitel »Von Punks und Blondinen«).
Jetzt kribbelt es mich in den Fingern, Adrenalin. Es muss schnell gehen. Ich greife mit beiden Händen in die trockene, lockere Neststreu. Die Wächterinnen sind überrascht, greifen aber prompt an. Sofort riecht es scharf und stechend. Eine Wolke aus Ameisensäure. Früher fand ich diesen Geruch eher abstoßend, heute fehlt er mir im Herbst und Winter, wenn wir keine Nester umsiedeln. Das ist der Duft dieser fleißigen, sehr intelligenten und unglaublich außergewöhnlichen Tierchen, die einem den Atem rauben - manchmal auch buchstäblich. Bei großen Völkern kann es passieren, dass sehr viel Säuredämpfe in der Luft sind. Ein tiefer Atemzug im falschen Augenblick, und man bekommt erstmal keine Luft mehr.
Jasmin und ich sind ein eingespieltes Team. Sie weiß, wie sie den Sack halten muss, damit ich Hand um Hand des losen Nistmaterials hineinschaufeln kann. Jetzt stoße ich auf etwas Festes. Mist, auch hier ein Stubben, typisch Kahlrückige Waldameise. Ich packe ihn und rüttle vorsichtig. Gott sei Dank: Der Stubben sitzt locker, wir werden ihn null Komma nichts rauskriegen. Aber erst einmal müssen wir alle Neststreu um den Stubben herum bergen. Der erste Sack ist voll, es folgt ein zweiter.
Ich spüre, dass das Nestmaterial wärmer wird. Gleich werde ich auf Puppenkammern stoßen, und tatsächlich, da liegen sie schon: die wunderbar gleichmäßig ovalen, eng aneinander gepackten, hellbeigen Puppen der Geschlechtstiere. Eine wunderschöne, sorgfältig gepflegte Ordnung. In jeder Puppe steckt eine fast voll entwickelte junge Königin oder ein Männchen. Wenn sie geschlüpft sind, werden sie die zarten, durchsichtigen Flügel ausbreiten und zum Hochzeitsflug aufbrechen (siehe auch Kapitel »Das Ameisenjahr«). Was für ein Wunder!
Jetzt aber herrschen Chaos und Entsetzen. Die Brutpflegerinnen packen die Puppen ihrer künftigen jungfräulichen Regentinnen und versuchen, sie tiefer ins Nest zu verfrachten. Ein mich rührender Einsatz, tollkühn und entschlossen. Da versucht doch tatsächlich eine wackere Arbeiterin, zwei Puppen auf einmal in Sicherheit zu bringen. Ich packe zu und befördere ganz behutsam Hand um Hand die mit Puppen und aufgeregten Tieren durchsetzte Neststreu in die Säcke. Jasmin achtet darauf, dass diese nicht zu schwer werden. Schließlich müssen wir sie nachher auf den Hänger wuchten, am Ansiedlungsort wieder abladen und dann vielleicht sogar einige Meter durch den Wald schleppen. Und auch die Tiere sollen nicht zerdrückt werden.
Jetzt ist die Neststreu fast vollständig verpackt, »4 Sack Neststreu« notiert...
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