Kapitel 1
»Sechs, fünf, vier!« Dusty zählt den Countdown herunter. Unter mir vibriert mein Motorrad, mein Herz schlägt so schnell wie beim ersten Mal. Ich rieche das Benzin, schmecke förmlich die feuchte Erde. Um mich herum dröhnen die Motoren, die Luft zittert vor Spannung. Tropfen klatschen gegen mein Visier, und ich wische sie schnell mit dem Handschuh weg.
»Das wird 'ne Schlammschlacht!« Rechts von mir hebt Eagle den Daumen. Sein Visier steht offen, sodass ich sein breites Grinsen sehen kann.
Ich nicke ihm zu und blicke wieder nach vorn zu der braunen Brühe in den Pfützen. In meinem Magen kribbelt es, als ich daran denke, wie die Reifen meiner Honda gleich durch sie hindurchgleiten werden. Ich rutsche unruhig umher, schließe meine Hände fester um den Lenker.
»Denkt daran, Leute, wenn etwas schiefläuft, ist jeder auf sich allein gestellt.« Dustys Stimme schallt durch die Baugrube. Dunkle Haarsträhnen kleben an seiner Stirn. Er sieht aus wie eine nasse Katze in einem viel zu großen Hoodie.
»Ja, schon klar, wie immer.« Rose lässt den Motor ihres Dirt Bikes aggressiv aufheulen. Jeder von uns kennt die Regeln.
Dusty hebt die schwarze Startflagge mit dem Totenkopf. Der Schädel grinst mich an und ich grinse zurück, denn irgendwie sind wir genau das: gesetzlose Piraten.
»Drei, zwei, eins, Start!« Die Flagge fällt, Dusty bringt sich mit einem Sprung in Sicherheit und ich drehe das Gas auf. Adrenalin pumpt durch meine Adern, die Maschine vibriert stärker und schießt nach vorn. Das ist der Moment, für den ich lebe. Ich setze mich sofort an die Spitze, Rose bleibt dicht hinter mir. In meinem Augenwinkel rutscht Fly mit seiner Kawasaki über den Boden. Ich habe jedoch keine Zeit zu überlegen, ob er verletzt ist, denn vor mir taucht Carlos auf - der Neue. Er ist heute erst zum zweiten Mal dabei, aber legt sich in die Kurven, als würde er das hier schon ewig machen. Der Mann ist gut, aber ich bin besser.
Kopf an Kopf heizen wir nebeneinanderher. Der Regen fällt stärker, lässt die Baugrube hinter einem Schleier verschwinden, aber ich kann es fühlen: Das Ziel liegt direkt vor mir.
Carlos versucht, mich zu überholen, doch diesen Sieg werde ich ihm nicht überlassen. Friss meinen Staub! Ich drehe erneut auf. Mein Bike schlingert durch den Schlamm, ich komme einem der Autos, die am Rand der Grube parken, gefährlich nah. Ein kollektiver Aufschrei geht durch die Zuschauerreihen, doch ich reiße den Lenker im letzten Moment herum. Ich rutsche zurück in die Spur und ziehe an Carlos vorbei, der mir nur noch hinterhersehen kann.
Miranda steht im Ziel, das Gesicht liegt im Schatten ihrer Kapuze. Sie springt auf und ab und schwenkt dabei eine rote Fahne. Noch fünf Meter. Ich verlagere das Gewicht nach rechts und lege mich in die Kurve. Mein Knie streift den Sand. Direkt hinter mir ist Carlos, aber der holt mich nicht mehr ein.
Plötzlich breitet sich ein widerlicher, an - und abschwellender Ton über der Grube aus, immer lauter, immer näher. Sirenen! Ich trete auf die Bremse. Zwei Meter vor dem Ziel kommt die Honda zum Stehen, und ich reiße mir den Helm vom Kopf.
»Die Bullen!« Die Flagge segelt aus Mirandas Hand hinab in eine Pfütze. »Scheiße!«, fluche ich. Warum gerade jetzt? Ich wische mir den Regen aus den Augen. Hinter den Bäumen am Rand der Grube blinkt schon das blaue Licht. Um mich herum bricht Panik aus, Menschen rennen zu ihren Autos, Türen knallen, Motoren starten. Vereinzelt erklingt aber auch Gelächter und mein Herz schlägt unvermittelt schneller, denn ein Teil von mir liebt dieses Katz-und-Maus-Spiel ebenfalls. Ich denke nicht länger an den vergebenen Sieg, sondern gebe meiner treuen Honda die Sporen. Sie schießt sofort los, Sand und Wasser spritzen zu allen Seiten. Leicht kopflos folge ich den Flüchtenden aus der Grube hinaus Richtung Norden. Ich muss mich irgendwie zum Highway durchschlagen.
Nach wenigen Metern führt der Pfad steil bergauf, ich springe ab, um zu schieben. Erst oben an der Böschung halte ich erneut an. Der Abend ist inzwischen hereingebrochen und über den Bäumen scheint der Himmel in Flammen zu stehen. Dazwischen ballen sich düstere Wolken und immer noch treffen vereinzelte Tropfen mein Visier. Ich verziehe den Mund. Die Sirenen machen mich wahnsinnig! »Raven, was ist? Worauf wartest du?« Fly kommt wie ich schiebend die Böschung hinauf. Kaum, dass er den Rand der Grube erreicht hat, springt er in den Fahrersitz und gibt Gas. Er scheint zum Glück unverletzt, trotzdem spüre ich den Anflug eines schlechten Gewissens. Ich hätte früher nach ihm sehen sollen. Aber ich musste ein Rennen gewinnen.
Er winkt mir, ihm zu folgen. Die anderen Rennteilnehmer haben sich bereits in alle Himmelsrichtungen verstreut. Auch ich sollte endlich Land gewinnen und springe auf die Honda. Mein Bike rattert über den Rasen. Bloß weg hier! Sobald wir den Highway erreichen, haben die Bullen keine Chance mehr.
Kurz vor der Straße hole ich zu Fly auf. Mit einem weiteren Wink gibt er mir zu verstehen, dass wir in Richtung Whitefield fahren. Ich bin einverstanden. Unter mir gleitet die Straße im Scheinwerferlicht hinweg, schwarz und glänzend. Die Sirenen werden allmählich leiser und verstummen schließlich ganz, während mein bester Freund und ich wie zwei Outlaws im Wilden Westen in den Sonnenuntergang fahren. Ich grinse unter meinem Helm. Niemand legt sich mit Fly und Raven an.
Wir erreichen die Brücke über den Canadian River. Unter ihr, angeheizt vom Regen, rauscht der Fluss durch sein Bett. Ich werde langsamer. Es ist verboten, mit dem Dirt Bike auf der Straße zu fahren, und die Highway Patrol ist sowieso schon schlecht auf uns zu sprechen. Sie haben sogar einen Namen für uns: Motocross-Idioten. Manchmal denke ich, es könnte etwas Wahres dran sein, denn einige von uns würden fast alles für den Kick tun.
Fly, der noch immer vor mir fährt, winkt mir erneut mit seinem Handschuh. Sofort danach lenkt er die rote Kawasaki auf den Standstreifen, stellt den Motor aus, steigt ab und lehnt sich gegen die Brüstung. Ich tue es ihm gleich. Hinter uns stehen unsere Räder wie zwei treue Reitpferde. Der Sonnenuntergang spiegelt sich im Wasser, am rechten Uferrand erhellen Lampen das Gelände der Abwasseranlage. »Malerisch«, sage ich.
Flys blondes Haar ist zerwühlt und sein Schutzanzug mit Schlamm benetzt. Er lächelt mich an. »Was für ein geiler Abend. Ist es nicht schön, am Leben zu sein?«
Ich schiebe mir eine verfilzte Locke aus der Stirn und schweige. Stumm gebe ich ihm recht: Nie habe ich mich lebendiger gefühlt als jetzt gerade auf dieser schwach beleuchteten Landstraße.
»Und diese Luft!« Fly atmet tief ein. »Und diese Stille!«
Ein Lastwagen rauscht hinter uns vorbei. Ich drehe mich schnell weg, doch zu langsam; der Fahrtwind bläst mir die Abgaswolke direkt ins Gesicht. Mein Hals kratzt, und ich huste in meine Hand. »Ja, beides ist wirklich überwältigend.«
»Witzig.« Fly gibt mir einen leichten Knuff gegen den Oberarm.
»Warum hast du eigentlich angehalten?«, frage ich. »Ich muss morgen früh raus, ich habe Training.« Ich gähne hinter vorgehaltener Hand.
»Apropos Training«, sagt Fly. »Ein Vogel hat mir gezwitschert, dass jemand gerade an Mad Hatters One-handed Superman arbeitet.«
»Das stimmt, und es läuft gut.« Stolz schwingt in meiner Stimme mit.
»Mad Hatter war eine Legende.«
Das weiß ich selbst, jeder weiß das. Er war der beste Motocross-Fahrer, den Oklahoma je gesehen hat. Dementsprechend tief sind seine Fußstapfen.
»Fly, was willst du?«
Plötzlich wirkt er nicht mehr so entspannt. Er fährt sich mit der Hand über den Nacken, wie immer, wenn er nervös ist.
»Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.« Fly redet weiter, jedoch kann ich seinen Worten nicht folgen, weil ein seltsames Flackern auf der anderen Seite des Flusses mich ablenkt. Ein Gewitter? Nein, das kann nicht sein, es regnet nicht mehr und der Himmel ist nicht einmal mehr bewölkt.
Eine Hand erscheint vor meinem Gesicht und bewegt sich rhythmisch von einer Seite zur anderen. »April? Hörst du mir zu? Hallo?«
Fly benutzt meinen richtigen Namen nur wenn er aufgebracht ist, trotzdem höre ich kaum hin, denn das Flackern kommt näher. »Was ist das da hinten?«
»Wo?« Sein Blick folgt meinem ausgestreckten Finger zum anderen Ufer. Ich glaube, in der Ferne ein leises Heulen zu vernehmen. Unvermittelt weicht die Farbe aus Flys Gesicht. »Das sind die Bullen! Ich dachte, die hätten aufgegeben.«
Tatsächlich kommen nun mehrere Wagen der Highway Patrol auf der anderen Seite des Flusses auf die Brücke zu. Scheiße, das ist nicht gut. »Raven, wir müssen hier weg!«
Fly springt auf seine Kawasaki. Er lässt den Motor aufheulen, reißt sie rüde herum und rollt auf die Straße. Ich stehe da wie ein Reh, hypnotisiert vom Scheinwerferlicht, unfähig, mich zu rühren. Wie haben sie uns gefunden? Wir waren uns doch sicher, dass uns niemand gefolgt ist.
»April, beweg dich!« Flys Stimme überschlägt sich. Die Polizei hat die Brücke...