Schweitzer Fachinformationen
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Meine Mutter wurde 1949 in Maovice, einem kleinen Gebirgsdorf im kroatischen Hinterland, geboren. Ihre Familie war arm, das Leben im Karst hart und beschwerlich. Mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern teilte sie sich das einzige Zimmer über einem Viehstall. Nur durch ein kleines Fenster drang ein wenig Tageslicht. Es gab kein fließendes Wasser und nicht einmal ein kleines Holzhäuschen mit Plumpsklo im Garten. Meine Mutter war gezwungen, ihre Notdurft bei jedem Wetter im Gebüsch hinter dem Haus zu verrichten. Manchmal, wenn sie mitten in der Nacht Pipi machen musste, der einzige Nachttopf kaputt war und sie nicht mehr hinauswollte in die klirrende Kälte, bekam sie Bauchschmerzen vom krampfhaften Zurückhalten.
Ihre Mutter Milica baute Gemüse im Garten an, kümmerte sich so gut es ging um die Kinder und verstand es, aus nahezu nichts wenigstens noch eine Suppe oder Polenta zuzubereiten. Der Vater Petar bestellte als Bauer einige Felder und verdiente sich unten in der Stadt gelegentlich mit Schreinerarbeiten ein paar Dinare dazu. Sobald er seinen Lohn für die Anfertigung eines Tisches oder Stuhles erhielt, kaufte er sich beim Metzger Stojanovic ein großes Stück Fleisch. In Zeitungspapier eingewickelt trug er es lächelnd nach Hause und briet es auf dem kleinen Herd. Während seine fünf Kinder am Küchentisch eine karge Suppe löffelten, schob er sich das saftige Filetstück zwischen die Zähne. Er dachte nicht einmal daran, seiner Frau oder den Kindern ein kleines Stückchen abzugeben. Dass sie im Winter mit leeren Mägen im Bett froren und manchmal vor Hunger weinten, schien ihm egal zu sein. Nach seinem üppigen Festmahl ging Petar in die Dorfkneipe, versoff den Rest des Geldes und verprügelte, wenn er spätabends betrunken nach Hause kam, seine Frau und manchmal auch die Kinder.
Es waren schreckliche Nächte: Smilja lag unter einer dünnen Decke auf dem Holzboden und hörte ihren Vater bereits draußen auf der Steintreppe am Haus laut fluchen. Jedes Mal betete sie, dass es nicht allzu schlimm kommen würde. Sie verkroch sich in eine Ecke, machte sich klein, bis sie sich fast unsichtbar fühlte. Er torkelte ins Zimmer, beschimpfte Milica und die Kinder, schlug auf meine Mutter ein und fiel schließlich bewusstlos ins Bett. Smilja hörte ihre Mutter weinen. Mit großen hellbraunen Augen starrte sie bis zum Morgengrauen zitternd in die Dunkelheit und bat Gott darum, ihr ein besseres Leben zu schenken.
Die Familie besaß eine Kuh, einen Esel und ein paar Hühner. Morgens, noch vor der Schule, mussten meine Mutter und ihre Geschwister den Stall ausmisten und die Kuh melken. Das Wasser, mit dem sie sich wuschen, hatten sie bereits am Vorabend vom Dorfbrunnen herbeigeschleppt. Nach Nächten, in denen Petar die Familie wieder einmal geschlagen und angeschrien hatte, sagte Milica zu ihren Kindern, dass sie ihrem Vater nicht böse sein dürften. Im Krieg gegen die Deutschen habe er grausame Dinge erlebt, die er einfach nicht vergessen könne. Er sei kein schlechter Mensch, wiederholte sie immer wieder. Am liebsten hätte Smilja wie eine Märchenfee all die schlimmen Erinnerungen des Vaters weggezaubert.
Die Schule lag unten im Tal, in der Stadt Vrlika. Der lange Weg dorthin führte durch den felsigen Karst. Jeden Morgen sammelte meine Mutter im Unterricht die kleinen Steine aus ihren löchrigen Schuhen, die ihr auf dem Weg die Füße zerrieben hatten. Ihre Kleider, ein paar Lumpen, die Milica zusammengeflickt hatte, schlackerten ihr um den frierenden Leib. Oft hatte es zum Frühstück nur eine Suppe gegeben, und sie war schon hungrig, bevor die erste Stunde überhaupt begann. Smilja war so schwach und müde, dass sie sich kaum auf den Unterricht konzentrieren konnte. Wenn ihre Klassenkameradinnen in der Pause Brote mit Schinken und Käse aßen, schaute sie weg, damit niemand ihre sehnsuchtsvollen Blicke sah und sie nicht noch mehr Hunger bekam. Die hochnäsige Dubravka, die Tochter des Bürgermeisters Rankovic, und die nicht weniger eingebildete Ivanka, die Tochter des Arztes Badlj, verspotteten Smilja, lachten über ihre löchrigen Schuhe und billigen Kleider. Einmal stand sie neben Dubravka und Ivanka auf dem Schulhof, und Dubravka sagte zu ihr: »Mit dir spielen wir nicht. Du stinkst nach Kuhstall. Hau ab.«
Dubravka und Ivanka brachten sogar Schokolade mit in die Schule, die sie im Klassenzimmer kichernd auspackten und sich achtlos in ihre dummen Münder steckten, das verschmierte Papier warfen sie mit herzlosem Seitenblick in den Mülleimer. In ihrer kindlichen Unschuld fragte sich Smilja, weshalb die einen so viel und die anderen so wenig besaßen. Nur einmal, sie war fünf oder sechs Jahre alt, hatte Onkel Branko ihr ein kleines Stück Schokolade geschenkt. Es war wie eine Offenbarung gewesen: Sie konnte kaum fassen, dass es Dinge auf der Welt gab, die so wunderbar schmeckten. Sie war wie berauscht, und ihre Sehnsucht nach diesem fulminanten Genuss - der an Schönheit mit nichts, was sie jemals gegessen hatte, auch nur annähernd zu vergleichen war - wurde so groß, dass sie sich dafür erniedrigen sollte.
Am Ende des Schultages blieb meine Mutter auf ihrem Platz sitzen, sagte der Lehrerin Frau Ivanovic und ihren Freundinnen, dass sie noch eine Aufgabe fertig machen müsse. Kaum hatten alle das Klassenzimmer verlassen, rannte sie mit klopfendem Herzen zum Mülleimer, fischte zwischen braun verfärbten Apfelresten und klebrigen Pflaumenkernen das Schokoladenpapier hervor und verbarg es in ihrer Schultasche. Nur Josip Broz Tito in seiner schicken weißen Uniform, dessen Porträt in jedem Klassenzimmer hing, sah meiner Mutter dabei zu. Sie fühlte sich von ihm ertappt. Aber Tito würde sie nicht verraten, das wusste sie.
Auf dem Heimweg nach Maovice versteckte Smilja sich hinter einer Felswand. Sie setzte sich auf den steinigen Boden, zog vorsichtig das zusammengeknüllte Schokoladenpapier aus der Tasche, öffnete es so behutsam, als ob Diamanten darin lägen, und ließ jeden einzelnen Schokoladenkrümel ganz langsam in ihrem Mund zerfließen. Sie fühlte sich schmutzig, wie eine Bettlerin und genoss zugleich den betörenden Geschmack.
Von da an passierte es oft, dass Smilja die Schokoladenreste von Dubravka und Ivanka aus dem Müll klaubte. Als sie wieder einmal in ihrem Versteck hinter der Felswand hockte, sie musste etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, wurde sie wütend. Sie zerriss das Schokoladenpapier in kleine Fetzen und schwor sich, bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bieten würde, das Dorf und ihre Familie zu verlassen, um in der Fremde das nötige Schokoladengeld zu verdienen. Sie hatte dazugelernt, weder der sozialistische Fortschritt des großen Josip Broz Tito, der tagtäglich in der Schule von Frau Ivanovic gepredigt wurde, noch die Barmherzigkeit Gottes, von der Pfarrer Bozovic in all seinen Sonntagspredigten sprach, würden ihr jemals eine Tafel Schokolade verschaffen. Jener Schokoladenschwur, den sie an diesem denkwürdigen Tag mit sich selbst abschloss, wurde zu einer treibenden Kraft in ihrem Leben.
Im Sommer 1965, mit sechzehn Jahren, war es so weit. Ihr älterer Bruder Jozo, der sie stets vor den Wutausbrüchen ihres Vaters zu beschützen versucht hatte, arbeitete bereits seit zwei Jahren in Zagreb als Kellner. Er schrieb ihr, dass in dem Restaurant eine Küchenhilfe für den Abwasch gesucht würde, er könne ihr das Geld für eine Fahrkarte nach Zagreb leihen und sie die ersten paar Wochen bei sich schlafen lassen. Meine Mutter zögerte keine Sekunde. Sie packte einen kleinen Koffer und verabschiedete sich von Milica und Petar. Die Eltern hofften, dass ihre Tochter sie mit dem Geld, das sie in der Fremde verdiente, eines Tages unterstützen würde. Smilja fuhr nach Zagreb, schuftete täglich vierzehn Stunden in der Küche und fiel danach todmüde ins Bett. Von ihrem ersten Lohn kaufte sie sich in einem kleinen Laden zwei Tafeln Schokolade, die sie sich schon im Hinausgehen hastig in den Mund stopfte. Sie begann zu weinen. Wie selbstgefällig die feinen Leute im Restaurant von Tellern aßen, die sie nachher abspülen musste.
Mit ihrem mickrigen Gehalt konnte sie gerade mal das Nötigste bezahlen. Ihren Kolleginnen erging es kaum anders. Ausnahmslos alle träumten davon, in Deutschland zu arbeiten. In der Küche erzählten sich die Frauen abenteuerliche Geschichten von Freunden und Bekannten, die schon nach wenigen Jahren in Deutschland mit Koffern voll Geld in die Heimat zurückgekehrt seien oder in riesigen Villen irgendwo in Deutschland lebten. Smiljas Vater hatte immer abfällig über die Deutschen gesprochen. Im Krieg hatte Petar als Partisan gegen sie gekämpft. Aber was kümmerte meine Mutter der Krieg und was kümmerte sie ihr Vater. Sie wollte ein besseres Leben, sie wollte nach...
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