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Reuter fühlte sich nicht wohl. Er war nicht mit einem Katzenjammer erwacht, aber mit diesem flauen Gefühl im Bauch, das manchmal tagelang anhielt und oft sogar stärker wurde. Das Frühstück schmeckte ihm nicht, der Kaffee kam ihm fade vor, die Morgenpfeife wollte ebenfalls nicht munden. Louise, die diese Stimmung kannte, versuchte gar nicht erst, ihn aufzuheitern. Sie saß wieder über ihrer Stickerei, diesmal am Fenster, durch das allerdings kein Strahl der Morgensonne fiel, sondern nur der Schatten der Kirche. Erst wenn die Sonne höher gestiegen war, würde es anders sein.
Reuter hielt den Pfeifenstiel mit der Faust umklammert und starrte vor sich hin. Auf seiner Agenda stand eigentlich der Besuch bei dem Stellmacher Walter Kilian, der in Neu-Brandenburg bekannt war als der »Amerikaner«. Er war 1849 von Stargard nach Amerika ausgewandert, hatte dort aber nicht Fuß fassen können und war daher vor einiger Zeit in die Heimat zurückgekehrt, um sich in Neu-Brandenburg niederzulassen. Sein Schicksal und die Gründe für die Rückkehr interessierten Reuter, hoffte er doch, von Kilians Erzählungen für sein Versepos »Kein Hüsung« profitieren zu können. Sein Held, Jehann Schütt, sollte schließlich nach dem Mord an seinem Gutsherrn ebenfalls nach Amerika auswandern, am Ende aber noch einmal zurückkommen, um seinen Sohn über den »Großen Teich« zu holen. Reuter arbeitete seit fast einem Jahr an dem Werk über die Not mecklenburgischer Hoftagelöhner, welche durch die Heimatgesetzgebung der Willkür der Gutsbesitzer ausgeliefert waren; in einem Land, in dem es immer noch die Patrimonialgerichtsbarkeit gab und 1852 die Prügelstrafe wieder eingeführt worden war - im Jahrhundert des Telegrafen und der Eisenbahn! Reuter legte mit einer abrupten Geste die Pfeife auf den Tisch und stand entschlossen auf. Sein Ziel war es, den Zwängern und Drängern die Wahrheit zu sagen, den Schimpf von dem Nacken des geknechteten und geächteten Volkes zu nehmen und ihn denen ins Angesicht zurückzuschleudern, die in ihrer Gesamtheit verdienten, mit Schimpf vor dem deutschen Volke genannt zu werden: vor allem die Gutsherren und ihre Standesvertretung, die Ritterschaft.
Die »Sociale Frage« beschäftigte nicht nur Reuter, sondern auch etliche seiner Freunde, vor allem natürlich seine demokratischen Gesinnungsgenossen. Und auch die Gebrüder Boll hatten ihn angeregt, sich mit der Frage zu befassen. So hatte er Ernst Bolls im letzten Jahr erschienene »Geschichte Meklenburgs unter besonderer Berücksichtigung der Culturgeschichte« gelesen und hier vor allem das Kapitel »Die Bauern und die Landwirtschaft« gründlich studiert, dass Bruder Franz beigesteuert hatte. Auf seinem Nachttisch lag John Brinkmans 1855 als Flugblatt herausgebrachte »Fastelabendpredigt för Jehann«, in dem der Dichterkollege die mecklenburger Tagelöhner vor der Auswanderung warnte; er selbst war 1839 nach Amerika gegangen und nach zwei Jahren tief enttäuscht heimgekehrt. Aber neben diesen quasi papiernen Stimmen wollte er auch eine echte einfangen, eben die des Walter Kilian, den er an einem geselligen Abend im Schützenhaus kennengelernt hatte.
Reuter beugte sich über seine Frau und küsste sie sacht auf die Stirn. Sie blickte ihn glücklich an: Er würde arbeiten! In diesem Fall nicht am Schreibtisch, aber das Sammeln von Material gehörte auch zur Arbeit, und so war sie zufrieden. Vielleicht, so mochte sie hoffen, verflog draußen auch seine düstere Stimmung.
Der Stellmacher wohnte als Untermieter beim Waagenbauer Siebert in der Kleinen Wollweberstraße, wo er auch seine Werkstatt betrieb. In diese Werkstatt brachte man aber nur Handwagen, da auf dem Hof des Hauses nur wenig Platz war; größere Gefährte reparierte Kilian entweder auf der Straße oder in den Remisen ihrer Besitzer. Für gute Arbeit hatte er sich einen guten Ruf erworben, doch ansonsten wusste man in der klatschsüchtigen und gesprächigen Vorderstadt nicht viel von ihm. Nur dass er ein Amerika-Rückkehrer war, war allgemein bekannt.
Vom Kirchplatz zur Kleinen Wollweberstraße hatte Reuter es nicht weit, er musste nur ein paar Schritte in nördliche Richtung machen. Doch kaum hatte er sich auf den Weg gemacht, wurde er aufgehalten. Der Bäckermeister Kießling, der seinen Laden an einer Ecke des Platzes betrieb, sah ihn vorübergehen und kam sogleich herausgestürzt.
»Guten Morgen, Herr Reuter!«, grüßte Kießling überschwänglich und wischte sich die mehlbestäubten Hände an der weißen Schürze ab. »Was wird das wohl wieder für ein schöner Tag!« Nun passte das überhaupt nicht zu dem als maulfaul bekannten Bäcker, und Reuter fühlte sich sofort unbehaglich. Als dann auch noch die Bäckermeisterin erschien, wurde ihm vollends klar, dass nur die Neugierde die beiden aus der Backstube getrieben haben konnte.
Obwohl niemand in der Nähe war, schaute Kießling sich um und senkte die Stimme: »Man hört, dass Sie gestern bei dieser schrecklichen Begebenheit an der Judenmühle dabei waren?«
»Nein, bei der Begebenheit war ich nicht dabei«, konterte Reuter unwirsch.
»Aber es wurde doch ein totes Kind gefunden?«, fragte die Meisterin. Inzwischen waren auch die beiden Töchter im Backfischalter vor das Haus getreten, aber sie wurden sofort mit einer herrischen Geste der Mutter zurückgeschickt; diese Angelegenheit war nichts für halbwüchsige Mädchen.
»Ja, aber das ist das Ergebnis einer gewissen Begebenheit, nicht die Begebenheit selbst. Ich war nicht dabei, als das Kind ums Leben kam. Einen guten Tag!« Reuter lüftete den Hut, aber so schnell wollte man ihn nicht davonkommen lassen.
»Das Kind soll ja unbeschnitten gewesen sein«, sagte Kießling.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nun, als Bäcker erfährt man, was die Leute so reden. Es war ein Christenkind, das im Teich der Judenmühle starb. Heißt es.«
Reuter hatte nicht übel Lust, mit dem Fuß aufzustampfen, weil ihn diese Dummheit aufregte. Aber er blieb scheinbar ruhig und sagte: »Das Kind war noch viel zu klein. Ein paar Stunden nur weilte es unter uns. Selbst wenn es Eltern mosaischen Glaubens gehabt hätte, wäre es noch nicht beschnitten gewesen. Kurzum, niemand kann beweisen, dass es ein Christenkind gewesen ist.«
»Aber es wurde doch wohl ermordet?«, wollte die Meisterin wissen. Ihr Blick war nicht nur ängstlich oder besorgt, er war auch lüstern. Eine von Reuter bestätigte Mordgeschichte ließ sich wunderbar beim Kaffeekranz mit den Freundinnen breittreten.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Reuter. »Und nun entschuldigen Sie mich, ich habe eine wichtige Verabredung.«
»Oh, natürlich. Verzeihen Sie, wir wollten Sie nicht aufhalten, aber als Bürger nimmt man ja Anteil an den Geschehnissen in seiner Vaterstadt.« Bäckermeister Kießling verbeugte sich, was er sonst nur vor Höhergestellten tat, zu denen einer wie Reuter, der seinen Lebensunterhalt mit zwielichtigen Dingen nur knapp verdiente, nicht zählte. »Einen angenehmen Tag und bitte, mich der Frau Gemahlin gehorsamst zu empfehlen.«
>Kriechling solltest du heißen<, dachte Reuter, aber auch er dienerte, dann setzte er seinen Weg fort. Er kam nicht weit. An der Ecke zur Kleinen Wollweberstraße stieß er auf den Dritten Stadtsekretär Möllenhaupt, den er eigentlich nur vom Sehen kannte; umso überraschter war er, als dieser ihn sogleich am Ärmel packte. Möllenhaupt war in der ganzen Stadt dafür bekannt, dass er sich gern wie ein Geck kleidete und täglich damit rechnete, für seine Verdienste zum Zweiten Stadtsekretär befördert zu werden. Schon seit Jahren wartete er, obwohl niemand so recht zu sagen vermochte, worin seine Verdienste um das Wohl der Stadt eigentlich bestanden. Er führte zwar das Kataster der städtischen Liegenschaften außerhalb der Stadtmauern, aber das tat er auf Befehl des Kämmerers. Wenn also hier Verdienste zu erwerben waren, gebührten sie diesem.
Möllenhaupt hob seinen Spazierstock mit dem elfenbeinernen Knauf dramatisch in die Höhe: »Herr Reiter, sagen Sie nur, entspricht es der Wahrheit, dass ein Jude einen christlichen Knaben gemeuchelt hat, wie es weiland die Juden auch mit unserem Heiland getan?«
Der Mann redete geschwollen, aber auch das war bekannt. Er schrieb Verse, hatte ein schmales Bändchen im Eigenverlag publiziert, aber Reuter hatte nie auch nur eine Zeile gelesen. Er verkehrte mit Möllenhaupt nicht, und dessen plötzliche Vertraulichkeit fraß an seinen Nerven. Rasch zog er seinen Arm zurück.
»Mein Name ist Reuter«, sagte er. »Und von dem, was Sie sagen, weiß ich nichts.«
»Aber Sie waren dort, bei der Mühle, das weiß die ganze Stadt.«
Die ganze...
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