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Dem See war nicht anzusehen, wozu er fähig war. Trotz der Windstille war die Wasserfläche keineswegs spiegelglatt, sondern von Kräuselwellen bedeckt, über deren Ursprung es keinen Zweifel geben konnte: Der See lebte. Es bedurfte keines Windes, nicht einmal einer Brise, um ihn in Bewegung zu halten.
Der Mann, der auf der Rückbank des Ruderbootes saß, kannte den See seit seiner Kindheit, und er hatte ihn schon ganz anders erlebt.
Wenn im Frühjahr oder im Herbst Stürme eine Hetzjagd veranstalteten und an den Baum kronen zerrten wie ein Dorfpfarrer an den Haaren einer ungehorsamen Konfirmandin, verwandelte sich das jetzt harmlos erscheinende Wasser in eine Tollwütige. Es nahm dann das Aussehen von nachgedunkeltem Silber an, eine Spiegelung der bleischwarzen und tief hängenden Wolken, die es eilig hatten, dem Sturm zu entkommen. Hohe Wellen schlugen an die Ufer, und ein Kahn wie derjenige, in dem sich die Be sucher über den See rudern ließen, war verloren.
An solchen Tagen blieben die Fischer in ihren Hütten und wussten namentlich im Frühjahr nichts zu tun: Die Netze hatten sie bereits während der Wintermonate geflickt, der Holzvorrat genügte noch, bis endgültig die warme Jahreszeit anbrach, und das wenige Vieh, das sie hielten, weil die Fischerei allein sie nicht ernährte, wurde von der Frau und den Kindern versorgt. In diesen Mußestunden entstanden Geschichten. Sagen und Legenden wurden erzählt, die um den See und um die Menschen kreisten, die an seinen Ufern lebten.
Der Mann, der immer nur Schriftsteller hatte sein wollen, auch wenn ihn die Brotarbeit davon abhielt, liebte diese Überlieferungen und sammelte sie in seinem Gedächtnis und in seinen Notizen. Für ihn enthielten sie mehr Poesie als das hohle Gedröhn der Hofdichter und Publikumsliteraten.
Der Mann seufzte. Er war nicht allein in dem Boot, sondern wurde von seiner Frau begleitet. Sie saß neben ihm auf der Rückbank und ergriff nun mit beiden Händen seine Linke, schwieg aber, weil sie den Grund seines Seufzens zu kennen glaubte.
Der Mann hob den Blick und schaute dem Ruderknecht in das zerfurchte Gesicht. Fährmann Stoltze überquerte den Ruppiner See nun schon seit Jahrzehnten mit zahlenden Passagieren; man war beinahe geneigt zu sagen: seit der Vorzeit. Unter seiner Krone aus weißem Haar sah Stoltze unsterblich wie ein Gott aus - als brächte er nicht nur Leute von Neuruppin nach Wustrau, sondern vom Leben zum Tode, Rückfahrt ausgeschlossen.
»Na, Stoltze«, der Mann beugte sich ein wenig vor, »was halten Sie denn von diesem Herbst?«
»Tja«, erwiderte der Ruderer gedehnt. »Na ja, Herr Fontane. Über die Jahre .«
Jahrtausende, dachte Fontane.
». erlebt man das eine oder andere. Mal reicht der Altweibersommer bis in den Oktober und die Mädchen gehen noch spät im Sommerkleid. Und im nächsten Jahr gibt es nur Regentage.«
»Sie haben wohl ein Herz für die Mädchen, Stoltze?«
»Ach, für mich alten Mann gibt's sie bloß zum Anschauen. In meinem Alter liebt man nur noch mit den Augen.«
»Jedenfalls ist es sehr schön hier«, sagte Emilie und drückte ihrem Mann fest die Hand. »Nicht wahr, Théodore?« Sie sprach seinen Namen französisch aus.
Er nickte. Schön war es wirklich. Die Bäume am Ufer des Ruppiner Sees hatten sich bunt gefärbt, und das Gelb und Rot der Blätter leuchtete vor dem blassblauen Himmel.
Obendrein war es sehr still. Nur das Eintauchen der Ruder verursachte ein sanftes Geräusch. Ein paar Meter vom Ufer entfernt glitt ein Schwanenpaar durch das Wasser, und auch das Boot glitt, ja es schwebte geradezu über den See.
Die beiden Schwäne tauchten gelegentlich für einen fast beängstigend langen Zeitraum Kopf und Hals in das Wasser, sodass es aussah, als hätte man ihn ihnen abgeschlagen. Sie suchten nach Nahrung, und Fontane hatte das Gefühl, dass es ihm so erging wie ihnen: Für das tägliche Brot senkte auch er immer wieder den Kopf. Oder legte er ihn gar aufs Schafott? Gewiss, er hatte mehrere Reisebücher veröffentlicht, ebenso wie Bücher über die Kriege, in deren Glut das unheilige Deutsche Reich Preußischer Nation geschmiedet worden war; seit drei Jahren schrieb er Theaterkritiken für die Vossische Zeitung, die von den Schauspielern gehasst, vom Publikum jedoch geliebt wurden, und einige seiner Balladen wurden nicht nur im Schulunterricht behandelt, sie hatten ihm auch zur Erwähnung in Literaturkompendien verholfen. Aber ihm war doch klar, dass es für einen Menschen von Ambition nichts Niederdrückenderes gab als die Abhängigkeit der Armut, und dass es sich, selbst wenn man ein Poetenherz im Leibe hat, doch eher ohne Balladen, aber mit Geld, als mit Balladen, aber ohne Geld leben ließ.
Er war jetzt vierundfünfzig und hatte noch immer nicht erreicht, was er erreichen wollte, nämlich ein freier Schrift steller zu sein und nichts anderes als das. Die Jahre ver rannen, und gerade der Herbst, der trotz seiner lebendigen Farben nicht verhehlen konnte, dass die Blätter starben, erinnerte ihn daran.
Emilie beugte sich zu ihm und sprach leise und mit unüberhörbarer Besorgnis in sein Ohr: »Woran denkst du, Théodore?«
»Ich betrachte den See und denke nichts.«
»Das ist nicht wahr. An der Nasenspitze sehe ich dir an, dass du an Schwermut laborierst. Ist es wegen deiner Mutter?«, wollte Emilie wissen.
»Auch.« Fontane betrachtete das Schwanenpaar und spürte, wie rau seine Stimme klang. Er wagte nicht, seine Frau anzuschauen.
Nach einer fast zweimonatigen Sommerfrische in Thüringen hatte er sich mit Emilie noch einmal auf die Reise begeben, wenn auch nur nach Neuruppin. Er hatte vor, Material für die dritte Auflage von Die Grafschaft Ruppin zu sammeln, die er in den kommenden Wochen ergänzen und neu fassen wollte. Das war sein vordringliches Ziel, aber er musste sich selbst einräumen, dass er auch vor dem lärmenden, noch immer vom Börsenfieber erfassten und von Gestank erfüllten Berlin geflohen war.
Noch vor vier Jahren hatte er in Neuruppin seine Mutter besuchen können. Jetzt musste er sich auf den Friedhof beim Ruppiner Tor bemühen, wenn er ihr nahe sein wollte. Am Vormittag, bevor sie den Kahn bestiegen, hatte er gemeinsam mit Emilie das Grab aufgesucht, und wie immer hatte es ihn deprimiert.
Plötzlich zerriss ein Schuss die friedliche Stille.
Fontane erschrak so heftig, dass er aufsprang. Emilie schrie auf, nicht des Knalles wegen, sondern weil sie immer noch die Hand ihres Mannes hielt und beinahe mit hochgerissen worden wäre. Der Kahn geriet gefährlich ins Wanken.
Stoltze, den nichts so leicht aus der Ruhe brachte, rückte nach rechts, um die Bewegung des Bootes auszugleichen. Die Schwäne flogen davon; die Stille nach dem Schuss war so tief, dass man den Schlag ihrer Flügel hören konnte.
»Pardon!« Fontane schüttelte den Kopf, atmete tief und setzte sich wieder. »Ich war nur . der Schuss . er kam so unerwartet. Man wird wohl jagen.«
»Nee, nee«, entgegnete Stoltze. »Jagen tut man in der Dämmerung. Vielleicht hat sich ein Fuchs auf eines der Anwesen gestohlen. Machen Sie sich man keine Sorgen.«
»Théodore, alles in Ordnung?«, wollte Emilie wissen. Ihr schmales Gesicht, gerahmt von langem, aufgestecktem schwarzen Haar war blass.
»Ja.« Fontane wischte ein Stäubchen von seinem Reisemantel. »Aber der Schreck sitzt mir noch in den Gliedern.«
»Gleich haben wir festen Boden unter den Füßen.« Emilie deutete über den Bug des Bootes hinweg zum Ufer.
Fontane spürte das Klopfen seines Herzens noch bis in die Fingerspitzen, aber er empfand seine übermäßige Reak tion als unangemessen, wenn nicht gar albern. Stoltzes Erklärung klang einleuchtend. Doch jagten nicht auch Füchse erst in der Dämmerung?
Vor ihnen, am Südzipfel des Sees, grüßte die Wasser seite von Schloss Zieten die Reisenden. Die Fassade des Gebäudes war weiß gestrichen und leuchtete kalt in der tief stehenden Herbstsonne. Die Bäume im Schlosspark trugen gelbe, rote und braune Blätter, der kurz geschorene Rasen, der sich vom Schloss bis an die Anlegestelle erstreckte, war von einem satten Grün. Nahe beim Schilf schwammen ein paar Stockenten.
Der Park war menschenleer und auch das Schloss wirkte auf den ersten Blick verlassen. Trotz der angenehmen Temperaturen waren alle Fenster geschlossen, zumindest jedenfalls die seeseitigen, und auf dem Balkon an der Stirnseite des Seitenflügels stand nur ein einsamer Tisch. Da Fontane sich dem Schlossherrn brieflich angekündigt und der Graf ihm mitgeteilt hatte, er sei herzlich willkommen, konnte der Eindruck von Leere nur ein trügerischer sein, aber trotzdem erregte der Anblick in ihm eine eigentümliche Stimmung: Er stellte sich vor, wie er mit Emilie am Arm durch verlassene Gänge und Räume irrte, wie sie nach dem Gesinde und dem Grafen riefen, aber nichts fanden außer mit dicken Staubschichten bedeckte Möbel. Wieder entrang sich ihm ein leiser Seufzer, aber diesmal sagte Emilie nichts.
Stoltze legte sich kräftig...
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