Schweitzer Fachinformationen
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Anil trat durch die Schiebetür des Flughafens Dallas/Fort Worth hinaus in die warme Luft, die ihn willkommen hieß. »Ah, genau wie zu Hause.«
Baldev Kapoor, sein neuer Mitbewohner, legte ihm lachend einen Arm um die Schultern. »Mein Freund, du bist jetzt in Amerika, hier ist nichts wie zu Hause.« Er grinste durch seinen gepflegten Spitzbart.
Und wahrhaftig. Das Wetter erinnerte Anil an Indien, aber ansonsten war alles anders. Schon der Flughafen war ein Wunder an Ordnung und Sauberkeit. Die Passagiere standen geduldig in Warteschlangen und traten höflich vor. Keiner drängelte, keiner rempelte andere an, keiner spuckte auf den Boden. Anil hatte vorsichtshalber eine Rolle Bargeld in der Tasche, aber weder die Zollbeamten noch die Leute an der Passkontrolle verlangten Schmiergeld, um ihn durchzulassen. Sie kontrollierten bloß seine Papiere und stempelten seinen Pass ab.
Baldev fuhr, und Anil blickte durch die Windschutzscheibe auf die gewundenen Highways, die sich vor ihm erstreckten, und die leeren Weiten zu beiden Seiten. Die Straßen waren frei von Schlaglöchern oder Abfällen, mit geraden weißen Linien versehen, die ein ähnliches Gefühl von Verheißung auslösten wie ein neues, unbeschriebenes Blatt in einem Heft. Wo waren die schwarzen, Rauch ausstoßenden Laster, die Motorroller, die sich durch den Verkehr schlängelten, die gemächlich dahintrottenden Ziegen und Kühe?
»Wieso ist alles so leer? Sind gerade Ferien oder so?«, fragte er Baldev, der schon seit einigen Jahren in Amerika lebte, weil er als Teenager mit seinen Eltern von Delhi nach Houston gezogen war.
»In den großen Städten sieht's anders aus, aber Texas ist noch immer ein weites, offenes Land«, erklärte Baldev mit einem Schmunzeln. »Man muss drauf achten, nicht zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
Anil hatte die Wohnung über eine Annonce gefunden, die ihr dritter Mitbewohner aufgegeben hatte, Mahesh Shah. Sein gujaratischer Name hatte Ma ein wenig beruhigt. Am IIT ausgebildeter Computertechniker, stand in der Annonce, Mitte 20, guter Job, finanziell abgesichert, sucht zwei ebensolche Mitbewohner für luxuriöse Wohnung in Irving, Texas. Antialkoholiker, Nichtraucher, Vegetarier. Das klang zu schön, um wahr zu sein, und Anil war fest davon ausgegangen, dass ihm schon andere zuvorgekommen waren, aber Gott war ihm gnädig gewesen, genau wie bei jeder Station seines Weges. Die Monatsmiete von sechshundert Dollar würde sein Budget strapazieren, aber die Wohnung lag nur zwanzig Minuten vom Krankenhaus entfernt, und die Vorstellung, Mitbewohner aus der Heimat zu haben, war beruhigend.
Die Wohnung war größer, als Anil erwartet hatte, und alles schien funkelnagelneu zu sein. Der weiche sandfarbene Teppichboden passte perfekt zur Farbe der Wände. Die Küche hatte glänzende, geflieste Arbeitsflächen und tadellose Elektrogeräte. Wenn seine Mutter das nur sehen könnte - aber das würde sie natürlich nie. Papa hatte sechs Rinder verkaufen müssen, nur um das Geld für Anils Flugticket aufzubringen. Nun würde er selbst von seinem kümmerlichen Gehalt, das er als Assistenzarzt verdiente, Geld zurücklegen müssen, um Besuche in der Heimat bezahlen zu können.
Baldev zeigte ihm Maheshs Zimmer mit dem ordentlich gemachten Bett und angrenzenden Bad, dann sein eigenes unaufgeräumtes Zimmer, die Wände voll mit Postern von Bollywood-Starlets, eine Hantelbank in der Ecke. Dann führte er Anil zur Toilette, die von der Diele abging und die sie beide benutzen würden, und entschuldigte sich für diese Regelung. Aber Anil war es so lieber: Er war mit einer Latrine im Freien aufgewachsen und fand die Vorstellung, eine Toilette direkt neben seinem Schlafzimmer zu haben, unappetitlich.
Als Anil auspackte, stellte er verwundert fest, dass seine Sachen, die zu Hause auf dem Dach des Maruti so viel Platz eingenommen hatten, in dieser großen Wohnung praktisch verschwanden. Die Packung Kurkumapulver, die Ma in seinen Koffer gelegt hatte, war aufgeplatzt und hatte die Hälfte seiner Kleidung verfärbt, die er nun würde wegwerfen müssen. Am meisten Platz nahmen seine medizinischen Lehrbücher ein: vierundzwanzig Bände, die alles Wissen repräsentierten, das er sich in den vergangenen sechs Jahren angeeignet hatte. Anders als viele Kommilitonen, die ihre Bücher nach dem Examen gleich verkaufen wollten, hatte Anil seine in dem sicheren Gefühl behalten, dass sie ihm in seiner Zeit als Assistenzarzt ein Rettungsanker sein würden.
Als er fertig war, trat Anil zurück und ließ den Blick durch sein neues Zimmer wandern. Er mochte das Gefühl von Ordnung, empfand es als ein gutes Vorzeichen für einen Neuanfang. Er war beeindruckt von dem Überfluss, der Amerika zu prägen schien. Der offene Flughafen, die breiten Straßen, dieses halb leere Zimmer - überall war mehr als nötig, mehr als er vernünftigerweise erwarten konnte. Plötzlich fühlte Anil sich ein wenig einsam bei der Vorstellung, zum ersten Mal in seinem Leben allein zu schlafen, schließlich hatte er sich bislang immer ein Zimmer mit einem Bruder oder Mitbewohner geteilt. Stattdessen konzentrierte er sich auf das befreiende Gefühl, endlich hier zu sein, wo er ganz er selbst sein konnte, nicht mehr am College, wo er immer nur der Dorfjunge gewesen war, und nicht mehr in seinem Dorf, wo stets die Erwartungen seiner Familie auf ihm gelastet hatten.
Baldev erschien in der Tür von Anils Zimmer. »Hey Mann, komm, wir gehen aus. Mahesh wartet draußen. Wir bieten dir gleich das beste Essen in Amerika.« Er schob sich die Sonnenbrille in sein gestyltes Haar und zog eine Augenbraue hoch. »Tex-Mex. Wird dir schmecken, hundertpro.«
Als Baldev die Wohnungstür abschloss, kam eine Frau aus der Wohnung nebenan. Sie trug ein türkisblaues Sportoutfit, und rotbraunes Haar fiel ihr wellig bis auf die Schultern. Anil meinte, einen leeren, fast traurigen Ausdruck in ihrem Gesicht zu erkennen, doch als sie sich zu ihnen umdrehte, lächelte sie breit. »O, hi. Ihr müsst meine neuen Nachbarn sein.« Sie warf sich eine Sporttasche über die Schulter. »Ich bin Amber. Ich wohne hier.« Sie zeigte nach hinten auf die Tür, aus der sie gekommen war. Ihre Stimme erinnerte Anil an den Duft, der zu Hause aus der Küche wehte, wenn der Koch frische Süßigkeiten zubereitete: in ghee dünstendes Mehl, ein Aroma, das er mit Vorfreude verband.
»Ich bin Dave«, sagte Baldev, und seine Stimme schien plötzlich tiefer geworden zu sein. »Und das ist . Neil.« Baldev packte Anil an den Schultern und schüttelte ihn leicht. »Mein Freund hier ist Arzt und wurde vom Parkview Hospital extra aus Indien angefordert. So gut ist er. Der Beste im ganzen Land.«
Heiße Röte stieg Anil ins Gesicht. »Äh . das stimmt nicht ganz. Ich .«
»Ehrlich?« Amber sah ihn an. »Du siehst so jung aus. Hätte nicht gedacht, dass du schon Arzt bist.« Sie lächelte und wechselte die Sporttasche auf die andere Schulter.
»So jung bin ich gar nicht. Dreiundzwanzig«, sagte Anil. »In Indien können wir schon früher mit dem Studium anfangen, deshalb werden wir auch früher fertig. Aber in der praktischen Ausbildung gleicht sich das dann wieder aus. Deshalb bin ich hier.«
»Darüber würde ich gern mal mehr erfahren«, sagte Amber. »Ich finde Medizin faszinierend.« Sie stellte die Sporttasche auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand zwischen den beiden Wohnungen.
Anil merkte, dass Baldev endlich fahren wollte, denn er bewegte sich Richtung Parkplatz, wo Mahesh bestimmt schon wartete. Aber Anil wollte bleiben, wo er war. Bislang waren alle seine Gespräche in Amerika - im Flughafen, mit den Beamten von der Einwanderungsbehörde - sachlich und kühl gewesen. Jetzt endlich spürte er etwas menschliche Wärme. Er erwiderte Ambers Lächeln und überlegte krampfhaft, was er Interessantes oder Witziges sagen könnte.
»Jedenfalls ist es schön, hier zu wohnen«, sagte Amber in die Stille hinein, die er hätte füllen sollen. »Ich bin erst seit sechs Monaten hier und hab noch nicht viele Bekanntschaften geschlossen, aber man sieht hier viele junge Leute wie uns. Und der Gemeinschaftspool ist ein echter Segen in dieser Hitze.«
»Ja, kann ich mir vorstellen«, sagte Anil. Er klammerte sich an die Formulierung wie uns, an die Idee, dass damit sie beide gemeint waren. Anil war noch nie in einem Pool geschwommen. Er war überhaupt noch nie woanders geschwommen als in dem Fluss und den Wasserfällen um Panchanagar, und zwar in seiner normalen Kleidung oder nackt. Er musste sich unbedingt noch vor dem nächsten Wochenende eine Badehose kaufen. Anil wollte das Gespräch noch nicht beenden, aber er hörte ein Auto hinter sich hupen.
»Na dann, es war nett, dich kennenzulernen, Neil.«
»Eigentlich heiße ich A-nil.«
»Ah-niil?« Sie blickte ihn fragend an, und er nickte.
»Bis bald.« Er hätte sich in den Hintern treten können, weil seine Verabschiedung so nichtssagend klang, doch Ambers Gesicht erhellte sich zu einem strahlenden Lächeln. In dem Moment beschloss er, dass sie schöner war als sämtliche Bollywood-Sternchen auf Baldevs Postern oder überhaupt irgendwer. Amber strich ihr glänzendes Haar mit einer schwungvollen Bewegung nach hinten und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen, während sie zum Parkplatz ging.
Anil setzte sich auf den Beifahrersitz des blauen Honda Civic und begrüßte Mahesh, einen drahtigen Mann mit Brille und...
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