Sechs
Sometimes you get so lonely
Sometimes you get nowhere
I've lived all over the world
I've left every place
Please be mine
Share my life
Stay with me
Be my wife
(David Bowie)
Als ich am Donnerstagabend vor zwei Wochen meinen kompakten Hartschalen-Trolley gepackt hatte, war ich davon ausgegangen, nur für ein Wochenende zu verreisen, um an einem Surrealismus-Symposium in London teilzunehmen. Doch dann war Ian Reed aufgetaucht und aus den zwei Tagen wurden vierzehn und aus dem dienstlichen Kurztrip in die britische Hauptstadt ein luxuriöses City Hopping durch einige der schönsten Metropolen und elegantesten Hotels Europas.
Wir waren noch zwei weitere Tage in London geblieben, doch von Gateskill Manor und der Entführung hatten wir nicht mehr gesprochen. Ian hatte mir an jenem Abend das Anwesen mit seinen ausgedehnten Ländereien gezeigt, wir hatten sogar im hauseigenen Restaurant zu Abend gegessen, und ich hatte das herrliche Turmzimmer mit Blick auf den englischen Landschaftsgarten gesehen, das einmal Ians Kinder- und Jugendzimmer gewesen war, inzwischen aber zum Wellnessbereich von Gateskill Manor gehörte. Er hatte mir einige Anekdoten aus seiner Kindheit und von seiner Zeit auf einem Eliteinternat bei Birmingham erzählt. Aber er schien fest entschlossen, kein Wort mehr über irgendetwas zu verlieren, das mein Mitleid erregen könnte. Selbst Fragen nach seiner herrschsüchtigen Großmutter blockte er ab, und das Thema Argentinien war fortan gänzlich tabu.
Von London aus hatte uns Ians Terminkalender wegen eines wichtigen Meetings nach Florenz geführt, von dort zu einer Hoteleröffnung nach Danzig und einer Charity-Veranstaltung nach Paris.
In diesen zwei Wochen meiner vorlesungsfreien Zeit hatte ich einen Eindruck davon gewonnen, wie Ians Alltag aussah, der sich so immens von meinem eigenen und dem der Menschen in meinem Umfeld unterschied. Wir waren mit seinem Privatjet gereist, hatten den Limousinenservice seiner Hotels genutzt, hatten in den spektakulärsten Grand-Reed-Suiten logiert und in den edelsten Restaurants diniert. Wir hatten Museen und Ausstellungen besucht, waren über die Ponte Vecchio und die Champs-Élysées flaniert, wie es alle verliebten Paare zu tun pflegen, und ich hatte erlebt, was es bedeutete, wenn Geld keine Rolle spielte. Und obwohl Ian mir und uns so viel Zeit widmete, wie irgend möglich, mir förmlich die Welt zu Füßen legte und unseren Aufenthalten zwischen seinen Geschäftsterminen den Anschein einer privaten Urlaubsreise zu verleihen wusste, wurde mir im Verlauf dieser vierzehn Tage bewusst, wie anstrengend und kräftezehrend das vermeintliche Jetset-Leben war, das dieser Mann seit fast zwanzig Jahren führte. Alle zwei Tage in ein Flugzeug zu steigen, sich auf eine neue Stadt, neue Menschen, eine neue Sprache und neue Aufgaben einzustellen, jede zweite Nacht in einem anderen Bett zu schlafen, sich in einer anderen Suite und einem anderen Hotel zurechtzufinden, das war aufreibend und wirklich stressig.
Ian hatte sich alle Mühe gegeben, mich an diesem Leben teilhaben zu lassen, und mir zu jeder Zeit das Gefühl vermittelt, ein äußerst wichtiger, wertvoller Teil dieses Lebens zu sein. Ich hatte in Danzig Robert McKenning kennen und schätzen gelernt, Ians rechte Hand und COO der Reed Group, Ian zu Geschäftsessen begleitet und zu der Wohltätigkeitsgala im Louvre. Er hatte mir geschäftliche Details anvertraut und mich immer wieder in den Prozess seiner Entscheidungsfindung einbezogen, auch wenn ich keinerlei Fachwissen aufbieten konnte, sondern nur gesunden Menschenverstand.
Kurz, er bemühte sich nach Kräften, die Verweigerungshaltung, die er an den Tag legte, was die erschütternden Themen seiner Vergangenheit betraf, zu kompensieren, indem er mich umso intensiver in sein gegenwärtiges Leben einbezog.
Es waren zwei äußerst erlebnisreiche Wochen gewesen, darunter einige der romantischsten und sinnlichsten Stunden meines bisherigen Lebens und wie geschaffen, um Ian und seinen besonderen Lebensentwurf besser kennen und verstehen zu lernen. Und doch war ich ziemlich froh, wieder zu Hause in Frankfurt zu sein, zumal mich Ian begleitete und mir fest versprochen hatte, ein paar Tage zu bleiben.
Wenn du mir gesagt hättest, dass du meinen zukünftigen Mäzen mitbringst, hätte ich vielleicht etwas anderes angezogen«, erklärte Kiki grinsend mit einem gespielten Vorwurf in der Stimme, als sie in der schweren Eisentür ihrer loftartigen Künstlerwohnung erschien und mich im nächsten Moment stürmisch umarmte.
Dann streckte sie Ian ihre mit großen, bunten Blumenringen geschmückte Hand entgegen. »Ist mir ein Vergnügen, Mr. Reed. Ich bin Katinka Freese. Aber Kiki genügt völlig.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Kiki Freese.« Ian schenkte ihr dieses strahlende Lächeln, das wohl jede andere Frau aus der Fassung gebracht hätte, nur Kiki nicht.
»Dann kommt mal rein in die gute Stube«, sagte sie in ihrer gewohnt lockeren Art.
Ich konnte sehen, wie Ian mit wenigen Blicken seine Umgebung scannte, als wir den großen Raum im Industrial-Style betraten, der Kiki als Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer diente und in den außerdem die kleine Küchenzeile integriert war. Es war in der Tat ein beeindruckender Ort, wenn man ihn zum ersten Mal betrat. Allein die ausgemusterten Metallspinte aus einer Schulsporthalle, die Kiki in knallig bunten Farben lackiert hatte und die ihr seither als Kleiderschrank dienten, waren ein Blickfang, ebenso wie der zum Küchentisch umfunktionierte Tapeziertisch mit seiner grellgelb lackierten Tischplatte.
Während ich Kiki zu dem abgesessenen braunen Ledersofa im originalen 1970er-Jahre-Look folgte und Coco und Filou begrüßte, die wie Ying und Yang ineinander verschlungen dalagen, hatte Ian eine von Kikis frühen Arbeiten entdeckt, die die grob verputzte weiße Wand zierte und doch nur den wenigsten Besuchern als Kunstwerk auffiel, weil sie Ton in Ton gehalten war und sich somit kaum von der sonstigen Wand unterschied.
»Respekt. Sie haben scheinbar wirklich ein Auge für Kunst«, meinte Kiki anerkennend.
»Danke für das Kompliment. Und ich gebe es gleich an Sie zurück, denn mir gefällt die puristische, zurückhaltende Ästhetik dieser Arbeit ausgesprochen gut. Dürfte ich fragen, wie sie entstanden ist?«
»Die habe ich gemacht, als ich vor drei Jahren hier eingezogen bin. Damals habe ich noch viel in der Fläche gearbeitet, aber schon versucht, mir die dritte Dimension zu erkämpfen. Quasi Malerei, die die Fühler zur Plastik ausstreckt. Das, was jetzt wie ein dunklerer Schatten wirkt, ist in Fresko-Technik auf dem feuchten Putz entstanden, ebenso wie die räumlichen Erhebungen. Da sind Gipselemente drunter. Die Vertiefungen dort sind später herausgekratzt worden und gehen teilweise bis auf die Grundsubstanz der Wand.«
»Wirklich interessant. Ich habe schon von Ann-Sophie gehört, dass Sie inzwischen vor allem raumfüllende Environments machen. Aber vielleicht könnten Sie ja noch einmal zu den Ursprüngen zurückkehren. Als Reminiszenz an eine frühere Schaffensphase gewissermaßen.«
»Wie meinen Sie das, Mr. Reed?« Kiki klang zu gleichen Teilen skeptisch wie neugierig, und auch ich war gespannt, worauf Ian hinauswollte.
»Nun, wir haben eine ziemlich große weiße Wand im Foyer der Sammlung Reed. Wir haben dort nie ein Kunstwerk angebracht, weil der Raum bewusst als Eingangsbereich konzipiert ist und eine Arbeit an dieser Stelle immer wie ein Vorzeichen wirken würde, unter dem die nachfolgende Ausstellung zu betrachten ist. Eine solche neo-minimalistische Konzeptarbeit aber wäre wie geschaffen für diese Raumsituation.«
»Ist das ein Auftrag, Mr. Reed?«
»Eher ein Angebot. Überlegen Sie es sich.«
Jetzt strahlte meine sonst so souveräne Freundin Kiki wie ein Honigkuchenpferd und wurde gleichzeitig ein bisschen rot.
»Das mit dem Mäzen vorhin hatte ich aber nicht so gemeint. Nicht, dass Sie sich zu irgendetwas genötigt fühlen, Mr. Reed.« Sie klang fast...