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Das Lager von Argelès-sur-Mer war noch nicht eingerichtet, als uns die französische Armee in den ersten Februartagen des Jahres 1939 dorthin brachte. Es bestand aus einem Stück Strand, das von einem zwischen scheinbar zufällig gesetzten Holzpflöcken locker hängenden Stacheldraht begrenzt wurde. Dieser hatte nichts mit jenen zwölf Linien Stacheldraht gemein, die man später für uns errichtete und die bis zum Zerreißen zwischen vollkommen geraden und exakt aufgereihten Holzpfählen straff gezogen waren. Die Baracken waren nur in regelmäßigen Abständen aufeinandergestapelte Holzplanken, wahrscheinlich an den Orten, wo die zukünftigen Konstruktionen stehen sollten. Kein Schutz, kein Dach, am Anfang nicht einmal eine Decke: Jede Familie buddelte sich ein Loch in den Sand und schlief dort, vor dem Wind durch ihre aufgeschichteten Koffer und ihre Lumpen geschützt. Mit Kreide geschriebene Inschriften waren auf diesen Hütten zu lesen: Tausend und eine Nacht, Winterpalast, Eldorado .
Die Männer waren in einem ähnlichen Areal untergebracht, die Kämpfer der Internationalen Brigaden in einem dritten, und diese nebeneinander verlaufenden Rechtecke wurden durch eine Art Korridore voneinander getrennt, durch Sandstreifen von vielleicht zwanzig Metern Breite, auf denen zunächst eher gutmütige Gendarmen zu Pferd patrouillierten, die katalanisch mit uns sprachen und Erkundigungen über uns einholten, dann aber algerische Soldaten und senegalesische Schützen, die uns an die marokkanischen Bataillone der Armee Francos und ihre schrecklichen Grausamkeiten erinnerten.
Julia, unsere Nachbarin aus Tarragona, die meine Schwester und mich seit unserer Flucht begleitete, war außerordentlich lebenstüchtig und sehr geschickt mit ihren Händen. Kaum waren wir angekommen, hatte sie schon ein wenig Röhricht in einem Hain abgeschnitten, den wir noch nicht einmal bemerkt hätten, zwei oder drei Karosserieteile von Autowracks abgerissen und ein kleines Zuhause eingerichtet. Ich sehe sie noch, wie sie sich bei Einbruch der Dunkelheit unter dem Zaun hindurchzwängte, sich auf den Weg zu den im Hinterland liegenden Villen machte und mit Holz zurückkam. Feuer war unverzichtbar: Es wärmte uns die Knochen, vereinte uns während der langen Winterabende und brachte das modrige Wasser zum Kochen, das wir von Hand mit zwei Pumpen schöpften, die von den Soldaten errichtet worden waren. Diese Pumpen brachten ein brackiges Wasser zum Vorschein und befanden sich zudem neben dem Bereich, der uns als Latrinen diente: anfangs ein großes Viereck im Sand, bald schon ein ganzes Feld der Darmentleerung, wo man zwischen hockenden Menschen watete, ehe man sich selber niederkauerte.
Alles hatte mit dem Aufstand der Faschisten im Juli 1936 begonnen. Sie besetzten eine spanische Provinz nach der anderen, mit massiver Unterstützung von Deutschland und Italien. 1938 war Katalonien an der Reihe, eines der letzten Bollwerke der Republik. Angriffe von beispielloser Gewalt. Trommelfeuer der Artillerie, Bombardierung von Städten und Dörfern, zivile Massaker. Wie in Guernica 1937. Im Mai 1938 bombardierten die Nationalisten das fünfundzwanzig Kilometer von Barcelona entfernte Granollers. Das war der Anfang vom Ende: Es folgten die Niederlage am Ebro im November und der Rückzug der Internationalen Brigaden. In der Miliz herrschte Chaos.
Tarragona fiel am 15. Januar. Es war Nacht. Die Explosionen weckten mich, und es war zu spät, um hinunter in Sicherheit zu gehen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern: Mama stürzte in unser Zimmer und schrie, wir sollten uns auf den Boden legen. Unter dem Zischen der Bomben und Granaten mühte sie sich ab, die Matratzen unserer Betten über uns zu ziehen. Dann hört meine Erinnerung auf. Als sie wieder einsetzt, befreien Teresa und ich uns von einem Stapel Schutt. Die Mauer zum Garten hin ist aufgerissen. Durch ein riesiges Loch in der Decke erkennen wir den Himmel und den Schein des Feuers. Noch heute, zwanzig Jahre später, sehe ich diese Szene vor mir, ebenso wie die leblosen und blutüberströmten Körper von Papa und Mama, dort, wo der Flur war; ich höre das Knistern der Flammen und die Rufe von Julia. Sie klettert auf allen vieren die von Schutt überhäufte Treppe hinauf, befreit uns aus den Trümmern, und schon befinden wir uns in dem Strom der Opfer, die mit verstörtem Blick aus den Häusern herauskommen und sich in einem unbeschreiblichen Durcheinander aus der Stadt hinausbegeben.
Jeden Morgen trafen Arbeiter aus Argelès ein und verbrachten den Tag damit, Baracken zu errichten. Alleine. Unter uns gab es Schreiner, Dachdecker, Ingenieure. Sie boten ihre Dienste an. Aber nein, irgendwo hatte irgendjemand entschieden, dass sich die Ausländer nicht mit den Einheimischen vermischen durften und dass die Kollaboration mit den Flüchtlingen bei der Erbauung ihrer eigenen Unterkünfte eine Einflussnahme auf die inneren Angelegenheiten Frankreichs bedeutete. Sogar uns Frauen verlangte es danach, zu helfen. Je eher diese Baracken errichtet wären, desto früher hätten wir ein Dach über unseren Köpfen und einen Schutz gegen die Kälte, den Wind und den Regen. Vor allem gegen den Regen: Wir hatten unsere Koffer und Kartons, um uns ein wenig vor Wind und Kälte zu schützen, doch waren wir schutzlos dem Regen ausgeliefert. Aber nein, es kam nicht infrage! Also blieben wir mit hängenden Armen stehen und schauten zu.
Was den Konstruktionsplan betraf, waren diese Baracken sehr einfach: Zehn oder zwölf Holzpflöcke wurden in den Sandboden gerammt, Holzplanken als Wände darangenagelt, ein Dach aus geteerten Platten daraufgesetzt, und das war alles. Auf dem Boden: nichts als Sand. Es war sehr schlicht . und nicht gerade solide: Gegen Ende Februar stürzte eine der Baracken unter dem Gewicht des Schnees ein, und es gab einen Toten und mehrere Verletzte. Nichts, was unsere Höllenhunde erschreckte. Ein Toter, einige Verletzte, was war das schon?
Ruhr, Tuberkulose und Typhus forderten unzählige Opfer, Kälte und Hunger nicht mitgerechnet. Die Krankenschwestern gingen jeden Morgen zu Beginn ihres Dienstes durch das Lager und sammelten die Leichen ein. Zumindest diejenigen, die sie fanden: Da die Familien nicht wussten, was mit den Toten geschah, versuchten sie sie zu verstecken, um sie selber in den umliegenden Weinbergen zu beerdigen, wenn die Wachen ihnen den Rücken kehrten. Sie kennzeichneten die Stellen, um sie später wieder aufzusuchen, wenn alles vorbei wäre. Ich bin manchmal dorthin gegangen. Es war eine aufreibende Arbeit: in gefrorener Erde zu graben, voller Steine, mit einem Lumpen oder einem alten Löffel! Und die Leiche, die einen anschaute!
Die ersten Baracken waren für die Verletzten bestimmt, zumindest für die Schwerverletzten, denn es gab nicht genug Platz für alle. Dann wurde den Arbeitern die Errichtung des Stacheldrahtzauns aufgetragen, und der Stapel Holzplanken blieb wochenlang auf dem Boden liegen. In der Zwischenzeit strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager. Vor allem nach der Einnahme von Barcelona am 26. Januar. Sobald die Grenze von der französischen Regierung in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar geöffnet worden war bis zur Schließung im Februar stieg die Zahl der Menschen im Lager von einigen Hundert auf ungefähr fünfzigtausend. In den kommenden Monaten sollte sie auf sechzigtausend ansteigen. Und das war nichts im Vergleich zu den anderthalb Millionen Spaniern, die durch den Sturz der Republik und aus Angst vor den Nationalisten auf die Straßen getrieben worden waren, und den fünfhunderttausend, die in Frankreich, hauptsächlich in den Ostpyrenäen, aufgenommen wurden.
Fünfzigtausend, das war eine große Stadt. Das Lager von Argelès war in der Tat eine große Stadt, jedoch eine Stadt ohne Geschäfte, ohne Kirche, ohne Schule, ohne Kino. Nur eine kleine Krankenstation und Hunderte von Holzbaracken, die ein Windstoß hätte umwerfen können.
Wenn unsere Kräfte es erlaubten, wohnten wir am Eingang des Lagers der Ankunft der Neuankömmlinge bei. Die Gendarmen begannen damit, die Familien zu trennen: die Männer in ein Lager, die Frauen und Kinder in ein anderes, manchmal in der Nähe, manchmal weit entfernt, und jedes Mal waren es herzzerreißende Szenen, Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Vor allem die Schreie der Frauen. Sie hatten ihr Heim verloren, ihre Kinder oder Eltern sterben sehen, sie waren am Ende ihrer Kräfte, krank, und nun nahm man ihnen auch noch ihre Söhne, ihre Ehemänner, ihre Brüder. Die Frauen waren verzweifelt und zeigten es auch, doch habe ich auch Männer im Augenblick der Trennung schwanken oder gar plötzlich zusammenbrechen sehen.
Nach der Trennungsprozedur verteilte ein Gendarm Decken, die er aus einem Laster zog, ein anderer notierte Namen und Alter in ein Heft. Jeder neue Flüchtling begab sich in den Bereich, den man ihm zuwies, legte sein weniges Gepäck ab, buddelte ein Loch in den Sand und kam dann zum Zaun zurück, um auf der anderen Seite einen Ehemann oder eine Ehefrau, einen Bruder oder Cousin ausfindig zu machen. Auf diese Weise war der Stacheldrahtzaun von Menschenreihen bevölkert, die von einem Lager zum anderen kommunizierten, mit...
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