Exkurs: ein industrieller Ausflug
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Produktionslogik der Automobilindustrie. Schließlich hat Lean hier seine Wurzeln.
Der Gedanke an Fließbänder in der Krankenversorgung bewegt die Gemüter. Seelenlose Fließbänder erscheinen vor dem geistigen Auge. Doch keine Sorge: Krankenhäuser werden keine Fließbänder bauen. Zumindest nehme ich das heute an. Lean steht eben nicht gleichbedeutend mit Fließbandproduktion. Ein Fließband stellt eine gute Lösung für die Produktion von Autos oder Waschmaschinen dar, doch für medizinische Behandlungsprozesse halte ich es für ungeeignet. Es würde ohnehin ununterbrochen stillstehen.
Für unsere Zwecke konzentrieren wir uns ausschließlich auf die Funktionen, die ein Fließband erfüllt. Wir betrachten also seine Wirkungen.
Das Fließband trägt das werdende Auto vom Beginn der Produktion an in einem gleichbleibenden Takt durch den Gesamtprozess, bis am Ende des Produktionsprozesses ein fertiges, funktionierendes Fahrzeug herauskommt. Das Fahrzeug fließt ruhig und gleichmäßig durch seinen Prozess. Mit jedem Schritt nähert sich das Fahrzeug weiter seiner Fertigstellung. Niemals tritt der Fall ein, dass an einem Fahrzeug nicht gearbeitet wird. Es bleibt im Produktionsfluss. Das Ziel eines solchen fließenden Prozesses besteht darin, in möglichst kurzer Zeit alle notwendigen Arbeiten zu verrichten. Die Zeit zwischen dem Beginn der Produktion bis zum fertigen Auto soll so kurz wie möglich ausfallen. Der Prozess wird erst begonnen, wenn sichergestellt ist, dass es in einem Rutsch und vollständig hergestellt werden kann. Dieses Prinzip bezeichnet man im Lean als Flussprinzip.
Was wir auf dem Bild sehen ist ein aufgeräumtes Werk. Die Arbeiter bewegen sich gleichmäßig und ruhig mit dem Auto voran und erledigen ihre eingeübte Arbeit. Das Fließband gibt dafür den gleichbleibenden Takt vor. Die Reihenfolge der Arbeitsschritte stimmt, die Geschwindigkeit ist exakt geregelt. Menschen befinden sich an der richtigen Stelle mit der notwendigen Qualifikation. Jedwedes Material ist zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Qualität und Menge dort verfügbar, wo es benötigt wird. Es treten weder Störungen auf noch Engpässe. Das Fahrzeug wird vom Fahrgestell bis zum fertigen Produkt in einem Rutsch und in einem gleichmäßigen Tempo ohne Unterbrechungen montiert - wenn alles funktioniert, wohlgemerkt.
Störungen und Fehler werden in Echtzeit erkannt und behoben. Jeder Arbeiter darf das Band anhalten, sobald er einen Fehler entdeckt. Der Fehler wird behoben und es wird dafür gesorgt, dass ein solcher Fehler nicht mehr auftritt (Null-Fehler-Prinzip). Auf diese Weise wird das Fahrzeug nicht nur qualitätssicher produziert. Es wird dabei auch möglichst wenig Liquidität gebunden. Es werden geringe Lagerkapazitäten benötigt und allgemein wird Verschwendung auf ein Minimum reduziert.
Es stehen sämtliche Informationen zur Verfügung. Jeder weiß exakt, was und bis wann er etwas zu erledigen hat. Es treten weder Störungen noch Engpässe auf. Verschwendung ist ausgeschlossen. Jeder vorangegangene Arbeitsschritt ist vollständig ausgeführt.
Mit anderen Worten: Die Produktion erfolgt in einem Rutsch. Ein Arbeitsgang folgt nahtlos dem vorherigen, bis das fertige Fahrzeug fahrbereit vom Band rollt.
Das Fließband steht im Mittelpunkt, sein Fluss soll niemals unterbrochen werden. Darin besteht seine Funktion. Die gesamte Produktion wird auf diese Logik ausgerichtet. Es wird so weit wie möglich auf Zwischenlager verzichtet. Vom einzelnen Bauteil bis zum endgültigen Auto werden sämtliche Teile so produziert und an das Fertigungsband geliefert, dass ein stetiger Fluss von Material und Arbeit sichergestellt ist. Das ist die perfekte Umsetzung des Just-in-time-Prinzips. Das Band gibt den Takt für die gesamte Service- und Logistikkette vor. Alles wird so organisiert, dass das Band perfekt läuft.
Stellen Sie sich dagegen vor, jedes Bauteil, jede Schraube und jedes zehntel-, viertel- oder halbfertige Auto würde mehrfach zwischengelagert, bis der Produktionsprozess fortgeführt werden kann. Man bräuchte unendlich viele Produktions- und Lagerflächen und enorme Transportkapazitäten. Es wäre viel teures Material im Umlauf, das lange auf seinen ungeduldigen Abnehmer warten würde. Diese wäre allerdings erst dann bereit, den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen, wenn das Fahrzeug fahrbereit und fehlerfrei vor ihm steht. Für halbfertige Autos oder den vorproduzierten Motor wird er kaum Geld auf den Ladentisch legen. In einem solchen Produktionsprozess muss das Unternehmen immens viel Geld in die Hand nehmen, um alle Zwischenbauteile oder halbfertigen Produkte vorzufinanzieren und enorme Produktions- und Lagerflächen zu unterhalten. Produktion wäre teuer, es würden enorme Mengen an Liquidität gebunden und letztlich würde alles übermäßig lange dauern.
Dem fließenden Prozess wird in der Produktion des Endproduktes der Vorrang vor der Effizienz, Auslastung und der Wirtschaftlichkeit einzelner Ressourcen eingeräumt. Nicht die perfekte Nutzung bzw. Auslastung einzelner Arbeitsplätze, Maschinen oder Vorprozesse (zum Beispiel die Lieferung von Motoren) sorgen für die maximale Qualität und Wirtschaftlichkeit, sondern die Perfektion und Geschwindigkeit des Gesamtprozesses: kurz, störungs- und verschwendungsfrei und vor allen Dingen in einem Rutsch.
Ganz so wie in der Industrie verhält es sich im Krankenhaus selbstverständlich nicht. Behandlungsprozesse laufen weniger vorhersehbar bzw. weniger strukturiert ab als industrielle Produktionsprozesse. Sie weisen einen höheren Komplexitätsgrad auf.
Trotzdem basieren effiziente Krankenhausprozesse auf der gleichen Grundlogik, auch wenn im Behandlungsverlauf naturgemäß größere Schwankungen eintreten.
Im folgenden Kapitel stellen wir uns einmal die Frage, was (symbolisch) unser Krankenhausfließband wäre. Wohlgemerkt, symbolisch! Es geht um die Funktionen.
Die Station als Fließbandersatz
Ein Krankenhaus funktioniert bekanntlich anders als Automobilproduktion. Aus Prozesssicht ähneln sich beide jedoch in ihrer Zielsetzung. Im Krankenhaus wollen wir für den Patienten einen perfekten, möglichst störungs- und unterbrechungsfreien, effizienten und fehlerfreien Diagnostik- und Therapieprozess auf dem höchstmöglichen qualitativen Niveau und mit dem bestmöglichen Service. Wirtschaftlich soll es dazu auch noch sein.
In der Produktion legt das Fließband exakt dafür die Schienen. Alles ist darauf ausgerichtet, dass der Zug rollt. Es schafft Orientierung dafür, was Produktion und ihre unterstützenden Prozesse leisten müssen. Was wäre also (im übertragenen Sinne) unser Fließband, das der Krankenhausproduktion Orientierung bietet? Das Fließband, auf dem unsere Patienten mit maximalem Service, störungsfrei und ohne langes Warten durch ihren Behandlungsprozess fließen, perfekt (virtuell!) betreut werden und am Ende geheilt entlassen werden?
Gut, unser "Produkt" ist keine Waschmaschine und auch kein Auto. Unser "Produkt" ist der Patient und sein Diagnostik- und Therapieprozess. Und wo befindet sich der Patient während seines Krankenhausaufenthaltes die meiste Zeit? Richtig: auf einer Station. Hier findet einerseits ein erheblicher Teil der Versorgung statt, andererseits "beliefert" eine Station alle anderen direkt unterstützenden Bereiche, zum Beispiel diagnostische Untersuchungseinheiten oder den OP. Hier "parkt" der Patient, wenn gerade keine Leistung erbracht wird. Hierhin kehrt er zurück, sobald eine andere Einheit ihre Arbeitsaufgabe erledigt hat.
Wenn die Arbeit auf der Station nicht funktioniert, dann funktioniert der gesamte Prozess nicht.
Exakt aus diesem Grunde erklären wir die Station von nun an zu unserem virtuellen Fließband. Von hier aus wird der gesamte Diagnostik- und Therapieprozess gesteuert und alle Funktionen im Unternehmen konzentrieren sich darauf, dass dieser Prozess bestmöglich funktioniert. Wir erklären die Station zur Drehscheibe und zu einem zentralen Mittelpunkt unserer Diagnostik- und Therapieprozesse.
Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die heutige Realität werfen. In dieser Realität repräsentiert eine Station eben nicht das Fließband, auf dessen Funktionieren sich das gesamte Unternehmen konzentriert und ausrichtet. Eher das Gegenteil ist der Fall. Stationen fungieren heute als die Mülleimer oder als der letztinstanzliche Reparaturbetrieb einer Krankenhausorganisation. Sie bügeln sämtliche Fehler, Ungenauigkeiten und Individualitäten der Organisation aus. In der heutigen Krankenhausorganisation wedelt nach meinem Dafürhalten der Schwanz mit dem Hund, nicht umgekehrt.
Hier ein paar Beispiele. Das Röntgen beginnt heute um 7.00 Uhr, nicht um 7.30 Uhr. Also lässt die Station alles stehen und liegen, um den ersten Patienten vor der üblichen Zeit zu transportieren. Versagt die Logistik und fehlt deshalb ein wichtiges Arzneimittel, dann sucht und findet die Pflege. Schreibt ein Arzt unleserlich, so läuft die Stationsleitung hinter ihm her. Fehlt eine Servicekraft, so wird die Lücke durch die Pflegenden gefüllt. Bricht das Sekretariat zusammen, wird ein Arztbrief nicht geschrieben. Der Patient wird nicht oder nicht rechtzeitig entlassen.
Nicht nur, aber überwiegend, nimmt die Pflege die Funktion des Aufrechterhaltens wahr, des systemerhaltenden Ausputzers. Und das hat einen sehr konkreten Grund: Die Pflegekräfte sind diejenigen, die die meiste Zeit unmittelbar mit ihren Kunden, ihren Patienten, verbringen. Sie trifft deren unmittelbare Reaktion, im...