Schweitzer Fachinformationen
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In der goldenen Abendsonne trat Nina aus der Küchentür des Farmhauses in den Hof hinaus und blickte zu der altehrwürdigen Crowdie-Eiche auf. Ihre Äste bewegten sich im warmen Sommerwind, und Nina erinnerte sich daran, wie sie schon als Kind fasziniert die flirrenden Blätter beobachtet hatte. Einmal hatte sie zu ihrem Vater gesagt, der Baum spreche mit ihr. Wenn sie aufmerksam genug sei, könne sie verstehen, was er ihr mit jeder noch so winzigen Bewegung in seiner Blättersprache sagen wolle. Seit jenem Tag war es für sie beide zu einer lieben Gewohnheit geworden, gemeinsam die hohe alte Eiche zu betrachten und Geschichten über die seltsamen Gestalten zu erzählen, die sie in ihrem Geäst zu sehen glaubten. Die kuriosen Märchen, die Bern Crowdie sich für seine Tochter einfallen ließ, hatten sie beide immer zum Lachen gebracht. Und so hatten sie oft hier gestanden, zwei Spinner, die sich über einen Baum kringelig lachten, bis Bern sich um die Kühe kümmern oder mit den Hunden auf die Weide gehen musste, um die Schafe zusammenzutreiben. Doch obwohl es auf der Farm alle Hände voll zu tun gab, hatte Bern immer Zeit für sie gehabt, daran erinnerte Nina sich genau. Das war die wichtigste Botschaft, die ihr Vater ihr mitgegeben hatte: dass er sich Zeit nahm, seine Tochter zum Lachen zu bringen, auch wenn die Arbeit noch so sehr drängte.
Als Nina Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um. Ihre Mutter steuerte auf sie zu. Auch mit zweiundsechzig besaß Sophia Crowdie noch die umwerfende Schönheit, die Bern auf den ersten Blick in Bann gezogen hatte (so die Familienlegende) und die beide Töchter geerbt hatten. Sophia war in Edinburgh geboren und aufgewachsen, als Tochter einer irischen Mutter und eines italienischen Vaters, und verfügte über eine natürliche Eleganz. Nina liebte beide Elternteile von Herzen, hatte sich aber bereits in ihrer Jugend gefragt, wieso die beiden sich eingeredet hatten, ihre Ehe könne von Dauer sein. Zwei Lebensentwürfe prallten aufeinander. Sophia sehnte sich nach der Stadt und ihren Annehmlichkeiten, die sich Bern nur äußerst selten genehmigen konnte. Dennoch waren die beiden zwanzig Jahre zusammengeblieben, viel länger, als manche Leute vermutet hätten, und jedenfalls lange genug, um zwei Kinder und eine liebevolle Freundschaft zu erschaffen, die auch noch erhalten blieb, als die Töchter erwachsen waren. Bern Crowdie war nie ein Mann gewesen, der Groll hegte. Er hatte seit jeher verstanden, dass Sophia das lebhafte Treiben einer Großstadt vermisste und lange davon träumte, dem unbeständigen schottischen Wetter zu entkommen und die Sonne zu suchen. Für Sophia wiederum hatte es keinerlei Zweifel gegeben, dass diese Farm an der schottischen Küste der Ort war, an dem Bern sich zu Hause fühlte. Und so hatten sie sich letztlich als Freunde zu sehr geliebt, um sich als Ehepartner unglücklich zu machen. Vom besonnenen Verhalten ihrer Eltern hatte Nina sich hinreißen lassen zu glauben, dass alle Erwachsenen sich in Herzensangelegenheiten derartig verhielten. Erst viel später war sie mit einer vollkommen anderen Realität konfrontiert worden.
»Alles okay?«, fragte Sophia, als sie zu ihrer Tochter trat und ihr den Arm um die Schultern legte.
»Ja«, sagte Nina, obwohl sie einen Kloß im Hals hatte und Tränen in ihren Augen brannten. Sie umarmte ihre Mutter. »Ich habe nur gerade an Dad gedacht.«
Sophia strich ihr über den Arm, dann blickten die zwei Frauen Seite an Seite auf den Innenhof der Farm, die Bern Crowdies Leben gewesen war. »Weißt du noch«, sagte Sophia mit rauer Stimme, »wie wir einmal an Weihnachten morgens aufgewacht sind und er hier im Hof eine ganze Schneefamilie gebaut hatte?«
Nina lachte. »Na klar! Wir alle hatten eine Figur bekommen.«
Sophia schüttelte den Kopf bei dieser Erinnerung. »Er hatte sogar einen Hund gemacht. Wie hieß der noch gleich, den wir damals hatten?«
»Turtle«, antwortete Nina schmunzelnd. »Wir hatten ihn Turtle genannt.«
»Bern war wirklich ein Original«, sagte Sophia mit so liebevoller Stimme, dass Nina unter Tränen lächelte. »Er muss stundenlang draußen gewesen sein. Seine Hände waren blau vor Kälte, weil er nie Handschuhe tragen wollte. Ich habe ihn damals gefragt, weshalb er nicht gewartet hat, bis ihr beide auf seid, dann hättet ihr das zusammen machen können. Bern antwortete, er hätte mit einem angefangen und dann niemanden auslassen wollen, deshalb hätte er weitergemacht. Später mussten wir alle beim Melken helfen, weil er zu spät dran war! Die armen Kühe.«
Nina kicherte bei der Erinnerung, wie ihre Mutter sich an diesem schneereichen Weihnachtsmorgen damit abgeplagt hatte, die Ayrshire-Kühe zusammenzutreiben. Sie hatte nie Begabung für Farmarbeit an den Tag gelegt, genau wie Ninas Schwester Bette. Obwohl Sophia, sinnierte Nina, sich im Gegensatz zu Bette zumindest bemüht hatte.
»Er hat euch Mädchen so sehr geliebt«, murmelte Sophia. »Hat immer gesagt, dass er gar nicht begreifen könne, womit er so viel Glück verdient habe. Danke, dass du in den letzten Jahren für ihn da warst. Ohne dich hätte er die Farm nicht halten können.«
»Weißt du, ich war diejenige, die großes Glück hatte«, sagte Nina leise. »Dass ich nach Hause kommen konnte, hat mich und Barnaby gerettet. Und das ist nicht übertrieben ausgedrückt.«
»Unseren Superhelden Seepocke«, ergänzte Sophia schmunzelnd, und Nina lachte, seufzte aber gleich darauf beim Gedanken an ihren Sohn.
»Genau, Superheld Seepocke«, sagte sie. »Ist er ohne großes Theater ins Bett gegangen? Ich schaue gleich nach ihm.«
Ihre Mutter drückte sie liebevoll und ging in die Küche zurück, gefolgt von Nina. »Ja, er ist oben, mit Spider-Man oder so was. Ich habe ihm gesagt, er darf lesen, bis du zum Gutenachtsagen kommst. Vielleicht gelingt es dir ja, ihn zu überreden, diese Maske abzunehmen. Ich habe es nicht geschafft.«
Nina stöhnte, während beide Frauen begannen, das Geschirr vom Abendessen abzuräumen. »Ich bekomme ihn nicht mehr aus diesem Kostüm raus, Mum. Er hat es seit Dads Tod an, und ich mache mir Sorgen, dass er es womöglich auch zur Beerdigung tragen will. Am Samstagmorgen bin ich sicherlich nicht imstande, darüber zu streiten.«
»Ach, soll er doch anziehen, worauf er Lust hat.« Ihre Mutter ließ heißes Wasser in das betagte Spülbecken laufen und begann mit dem Abwasch. »Dein Vater hätte bestimmt nichts dagegen. Im Gegenteil - wahrscheinlich hätte er den Jungen noch darin bestärkt. Er ist doch erst sechs! Niemand wird sich daran stören. Und falls doch, ist es deren Problem, nicht deines. Solange es Barnaby guttut .«
Nina begann, den ersten Teller abzutrocknen, und legte den Kopf an die Schulter ihrer Mutter. »Ich kann immer noch nicht begreifen, dass Dad nicht mehr da ist. Ein Teil von mir hat wohl geglaubt, er würde für immer bei uns bleiben.«
Sophia drückte ihrer Tochter einen Kuss auf den Kopf und setzte den Abwasch fort. Beide Frauen verfielen für ein paar Minuten in Schweigen. Im Farmhaus war eine Leere entstanden, die es nie zuvor gegeben hatte und die nicht mehr gefüllt werden konnte. Offenbar hatten beide ähnliche Gedanken, denn Sophia sagte unvermittelt: »Wann kommt wohl deine Schwester?«
Nina verzog das Gesicht, während sie sich abwandte, um das trockene Geschirr in den Schrank zu stellen. »Meinst du, sie bemüht sich überhaupt hierher?«
Ihre Mutter schnalzte mit der Zunge. »Selbstverständlich wird Bette dabei sein. Sie kommt wahrscheinlich morgen. Hat sicher bei der Arbeit viel zu tun.«
»Das ist doch ständig so«, wandte Nina ein, obwohl sie selbst merkte, wie trotzig ihre Stimme klang. Das passierte unweigerlich, sobald sie über ihre ältere Schwester sprach. Manchmal kam es Nina vor, als gerate sie beim Gedanken an Bette in einen Zeittunnel, der auf direktem Wege zu den Streitereien von früher führte.
»Ehrlich gesagt, Mum«, sagte Nina mit einem Seufzer, »hätte ich nicht mal was dagegen, wenn sie nicht dabei wäre. Sie will doch sowieso nicht hier sein, oder? Zu Dads Lebzeiten hat sie sich auch nicht um ihn geschert.«
Sophia trocknete sich die Hände ab und wandte sich ihrer Tochter zu, einen besorgten Ausdruck in den Augen. »Sag so was bitte nicht. Deine Schwester hat euren Vater genauso geliebt wie du.«
Nina blies die Wangen auf. »Wie kannst du das behaupten? Bette hat Dad doch nur noch gesehen, wenn sie beruflich in Aberdeen war und ihn dort zum Essen getroffen hat. Aber seit Barnaby und ich hier leben, war sie erst ein einziges Mal hier! Einmal in fünf Jahren! Heißt also, meine Schwester hat ihren Neffen bisher genau zwei Mal erlebt. Das eine Mal hier und das zweite Mal, als wir drei in London waren. Wo sie von uns verlangt hat, dass wir zu ihr fahren. Mit einem Einjährigen!«
»Nina, bitte«, erwiderte Sophia. »Ihr seid eben sehr unterschiedlich und gestaltet euer Leben ganz anders. Du lebst hier, Bette in einer Großstadt.«
»Also, ich finde, es gibt nur eine Art, seiner Familie zu zeigen, dass sie einem wichtig ist«, sagte Nina. »Und zwar, indem man für sie da ist. Was Bette nie war. So ein Verhalten ist doch total selbstsüchtig, oder?«
Einen Moment lang sah es aus, als wollte ihre Mutter etwas erwidern, doch sie blieb stumm. Nina schämte sich sofort. Sie hatte Bette und Sophia nicht in einen Topf werfen wollen, so ähnlich die beiden sich auch waren. Doch bevor Nina etwas hinzufügen konnte, trat ihre Mutter zum Herd. »Sollen wir diese Reste aufheben?«
»Cam kommt sicher gleich vorbei«, antwortete Nina mit einem Blick auf die Wanduhr. »Er freut sich bestimmt darüber, wenn er zu Hause noch nicht gegessen hat.«
»Wer ist Cam?«
»Ich hatte...
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