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Europa um 1900 war ein Kontinent im Umbruch. Europäische Imperien beherrschten die Welt und rangen um Einflusssphären in Übersee ebenso wie in ihren eigenen Staaten. Um die territoriale Abgrenzung von Machtsphären und die Herrschaft über Personen wurden entscheidende Auseinandersetzungen mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln ausgetragen. Noch beschränkten sich - überraschenderweise angesichts der weltweiten Gewaltausbrüche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - die gewaltsamen militärischen Auseinandersetzungen auf Gebiete außerhalb Europas.[1] Doch auch auf dem europäischen Kontinent wurde der Status quo imperialer Machtverteilung zunehmend in Frage gestellt und vielfach heftig bekämpft. Die nationalen Bewegungen Ostmitteleuropas zum Beispiel kämpften um eine politisch und kulturell selbstbestimmte Staatlichkeit. So drängten Tschechen und Slowaken aus dem Verband der habsburgischen Doppelmonarchie heraus. Der Kampf der Polen - das heißt der Menschen mit polnischer Nationalität - um die Wiedergewinnung ihrer ein Jahrhundert zuvor zerstörten Staatlichkeit setzte die Teilungsmächte Russland und Österreich wie auch das Deutsche Kaiserreich unter Führung Preußens politisch unter Druck. Im Westen des Deutschen Reiches stürzte die Annexion Elsass-Lothringens das Verhältnis zu Frankreich in eine latente Dauerkrise und erzeugte hier ebenso wie im annektierten Nordschleswig starke separatistische Bestrebungen. An den westlichen und südlichen Rändern des europäischen Kontinents verloren imperiale Mächte an Einfluss. Spanien, Portugal und die Niederlande waren im Kampf um überseeische Territorien und Einflusssphären längst von den >neuen< Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich und Deutschland zurückgedrängt worden. Auf dem Balkan hatten sich mit Grie32chenland, Bulgarien und Rumänien neue Nationalstaaten aus dem in Auflösung begriffenen Osmanischen Reich gebildet. Serbien mit seiner starken Nationalbewegung kämpfte um seine endgültige Trennung vom Habsburgerreich. Großbritannien war aufgrund der geographischen Sondersituation der Insel und der territorialen Ausrichtung des British Empire auf maritime, überseeische Interessen zwar nicht direkt beeinflusst von den nationalpolitischen Spannungslinien, die den Kontinent durchzogen, stand aber vor einem eigenen nationalen Konfliktherd: dem Sezessionsstreben der Iren.[2] Insgesamt, so wird in der Rückschau aus dem 21. Jahrhundert deutlich, zeichnete sich die Dämmerung der alten europäischen Imperien ab. Der Kampf um territoriale Einflusssphären außerhalb und innerhalb des europäischen Kontinents verschärfte sich in den imperialen Metropolen noch durch nationalistische Bestrebungen, wie das Beispiel des Deutschen Kaiserreichs zeigt.[3] Mehr noch: Die imperialen Ambitionen gerieten in Widerspruch, ja scharfen Gegensatz zu den starken nationalen Bewegungen. Die Kampflosung der nationalstaatlichen Autonomie trug einen revolutionären Sprengsatz in den während des langen 19. Jahrhunderts scheinbar fest gefügten politischen Bau Europas.
Das Jahr 1900 stellt keine Zäsur in der europäischen Geschichte dar, aber es illustriert einen Wandel. Die Spanne zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die Hochzeit des europäischen Imperialismus. Sie leitete zugleich die Hochphase des Nationalismus ein, der zentralen politischen Legitimationsidee des Staates seit der Französischen Revolution. »Empire-building« und »nation-building« trafen hierbei zusammen in der Fixierung auf den Raum als materielle Grundlage und Symbol der Erringung und Festigung politischer Macht. Stießen sich hingegen Imperialismus und Nationalismus als Gegensätze im Raum, behielten die Nation und die nationalen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Oberhand. Das Prinzip der Nation und das eines - zu erkämpfenden beziehungsweise zu befestigenden - Nationalstaats verfügten über eine Massenbasis in der europäischen 33Bevölkerung und mobilisierten eine einzigartige politische Durchschlagskraft. Die Verheißungen von politischer und kultureller Autonomie sowie sozialer Emanzipation und Sicherheit, die sich in der Idee des Nationalstaats bündelten, waren politisch konkreter und räumlich greifbarer als die kulturell inhomogeneren, politisch lockereren und ökonomisch fluideren Strukturen der Imperien.
Neuere Forschungen zeigen, wie sehr der transkontinentale imperiale Ausgriff einer Gesellschaft gerade die Nationalisierung der metropolitanen Gesellschaft und damit die Herausbildung nationaler Eigenheiten und Abgrenzungen befördern konnte.[4] Nationale Identitätsvorstellungen und die Wahrnehmung der Unterschiedlichkeit des Anderen konstituierten und verstärkten sich vielfach aufgrund der Konfrontation mit dem Fremden im Zuge transnationaler Grenzüberschreitungen oder globaler Entgrenzungen. Dieser Zusammenhang zeigte sich in verschiedenen Bereichen. Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ansteigende Mobilität europäischer Gesellschaften über nationale Grenzen hinweg erreichte um die Jahrhundertwende einen Höhepunkt und löste gerade in den prosperierenden europäischen Industriestaaten eine scharfe Gegenbewegung der Kontrolle und Ablehnung aus.[5] Die Intensivierung und Radikalisierung nationaler Bewegungen in den europäischen Staaten der Jahrhundertwende entsprang vielfach der Wahrnehmung einer Bedrohung von außen, symbolisiert und verstärkt durch die Einwanderung als zutiefst fremd empfundener und deshalb als national minderwertig abgewerteter Bevölkerungsgruppen. Die Notwendigkeit, dasselbe Territorium und dessen Ressourcen mit >Fremden< teilen zu müssen, schärfte das Bedürfnis nach personaler Identitätsbestimmung und Abgrenzung innerhalb eines nationalstaatlichen Territoriums. Dadurch wurde ein integraler Nationalismus gestärkt, der am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa den liberalen, emanzipatorischen Nationalismus der ersten Jahrhunderthälfte verdrängte und auf eine massenhafte Basis für 34eine umfassende, quasi-religiöse Verbindlichkeit der Nation als Höchstwert des politischen Lebens setzte.[6]
Damit ging häufig die Konstituierung sowie Schärfung der Unterscheidung zwischen nationalen Mehrheiten, die zu Staats- beziehungsweise Titularnationen wurden, und Minderheiten innerhalb eines Nationalstaats oder Imperiums einher.[7] In dieser Unterscheidung lag vielfach nicht nur eine Differenzierung, sondern eine Wertabstufung, die sich in systematischer Diskriminierung bis hin zur gewaltsamen Bedrohung der Minderheiten niederschlagen konnte. Verschärft wurde die Legitimation nationaler Diskriminierung durch ethnische und »rassische« Qualitätskriterien. Insbesondere die Juden, die in allen europäischen Ländern eine zunächst religiös definierte Minderheit darstellten, gerieten zur Zielscheibe national, ethnisch, schließlich rassistisch begründeter Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung.[8] In Nationalstaaten, die ihre Zugehörigkeit zunehmend nach ethnischen Kriterien bestimmten, waren Juden als »Nomaden« die genuin Fremden, Nicht-Nationszugehörigen, und damit angreifbar.[9] Der Antisemitismus war ein staatenübergreifendes Verbindungsstück der Nationalisierungsprozesse Kontinentaleuropas um die Jahrhundertwende.[10]
35Der europäische Nationalstaat an der Wende zum 20. Jahrhundert wurde zunehmend zu einem Wohlfahrtsstaat. Der Industrialisierungsschub, der Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasst hatte, baute die verbliebenen Reste der ständischen Gesellschaft ab, brachte aber neue Hierarchien und Klassenkonflikte hervor, deren Schärfe eine staatliche Intervention zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens verlangte. Zwar bestanden beträchtliche Unterschiede der Entwicklung, beispielsweise zwischen dem industriellen Vorreiter in England und dem noch stark agrarisch geprägten Russland, doch war der Entwicklungstrend in fast allen europäischen Ländern gleich:[11] Die ländliche Bevölkerung zog auf der Suche nach Arbeit in die von der Industrie geprägten städtischen Zentren. Die massenhafte Pauperisierung großer Gruppen der Bevölkerung, ihre äußerst bedrückenden Lebens- und Arbeitsbedingungen angesichts des wachsenden Wohlstands der besitzenden Klassen führten zur politischen Radikalisierung und zur allmählichen Organisation der Arbeiterinteressen in Parteien und Gewerkschaften. Zwei Entwicklungen liefen somit zusammen: die verstärkte Repräsentation und Partizipation der Arbeiterinteressen in staatlichen Gremien und Institutionen einerseits und die zunehmende Intervention des Staates in die Wirtschaft andererseits. Je mehr der Staat als Interventionsstaat Mitverantwortung für die Organisation der Wirtschaft übernahm, wurde er zum Adressaten von Forderungen. Dazu gehörten zum einen kollektive Forderun36gen nach einer gerechteren Neuorganisation der Wirtschaft. Zum anderen betraf dies individuelle Forderungen nach Gewährleistung sozialer Sicherheit und Schutz gegen Ausbeutung. Gemeinsam war, dass sich beide Typen sozialer Forderungen zunehmend des Rechts als Instrument bedienten. Das Recht sollte Sphären von Anspruchsrechten in sozialen Konflikten gegeneinander abgrenzen und vor allem individuelle Ansprüche begründen.[12] Der soziale Interventionsstaat trieb die Verrechtlichung der Sozialbeziehungen als Mittel der Aufrechterhaltung einer friedlichen Ordnung voran. Die Verwissenschaftlichung des Rechts und die Ausdifferenzierung seiner Handlungsformen, die am Ende des 19. Jahrhunderts in allen europäischen Staaten anzutreffen...
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