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3. Kapitel
Prudence - Laurelton Hall und New York, 1914 bis 1933
Die wenigen Überbleibsel von Prudence' persönlichen Erlebnissen auf Laurelton Hall werden so von den Eindrücken der vielen Fotos überlagert, die sie von der Villa gesehen hat, dass sie nicht mehr weiß, was ihre eigenen Erinnerungen sind.
Ein paar Szenen verdichten sich jedoch. Ihre älteste Erinnerung ist die, wie sie auf einem versteckten Aussichtsplatz hinter einem eingetopften Zitronenbaum sitzt. Ein kleiner Junge, etwa so groß wie sie, kauert neben ihr und umklammert eine Feder. Mädchen in weißen Kleidern, die auf ihren schlanken Schultern Silbertabletts tragen, überqueren die Terrasse. Auf jedem Tablett liegt ein Pfau. Sein regenbogenfarbenes Federkleid hängt über den hinteren Rand, die Federn verheddern sich in den langen, offenen Haaren der Trägerinnen. Der Junge bohrt seine Zunge in ihre Handfläche, als sie ihm ihre Hand auf den Mund presst.
Nach Carltons Tod hat sie wieder für Harriet Masters gearbeitet. In dieser Zeit unternahm sie an einem verschneiten Märznachmittag einen Ausflug in die New York Public Library, die riesige, altehrwürdige Bibliothek mitten in Manhattan. Sie hatte vor, dort Landsitze aus der Zeit von Laurelton Hall zu recherchieren, denn einer ihrer Kunden plante, seine Villa, die ein Jahr später errichtet worden war, für eine horrende Summe neu auszustatten. Mit ihren feuchten Überschuhen saß sie in dem kühlen Zeitschriftenraum und betrachtete Fotos in einer Ausgabe der New York Times vom Mai 1914, die bei ebenjenem Ereignis, an das sie sich schwach erinnerte, aufgenommen worden sein mussten. Überrascht stellte sie fest, dass sie damals erst zwei Jahre alt gewesen war.
Später wurde dieses Ereignis als Pfauenfest bekannt, doch in den gravierten Einladungen, die Mr Tiffany an »150 Genies« verschickte, kündigte er den Abend geheimnisvoll als Gelegenheit an, die Frühlingsblumen auf seinem Landsitz zu genießen. Die ausschließlich aus Männern bestehende Gästeschar - Maler, Verleger, Architekten, Tiffanys engste Freunde, der Edelsteinexperte seines Vaters - war mit einem Privatzug von New York City nach Oyster Bay gebracht worden und kurz vor Sonnenuntergang angekommen. Am Bahnhof wurden die Männer von einer Autoflotte abgeholt und die eine Meile lange Zufahrt hoch zur Villa chauffiert. Speziell für diesen Anlass hatten die vierzig Gärtner purpurfarbenen und roten Phlox, weiße und rosafarbene Lorbeerrosen und blaue und gelbe Tulpen so nebeneinander gepflanzt, dass jede Gruppierung wie buntes Glas wirkte.
Das Diner wurde von einer Prozession aus fünf heiratsfähigen jungen Damen eingeläutet, gefolgt von Kindern in absteigender Größe, die paons en volière - gebratene Pfauen - und cochons de lait farcie - gefüllte Spanferkel - präsentierten. Die Chefköche des Restaurants Delmonico hatten das Mahl mit von Laurelton Hall stammenden Produkten und Tieren zubereitet. Während der berühmte Harry Rowe Shelley Orgel spielte, führte eine ernste Miss Phyllis de Kay, deren Vater zu den Bediensteten gehörte, die drei jüngsten Töchter von Tiffany und eine ihrer Freundinnen zu den Gästen. Alle fünf Mädchen trugen weiße griechisch anmutende Gewänder, die mit Bändern geschlossen wurden, die quer über ihre Brüste und um ihre Hinterteile verliefen. Von der Terrasse aus ging es in den riesigen, mit blühenden Apfelzweigen geschmückten Speisesaal, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den Sund hatte, der nun, da es dunkel geworden war, im Glanz von vielen Lichtern funkelte. Miss de Kay trug eine aus dem Federkleid eines Pfaus hergestellte Kopfbedeckung. Der Kopf des Vogels saß so auf dem ihren, dass sein klaffender Schnabel zwischen ihren Augen ruhte und das Krönchen eine Art kleinen Fächer auf ihrem Scheitel bildete. Sie und die zwei Mädchen hinter ihr trugen extrem schwer wirkende Tabletts mit jeweils einem gebratenen Pfau, dessen Gefieder nach der Zubereitung kunstvoll über sein Fleisch drapiert worden war, die anderen zwei Mädchen hielten riesige Sträuße in der Hand, bestehend aus langen Pfauenfedern.
Als Prudence die Bildunterschrift unter einem der Fotos eingehend las, wurde ihr bewusst, dass es Dorothy war, die den dritten Pfau auf ihrer Schulter trug. Sie hielt das Tablett wie in einem stummen Protest etwas tiefer als die anderen beiden, und im Gegensatz zu ihren Schwestern, den Zwillingen, die eine vor, die andere hinter ihr, wurde ihr Gesicht von den langen Haaren verdeckt. Ihr Blick schien auf den Kopf des Tieres zu fallen, doch Prudence konnte Dorothys Verfassung an der Art erkennen, wie sie die Arme abwinkelte und so starr dastand, als wäre sie eine der Säulen von Laurelton Hall mit ihren bunten gläsernen Kapitellen.
Den Mädchen folgten sechs weitere Kinder, Tiffanys Enkel und Enkel seiner Freunde, ebenfalls in weißen Gewändern und Tüchern, die sich von ihren Köpfen bis zu den Knöcheln ergossen. Sie umklammerten brennende Fackeln und bestreuten die einhundertfünfzig außergewöhnlichen Männer, die an großen achteckigen Tischen saßen, mit Rosenblütenblättern aus Weidenkörben. Die Nachhut bildeten noch kleinere Kinder, die als dicke Köche verkleidet waren - man hatte ihnen Kissen unter die Kostüme gestopft und lange Schürzen umgebunden. Jedes von ihnen trug ein Tablett mit einem Spanferkel.
Auf den Fotos waren die glasigen Augen der Pfauen nicht zu erkennen, doch in Prudence' Erinnerung hatte der kleine Junge, der neben ihr hinter dem Zitronenbaum kauerte, bei ihrem Anblick entsetzt zu weinen angefangen. Selbst mit zwei Jahren war ihr damals wohl klar gewesen, dass sie nicht an diesem Ort sein und heimlich zuschauen sollten, denn sie hatte dem Kleinen den Mund zugehalten.
Dann die nächste deutliche Erinnerung, die Prudence an Laurelton Hall hat. Sie wird von ihrem Vater hochgehoben, damit sie besser sehen kann, wie eine Braut aus einem glänzenden schwarzen Wagen steigt. Sie erinnert sich, dass die Wagentür aufgeht und unter dem Applaus von Bediensteten und Gästen ein weißbeschuhter Fuß erscheint. Erst als Prudence Carlton begegnete, dessen Eltern als enge Freunde des Bräutigamvaters bei dieser Hochzeit von Dorothy Tiffany und Robert Burlingham zugegen gewesen waren, verband Prudence ein Datum mit dem Bild: September 1914, nur wenige Monate nach dem Pfauenfest. Carlton erinnerte sich an dieses Datum, weil er damals gerade erst nach Groton gekommen war. Im Internat hatte er sich für sein heftiges Heimweh geschämt und auch weil ihm die überwiegend aus dem Norden stammenden anderen Jungs so seltsam vorkamen. Genauso seltsam, als wäre er nach England gegangen, was tatsächlich hätte passieren können, wäre nicht der Krieg ausgebrochen.
In ihrem ersten Brief an ihren Sohn hatte Carltons Mutter von der Hochzeit in Oyster Bay berichtet, zu der sie und sein Vater gefahren waren, kurz nachdem sie ihn in Groton abgeliefert hatten. Es sei keine große Sache gewesen, schrieb sie. An der kurzen Zeremonie in der Kirche in Cold Spring Harbor und dem sich anschließenden schlichten Hochzeitsfrühstück bei den Tiffanys zu Hause hätten nur Verwandte und enge Freunde teilgenommen. Prudence war rot geworden, als Carlton ihr erzählte, dass seine Mutter beschrieben hatte, wie die Bediensteten den Eingang zum Speisesaal gerahmt hätten: die Frauen in gestärkten Schürzen und mit Buketts aus rosafarbenen Pfingstrosen in den weißbehandschuhten Händen, die Männer mit Nelken im selben Farbton in den schwarzen Anzugaufschlägen. Sie war errötet bei dem Gedanken, dass Carltons Eltern vielleicht ihre Eltern gesehen hatten, die bestimmt dort aufgereiht gestanden hatten.
Der Duft der Glyzinien, die von der Decke hingen und in Töpfen auf den Tischen im Speisesaal von Laurelton Hall standen, sei so überwältigend gewesen, schrieb Carltons Mutter, dass ihr schlecht geworden sei. Zwischen den Zeilen konnte Carlton lesen, dass sie von dieser ihr unpassend erscheinende Hochzeit zutiefst enttäuscht gewesen war. Schließlich heiratete der Sohn von CCB, einer prominenten Persönlichkeit, eine Tiffany. Zudem wirkte sie nachgerade verärgert, dass ihr eine prunkvolle Veranstaltung verwehrt worden war, bei der die Braut ein Kleid mit einer fünf Meter langen Schleppe getragen und ein Orchester zu einem üppigen Dinner mit Tanz aufgespielt hätte, auf der auch sie selbst eine prachtvolle Robe hätte tragen können. Verärgert, weil sie den langen Weg nach Oyster Bay auf sich genommen hatte, um Dorothy in dem schlichten Brautkleid ihrer Mutter zu sehen, einem Kleid, das zur Hochzeit von dieser gepasst hatte, die mit fünfunddreißig als alte Jungfer gegolten und einen Witwer geheiratet hatte. Verärgert, dass ihr nur ein Frühstück serviert worden war, das sich kaum von dem unterschied, welches am Ostersonntag auf ihren eigenen Tisch kam.
Prudence' letzte Erinnerung an Laurelton Hall beginnt mit einem Geruch: dem Geruch von überreifen Äpfeln in einer Kiste in der Küche, in der sie fiebrig schlummert. Ihre Mutter arbeitet im zweiten Stock, Molly, die Köchin, passt auf sie auf. Mollys Atem riecht nach Hefe, ihre Hände sind mit Mehl bestäubt. Molly flößt Prudence mit einem Löffel kaltes Wasser ein, und Molly setzt sie auch aufs Plumpsklo.
Dann ein Schrei. Ein schriller, lang anhaltender Schrei. Molly - zumindest denkt Prudence, dass sie es war - hält Prudence' Mutter fest und zwingt sie, einen Schluck aus einer Whiskyflasche zu trinken. Damals wusste Prudence natürlich nicht, dass es Whiskey war, doch später ist sie sich dessen ziemlich sicher. Molly legt eine Decke um die Schultern ihrer Mutter, die auf der Rückbank eines Wagens von Mr T....
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