Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin acht. Meine Mutter und ich verlassen unsere Wohnung im ersten Stock. Mrs Drucker steht auf dem Treppenabsatz vor ihrer offenen Wohnungstür und raucht. Meine Mutter schließt die Tür ab. »Was machst du denn hier draußen?«, fragt sie. Mrs Drucker nickt in Richtung ihrer Wohnung. »Er will bumsen. Ich habe ihm gesagt, dass er duschen soll, ehe er mich anrührt.« »Er« ist ihr Mann, das weiß ich. »Er« ist immer der Mann. »Warum? Ist er so dreckig?«, fragt meine Mutter. »Mir kommt er jedenfalls dreckig vor«, sagt Mrs Drucker. »Drucker, du bist eine Nutte«, sagt meine Mutter. Mrs Drucker zuckt die Achseln. »Ich kann nun mal nicht mit der Subway fahren«, sagt sie. In der Bronx war »mit der Subway fahren« ein Euphemismus für arbeiten gehen.
Zwischen dem sechsten und einundzwanzigsten Lebensjahr lebte ich in diesem Mietshaus. Es hatte zwanzig Wohnungen, vier auf jeder Etage, und alles, woran ich mich erinnere, ist ein Haus voller Frauen. An die Männer habe ich kaum eine Erinnerung. Sie waren überall, klar - Ehemänner, Väter, Brüder -, trotzdem sehe ich nur die Frauen vor mir. Und in meiner Erinnerung waren sie entweder grob wie Mrs Drucker oder hitzig wie meine Mutter. Sie äußerten sich nie so, als wüssten sie, wer sie waren, welches Los sie im Leben gezogen hatten, handelten aber trotzdem häufig so, als wüssten sie es. Durchtrieben, unberechenbar und ungebildet agierten sie wie auf einer Dreiser-Skala*. Es gab Jahre trügerischer Ruhe und dann aus heiterem Himmel einen Ausbruch von Panik und Zügellosigkeit: Zwei oder drei Leben wurden aus der Bahn geworfen (vielleicht ruiniert), und die Unruhe flaute ab. Dann wieder mürrische Stille, erotische Trägheit, gewöhnliche, alltägliche Verweigerung. Und ich - ein Mädchen, das in ihrer Mitte aufwuchs und nach ihren Vorstellungen geformt wurde -, ich atmete sie ein wie Chloroform auf einem Tuch, das man mir auf das Gesicht drückte. Ich brauchte dreißig Jahre, um zu begreifen, wie gut ich sie alle verstand.
Ich bin mit meiner Mutter unterwegs. Ich frage, ob sie sich an die Frauen in unserem Haus in der Bronx erinnert. »Natürlich«, antwortet sie. Ich erzähle ihr, dass ich immer der Meinung war, sexuelle Wut habe sie so verrückt gemacht. »Unbedingt«, sagt sie, ohne aus dem Tritt zu geraten. »Erinnerst du dich an Drucker? Sie sagte immer, wenn sie beim Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann nicht rauchen könnte, würde sie aus dem Fenster springen. Und an die Zimmerman neben uns? Sie war mit ihm verheiratet worden, als sie sechzehn war, hasste ihn und sagte, es wäre eine Mizwa, wenn er auf der Baustelle umkäme - er war Bauarbeiter.« Meine Mutter bleibt stehen und senkt, erstaunt von ihren eigenen Erinnerungen, die Stimme. »Gewöhnlich nahm er sie mit Gewalt«, sagt sie. »Hob sie mitten im Wohnzimmer hoch und trug sie ins Bett.« Einen Augenblick starrt sie vor sich hin. Sagt an mich gewandt: »Diese europäischen Männer. Sie waren Tiere. Richtige Tiere.« Dann geht sie weiter. »Einmal sperrte Zimmerman ihn aus. Er klingelte bei uns. Er konnte mir kaum in die Augen sehen, fragte, ob er unsere Feuerleiter benutzen dürfe. Ich sagte kein Wort. Er ging durch die Wohnung und kletterte aus dem Fenster.« Meine Mutter lacht. »Diese Feuerleiter war ganz schön beliebt! Erinnerst du dich an Cessa von oben? Ach nein, das kannst du nicht, sie wohnte nur noch ein Jahr hier, nachdem wir eingezogen waren, dann übernahmen die Russen die Wohnung. Cessa und ich waren eng befreundet. Seltsam, wenn ich heute daran denke. Wir kannten uns kaum, niemand kannte die anderen wirklich, manchmal redeten wir nicht einmal miteinander. Aber wir hockten alle aufeinander, gingen ständig in den Wohnungen der anderen ein und aus. In kürzester Zeit wussten alle alles. Nach ein paar Monaten im Haus waren die Frauen, na ja, sehr eng miteinander.
Diese Cessa. Ein hübsches junges Ding, erst seit ein paar Jahren verheiratet. Sie liebte ihren Mann nicht. Aber sie hasste ihn auch nicht. Eigentlich war er ganz nett. Was soll ich dir sagen, sie liebte ihn nicht und ging jeden Tag aus, wahrscheinlich wartete irgendwo ein Liebhaber. Jedenfalls hatte sie langes schwarzes Haar, bis runter zum Hintern. Eines Tages schnitt sie es ab. Sie wollte modern sein. Ihr Mann sagte nichts, aber als ihr Vater zu Besuch kam, warf er nur einen Blick auf ihr kurz geschnittenes Haar und verpasste ihr eine solche Ohrfeige, dass ihr die tote Großmutter aus einer anderen Welt erschien. Dann riet er ihrem Mann, sie einen Monat lang in der Wohnung einzusperren. Sie stieg über die Feuerleiter zu uns herunter und ging durch unsere Wohnung nach draußen. Jeden Nachmittag, einen ganzen Monat lang. Eines Tages kommt sie zurück, und wir trinken einen Kaffee in der Küche. >Cessa<, sag ich, >erklär deinem Vater, dass das hier Amerika ist. Amerika, Cessa! Du bist eine freie Frau.< Sie sieht mich an und sagt: >Was meinst du damit, das hier ist Amerika? Mein Vater kam in Brooklyn zur Welt.<«
Die Beziehung zu meiner Mutter ist nicht besonders, und während unser Leben voranschreitet, scheint sie sich häufig noch zu verschlimmern. Wir sind gefangen in einem engen Schacht von Vertrautheit, Anspannung und Verpflichtung. Manchmal kommt es zu einer jahrelangen Phase von Erschöpfung, einer Art Mäßigung zwischen uns. Und dann kehrt der Zorn zurück, heiß und klar, erotisch in seiner Dominanz, und verlangt nach Aufmerksamkeit. Im Moment läuft es schlecht zwischen uns. Meine Mutter »geht damit um«, indem sie öffentlich und lautstark die Wahrheit ausspricht. Sobald sie mich sieht, geht es los: »Du hasst mich. Ich weiß, dass du mich hasst.« Wenn ich sie besuche, erzählt sie es allen, die zufällig anwesend sind - einem Nachbarn, einer Freundin, meinem Bruder, einer meiner Nichten. »Sie hasst mich. Keine Ahnung, was sie gegen mich hat, aber sie kann mich nicht ausstehen.« Genauso kommt es vor, dass sie bei einem unserer Gänge mitten auf der Straße einen Fremden anhält und sagt: »Das ist meine Tochter. Sie hasst mich.« Anschließend dreht sie sich zu mir um und fragt: »Was habe ich dir bloß getan, dass du mich so hasst?« Darauf antworte ich nicht. Ich weiß, dass sie vor Wut kocht, und lasse sie schmoren. Warum auch nicht? Ich koche ja selbst.
Trotzdem gehen wir endlos zusammen durch die Straßen von New York. Wir wohnen jetzt beide in Lower Manhattan, nur eine Meile voneinander entfernt, und unterhalten uns am besten beim Gehen. Meine Mutter ist eine urbane Hinterwäldlerin, und ich bin die Tochter meiner Mutter. Die Stadt ist unser natürliches Element. Jeden Tag erleben wir Abenteuer mit Busfahrern, obdachlosen Frauen, Kontrolleuren und Verrückten auf der Straße. Das Gehen holt das Beste aus uns heraus. Ich bin jetzt fünfundvierzig, meine Mutter siebenundsiebzig. Sie ist rüstig und gesund. Es macht ihr nichts aus, mit mir quer durch Manhattan zu laufen. Wir lieben uns nicht auf diesen Märschen, oft schreien wir uns sogar an, aber wir gehen trotzdem gemeinsam.
Am besten ist es, wenn wir über die Vergangenheit reden. »Ma, erinnerst du dich an Mrs Kornfeld? Erzähl mir die Geschichte«, sage ich, und sie erzählt sie mir mit Vergnügen noch einmal. (Sie hasst nur die Gegenwart; sobald die Gegenwart zur Vergangenheit wird, liebt sie sie.) Diese Geschichte ist immer gleich und doch anders, weil ich jedes Mal älter bin und mir eine Frage einfällt, die ich beim letzten Mal noch nicht gestellt habe.
Als meine Mutter mir zum ersten Mal erzählte, wie ihr Onkel Sol versucht hatte, mit ihr zu schlafen, war ich zweiundzwanzig und hörte stumm zu: gebannt und entsetzt zugleich. Den Hintergrund kannte ich in- und auswendig. Sie war das jüngste von achtzehn Geschwistern, von denen nur acht die Kindheit überlebten. (Das muss man sich mal vorstellen: Meine Großmutter war rund zwanzig Jahre ihres Lebens schwanger!) Als die Familie von Russland nach New York auswanderte, hatte sie Sol mitgenommen. Sol war der jüngste Bruder meiner Großmutter und genauso alt wie ihr Erstgeborener (ihre Mutter war ebenfalls zwanzig Jahre lang schwanger gewesen). Die beiden ältesten Brüder meiner Mutter waren ein paar Jahre zuvor vorausgegangen, hatten Jobs in der Bekleidungsindustrie gefunden und für alle elf eine Wohnung ohne Warmwasser in der Lower East Side gemietet: Badezimmer im Gang, Kohleofen in der Küche, dazu eine Reihe von hintereinanderliegenden dunklen Kabuffs. Meine Mutter war damals zehn und musste in der Küche auf zwei Stühlen schlafen, weil meine Großmutter noch einen Untermieter aufgenommen hatte.
Sol war während des Ersten Weltkriegs eingezogen und nach Europa geschickt worden. Als er nach New York zurückkehrte, war meine Mutter sechzehn und lebte als einziges Kind noch im Haushalt. Da kommt er also, ein glamouröser Fremder, und die kleine Nichte, die er zurückgelassen hat, ist jetzt eine junge Frau mit dunklen Augen, glänzendem braunen Haar, Bubikopf und einem hinreißenden Lächeln, die so tut, als wüsste sie nicht, wie man all das einsetzt (das war typisch für meine Mutter: haarsträubende Koketterie ohne einen Funken Schamgefühl). Er zieht in eins der Kabuffs, zwei Wände von ihr entfernt, während die Eltern lautstark am anderen Ende der Wohnung schnarchen.
»Eines Nachts schreckte ich aus dem Schlaf«, erzählte meine Mutter, »ich weiß nicht, warum, und sehe, wie Sol sich über mich beugt. >Was ist los?<, wollte ich schon fragen. Ich dachte, es wäre etwas mit meinen Eltern, aber dann sah er so komisch aus, dass ich dachte, er würde vielleicht schlafwandeln. Er sagte kein Wort. Er hob mich hoch und trug mich zu seinem Bett. Dort lagen wir also, er hielt mich in den Armen und streichelte meinen Körper. Dann hob er mein Nachthemd an und streichelte...
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